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Kapitel 2

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Als die schrillen Schläge einer Glocke die beiden auf ihren Strohsäcken in die Höhe fahren ließen. sahen sie sich verstört um.

„Scheiße“, entfuhr es Sebastian.

„Bitte etwas vornehmer“, murmelte Totila noch nicht ganz wach. „Elend kalt heute Nacht“, sagte er und rieb sich die Hände. „Eiskalt und klamm die Pfoten …“

„Und nicht nur die“, ergänzte Sebastian.

„Also Decken hätten die uns schon geben müssen …“

„Was heißt müssen? Deine bürgerlichen Rechte sind dir als Kriegsverbrecher vom Gericht gestern gerade eben aberkannt worden.“

„Es gibt schließlich Menschenrechte.“

Sebastian lachte. „Ja schon“, sagte er, „aber wo fangen die hier an und wo hören sie auf?“

„Hörst du?“, unterbrach Totila Sebastians skeptische Ausführungen und hob dazu, den Kopf lauschend gegen die Tür gerichtet, die Hand: „Wir müssen machen“, sagte er dann, „die sind gleich hier. Angezogen sind wir zum Glück schon …“ Beide fuhren in die Schuhe ohne Schnürsenkel und standen in dem Moment im vorgeschriebenen Abstand vor der Tür, als diese krachend aufflog und ein ihnen vom Sehen noch nicht bekannter Schließer darin stand.

Die beiden Freunde tauschten einen kurzen Blick und Totila meldete: „Zelle 25 belegt mit zwei Strafgefangenen, meldet Strafgefangener Kunzmann.“

Der Schließer sah die beiden kurz an, hakte deren Anwesenheit in der Kladde ab und der Kalfaktor warf die Türe zu. Schloss und Riegel krachten fast gleichzeitig und beide atmeten erleichtert auf .

„Das nächste Mal meldest du“, wandte Totila sich an den Freund.

Der nickte. „Aber das war jetzt wohl ’ne Zählung. Mich interessiert, ob die uns irgendwas zu essen geben …“ Und wieder hörten sie nach einiger Zeit auf dem Gang draußen Schritte die sich näherten. Beide standen horchend in der Zelle, als wieder Schloss und Riegel krachten.

Was woll’n die denn jetzt noch von uns, dachte Sebastian und begann angesichts eines Wachtmeisters auch gleich mit der Meldung: „Zelle 25 belegt mit zwei Strafgefangenen …“ Der Wachmeister winkte ab. „Hab’n Se alle Sachen bei sich?“

„Welche Sachen?“

„Na was Se am Leibe tragen“, gab der Wachmeister in nicht gerade freundlicher Stimmung den beiden zu verstehen.

„Ja klar, haben wir alles.“

Auch Totila blickte kurz an sich hinab und nickte. „Alles da.“

„Dann kommen Se“, und der Wachmeister winkte dazu mit dem Schlüssel.

Die beiden Neuzugänge traten durch die Tür auf den Gang.

„Bleiben Se stehen.“, vernahmen sie hinter sich die Stimme des Wachmeisters, der noch die leere Zelle abschloss. Und dann wieder: „Gehen Se!“

„Hierher kommen wir nicht mehr zurück“, murmelte Totila, als beide nebeneinander den langen Gang entlang und an den Zellentüren vorbei liefen.

Dann ging’s durch Gittertüren hinaus auf den Hof.

„Nach links“, hörten sie die Stimme hinter sich und folgten der Richtung über den weiten Hof, in dessen Mitte in einem Rechteck Rasen wuchs. Dahinter und rechts daneben flache weißgetünchte Werkstattgebäude mit hohen Fabrikfenstern und ein Stück weißer Zuchthausmauer mit Glasscherben oben auf der Schräge. Darüber erhob sich noch ein mit einem Posten besetzter Wachturm.

„Weiter nach links“, hörten sie wieder die Stimme des Wachtmeisters. Sie steuerten auf ein zweistöckiges auch wieder weