Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 19

Kapitel 13

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Es geschah am Abend eines dieser kurzen Novembertage, die vom Morgengrauen sogleich in den Abend überzugehen schienen, die Gefangenen warteten in den Zellen nach der Zählung bereits auf den Einschluss, als den Gang hinauf nacheinander die Schlösser der Türen krachten. Sebastian und alle in der Zelle erstarrten im Moment, um dann sogleich an den Türspalt zu stürzen. Aber schon krachte metallisch auch das Schloss ihrer Türe. Alle sprangen zurück, die Tür flog auf, einer wollte vorschriftsmäßig Meldung machen, doch der Schließer winkte ab.

„Sämtliche Strohsäcke in den Lichtschacht werfen!“, hieß es schließlich. „Dalli, dalli …!“, trieben die Wachtmeister auf allen Stationen die Gefangenen an.

Offensichtlich hatte man alles zusammengesucht was Polizeiuniform trug und zu dieser Aktion in den Zellenbau beordert. Auf den Fluren befanden sich immer mehrere Uniformierte konnten Sebastian, Totila und die anderen feststellen, als sie ihre Strohsäcke über das Geländer in den Lichtschacht warfen, aus dem zuvor die Fangnetze entfernt worden waren. Neben den ihnen bekannten Schließern gabs da aber auf den Gängen auch Uniformträger, die davor von den Gefangenen noch nie einer zu Gesicht bekommen hatte. Sie liefen eilig hin und her, blickten da und dort in die Zellen, in denen Gefangene gerade dabei waren ihre Strohsäcke aus den Bettgestellen zu hieven. Das dauerte in der Enge dort etwas länger, weil sich bei noch größerer Eile die Insassen nur gegenseitig behinderten.

„Dalli dalli, machen Sie schon …!“

Beim Rausschleppen ihrer Strohsäcke über den Gang zum Lichtschacht wechselten die Gefangenen mit denen aus den Nachbarzellen nur ratlose Blicke und schüttelten die Köpfe. Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, was dieser Aufruhr sollte.

Schließlich schloss man die Gefangenen wieder in ihre Zellen und ließ sie dort, ratlos wie sie waren, auf das warten, was da kommen sollte. Es war ja längst schon Einschlusszeit und die Gefangenen saßen bei diesem funzligen Licht einer 40 W-Birne, hinter einer Drahtglasscheibe über der Tür, verunsichert auf Hockern vor ihren leeren Betten.

„Vielleicht sollen wir richtige Matrazen kriegen“, sagte dann einer in der Zelle.

„Ja Daunendecken und Damastbettwäsche“, gab ein anderer zum besten.

Irgendwann, nach einer halben Stunde oder vielleicht auch einer Stunde, keiner wusste es genau, wurden alle Türen wieder aufgeschlossen und die Gefangenen traten verwundert und verunsichert raus auf den Gang vor den Lichtschacht, aus dem im gelblichen Licht der Lampen noch immer Schwaden von Staub aus den Strohsäcken im Kellergang bis hinauf in den vierten Stock stiegen.

Dann erscholl eine Lautsprecherstimme von irdendwoher: Alle Strafgefangenen sollten genau zuhören und den Anweisungen Folge leisten. Es würden jetzt Strafgefangene namentlich aufgerufen und dazu jeweils eine Zellennummer.

Jeder Aufgerufene habe im Keller einen Strohsack abzuholen und sich damit vor der ihm genannten Zelle aufzustellen.

Verunsichert durch diese ganze Aktion, die sich absehbar bis tief in die Nacht hinziehen würde, waren nicht nur die Gefangenen, sondern in mindestens gleichem Maße auch die massenhaft nervös umherlaufenden Uniformträger. Man stelle sich vor: Alle sonst streng verriegelten Zellentüren standen offen und vorwiegend politische Langstrafer auf den Gängen, nur von verschlossenen Stationsgittertüren zu den Treppen gesichert. Wie würden die auf das geplante Vorhaben reagieren, wenn auch die Stationen geöffnet werden mussten?

Sie reagierten nicht, obwohl jedem nach dem Aufruf sich einzeln einen Strohsack aus dem Keller zu holen klar wurde, was dort geschah. Es handelte sich schlicht um einen Überraschungscoup, mit dem unter den Gefangenen niemand hatte rechnen können. Zum einen gingen den Häftlingen mit ihren Strohsäcken alle darin versteckten und gehüteten Kleinigkeiten die ihnen wichtig aber verboten waren wie etwa Bleistiftstummel oder Nähnadeln … verloren, also Unersetzlichkeiten. Zum anderen hatte man durch diese überfallartige Maßnahme alle stets gefürchteten und vermuteten Verbindungen Gefangener untereinander weitestgehend auseinandergerissen. Ausgenommen vom ganzen Spektakel blieben lediglich die Lebenslänglichen. Alle anderen wurden über den ganzen Bau verteilt. Das hieß nun auch, dass einer mit fünfzehn Jahren in der ersten Etage landen konnte und einer mit fünf Jahren in der vierten. Die alte Ordnung, Langstrafer von etwa acht bis fünfzehn Jahren ganz oben im Zellenbau unterzubringen, war damit aufgehoben worden.

Sebastian und auch Totila dämmerte es, als Namen ihnen bekannter Gefangener mit hohen Strafen aufgerufen und mit niedrigen Zellennummern belegt wurden, dass ihre Zellengemeinsamkeit damit wohl auch zu Ende gehen musste. So ging es für sie nur noch darum, ob sie dort oben in der vierten Etage bleiben würden, worauf alle beide Wert legten.

Schließlich fiel auch Sebastians Namen und er bangte sekundenlang, bis er mit Erleichterung eine Zellennummer der vierten Etage vernahm.

Totila grinste etwas wehmütig und auch Sebastian räusperte sich, als sie sich verabschiedeten. Beide hatten sich auf engstem Raum gut vertragen und unter nicht sehr menschlichen Verhältnissen Sympathie füreinander bewahrt.

Die in die Decke gewickelten Habseligkeiten wie Seife, Zahnbürste, Pantoffeln, Becher, Löffel und Schüssel … trug jeder auf Anweisung mit sich.

Sebastian wurde mit einer ganzen Reihe anderer in ihren Holzschuhen von einem Posten die Granitsteintreppe hinab in den Keller geleitet. Dort stieß er kurz auf Wilhelm Hankel, der mit seinem Bündel unter’m Arm und einem Strohsack auf der Schulter gerade den Rückweg antrat.

„Wohin gehts?“, fragte Sebastian ihn.

„Mist! Ganz unten in den zweiten Stock“, erklärte der mit Unwillen in der Stimme.

„Ich bleib’ weiter im Vierten“, sagte Sebastian. „Also machs gut“, fügte er noch eilig hinzu und stand dann auch gleich vor einem riesigen Berg von Strohsäcken.

Zwischen vier- und fünfhundert, schätzte er. Schließlich schnappte er sich einen x-beliebigen Sack und machte sich mit anderen zusammen auf den Rückweg in den vierten Stock. Einige verließen die Treppe jedoch bereits in den unteren Stockwerken. Wieder andere kamen ihnen von oben entgegen. Auf der Treppe geht es zu wie auf einer Ameisenstraße, sagte Sebastian sich und stand schließlich mit Deckenbündel und Strohsack neben einem ihm unbekannten Häftling vor der ihm zugewiesenen Zellentüre. Das Krachen von Schlössern und Riegeln, hallte ununterbrochen durch den ganzen Bau. Dutzende von Schließern waren auf allen Stationen eilig unterwegs, bemüht möglichst alle Gefangenen unter Kontrolle zu halten.

Was haben die sich bloß dabei gedacht? fragte Sebastian sich. Ging es wirklich nur darum, die Gefangenen im ganzen Bau zu verunsichern? Und dazu dann so ein Aufwand?

Schließlich kam ein Uniformierter aus Richtung Treppe den Gang herauf, schloss einige mit ihren Strohsäcken vor Zellentüren wartende Häftlinge ein, bis er auch Sebastian und dem dort mit ihm wartenden Gefangenen die Türe aufschloss.

Als Sebastian die Zelle betrat, blickten ihm zwei aufgelöst wirkende Vogelscheuchen entgegen, die er, wie er sich erinnerte, schon bei der Freistunde gesehen hatte. Die waren immer vierter Stock, sagte er sich. Einer so um die dreißig schätzte er und der andere vielleicht Ende sechzig. Die Zelle wie alle andern sonst, und ebenso wie die seine bis heute abend, ehe alles durcheinandergewirbelt worden war, also auf der Rückseite des Hauses gelegen, mit Blick auf die massiven Lauben in den Obstgärten. Zumindest dieser Ausblick erwies sich als Konstante im ganzen Durcheinander.

„Wir kennen uns vom Sehen“, sagte Sebastian bei der Begrüßung zu den beiden Insassen. „Und von wo kommst du her?“, wandte er sich an den Jüngeren, etwa Mitte Zwanzig, der mit ihm vor der Türe gewartet hatte.

„Von Station drei“, erklärte der und wies dazu mit dem Finger nach unten auf den Fußboden.

„Da haste ’nen guten Tausch gemacht mit hier ganz oben. Was haste denn für eine Strafe? Ich meine wie viel?“

„Fünf Jahre Artikel 6“, antwortete der.

„So unter sieben acht Jahren gab’s bis heute Abend hier oben niemanden“, erklärte Sebastian. „ Nun haben sie’s durcheinandergewirbelt“, und er hob unschlüssig die Schultern. „Wozu das gut sein soll? Wer weiß schon, was die sich, wenn überhaupt, dabei gedacht haben.“

Die endliche Regelung des ganzen Wirbels zog sich etwa bis nach Mitternacht hin, mit Gepolter auf den Holzdielen der Gänge vor den Zellen und Getrappel auf den Granitstufen der Treppen, sowie Türenschlagen, Schlösserkrachen und Riegelschmettern. In den belegten Zellen war das Licht zwar längst gelöscht und Sebastian lag wie die andern unter seiner Decke, wurde aber immer wieder aus dem Schlaf gerissen, wenn auf dem Gang vor der Tür ein Trupp Häftlinge in schweren Holzschuhen vorbeipolterte.

Wecken sechs Uhr. Der schrille Schrei der Stahlschiene gegen die mit einer Eisenstange geschlagen wurde, riß jeden aus Traum und Schlaf in die Realität des Zellenbaus: „Wer will schnell noch mal pinkeln?“ Der Kübel musste nach der Zählung raus, um ihn nach der Freistunde entleert wieder in die Zelle zu nehmen. Alles lief nach zeitlichen Regeln ab.

Der Alte und der Junge, die zuerst die Zelle bezogen hatten, entpuppten sich als Vater und Sohn.

„Und man lässt euch hier immer noch zusammen?“, fragte Sebastian ein wenig verwundert. „Ich war ja mit einem Freund die ganzen Monate bis jetzt auch zusammen auf einer Zelle. Es war schon so weit, dass wir irgend eine Absicht dahinter vermuteten. Wir waren ja ein Fall …“ Und Sebastian schilderte in wenigen Sätzen ihre Geschichte bis zur Verhaftung. „Wir waren schon vorsichtig“, sagte er, „und sprachen über unsere gemeinsame Angelegenheit fast gar nicht.“

„Ja mit die Spitzel is hier schon so’ne Sache“, reagierte der Sohn, der sich als Arno vorgestellt hatte. „man muss Verdammichnoch mal aufpassen! Sonst haben se dir am Arsch und hängen dir noch was an.“

Sebastian erfuhr dann auch bald, dass ers bei Vater und Sohn mit „Buntspechten“, aus Ost-Berlin zu tun hatte. Der Sohn zu dreizehn und der Vater zu zwölf Jahren verurteilt.

„Mann! Da haben die euch aber ganz schön was übergebraten.“

„Kann man wohl sagen“, bekräftigte der Vater.

„Das is Kutte“, sagte Arno mit einer Handbewegung in Richtung des Vaters, der am Tisch saß, „also Kurt“, berichtigte er dann noch, „mein Vadder …“ „Aber von euch Buntspechten gibt’s hier ’ne ganze Menge. Alle mit ziemlich hohen Strafen.“

„Na ja, bei Buntmetall, da haben die sich ganz affig“, bestätigte Vater Kurt Sawatzky Sebastians Feststellung.

Ein „Buntspecht“, war jemand, der Buntmetall aus Ost-Berliner Trümmern klaubte und an West-Berliner Altmetallhändler für Westgeld verkaufte. Ein mit der Zeit immer gefährlicher gewordenes Geschäft.

„Buntmetall? Lohnt sich denn das?“, wollte Siegfried, der mit Sebastian zusammen eingezogen war, wissen.

„Na und ob!“, wurde ihm von Kurt Sawatzky geantwortet.

„Aber wo kriegt man das her?“

„Na aus die Ruinen überall“, erklärte Arno Sawatzky.

„Dazu muss man dann Berliner sein“, sagte Siegfried.

„Musste nich“, erklärte Arno, „aber wie willste denn sonst mit den schweren Gelumpe von außerhalb über die Grenze nach West-Berlin kommen? Mit die Bahn nach Berlin aus de Zone? Wirste doch im Zug unterwegs überall gefilzt.

Nee, nee“, sagte Arno Sawatzky, „wir hatten in die Stadt so uns’re Schleichwege, auch zu die Schrotthändler. Die werden nämlich auch von die Stasi beobachtet: Also wer da aus’n Osten mit Buntmetall antanzt. Aber von uns wusste das jeder, auch die Schrotthändler.“

Sebastian stand vor Arno Sawatzky, der auf einem Hocker, mit dem Rücken gegen die kalten Heizungsrippen gelehnt, saß. „Wenn das so war“, fragte er grinsend, „Warum sitzt ihr dann als hoch verurteilte Buntspechte hier?“

Vater Sawatzky lachte. „Wir sind anjeschissen worden“, sagte er und wurde wieder ernst. „Die wollten in unser Revier fischen …“

„Wir wissen aber, wer der Schweinehund war“, unterbrach Arno Sawatzky den Vater. „Die hatten ’nen Strohmann eingesetzt, der uns verpfiffen hat.“

„Und dann haben die uns mit fufzehn Kilo Kupfer jeschnappt“, ergänzte der alte Sawatzky.

„Wir sind ja auch angeschissen worden“, sagte Sebastian. „Und ich noch dazu vom besten Freund, der jetzt wohl Parteikarriere macht und für die Stasi arbeitet … Ich schäme mich manchmal dafür.“

Der junge Sawatsky stand von seinem Hocker auf und winkte ab. „Wir sind zu doof für’s Leben, das is’ es.“

Da ist was dran, sagte Sebastian sich. Wahrscheinlich wollten wir die Realität nicht sehen … „Ihr wart sicher genau so naiv wie wir“, sagte er dann. „Aber was wär’ das schon für’n Leben“, fuhr er fort, „wollte man überall immer nur Verrat und Feinde vermuten. Das hält auf Dauer doch keine Sau aus!“

Sebastian stellte sich vor’s Gitterfenster und sah hinaus in einen nebelgrauen Spätherbsttag. So wie vor bald einem Jahr, als sie ihn abgeholt hatten an einem ebenso stillen grauen Tag, weg damals vom Zeichenbrett, weg von dieser großen Bleistiftzeichnung, diesem Kiefernwaldstück, in das er sich vertieft hatte.

Schließlich wandte er sich ab, blickte in die vollgestellte Zelle und sah die Männer dort vor sich hindösen auf Hockern in der Enge zwischen zweistöckigen hölzernen Bettgestellen. Immer wieder derselbe Anblick: Einer saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben. Ein anderer starrte gegen ein Stück Wand gelehnt an die Zellendecke. Siegfried, der am Aufstand des 17. Juni beteiligt gewesen war, saß mit dem Rücken zum Fenster und hielt sich ein handtellergroßes Stück Zeitung, das der Zelle als Toilettenpapier zugeteilt worden war, dicht vor die Augen. Ein weiterer Stapel solcher Blätter lag auf dem Schemel neben der Waschschüssel. Aufgeweckte Geister, zu denen dieser Siegfried sich möglicherweise zählte, hatten in den Zeitungspapierfetzen zu lesen gelernt. Kannte man ja die Ideologie und die Verschlüsselung von Aussagen hinter den Druckzeilen und konnte sich so nicht selten ein halbwegs reales Bild über so manche Vorgänge in der Welt machen. Es war dies, richtig gekonnt, schon eine diffizile Kunst. Man musste sich dazu über längere Zeit viele Aussagen, die man diesen Zetteln zu bestimmten Ereignissen entnommen hatte nur merken, um dann durch Vergleiche immer wieder auf ein Muster von Verdrehungen zu stoßen, sodass es dann nicht mehr sehr schwer war Wahrheiten heraus zu filtern, über manches das da draußen vor sich ging.

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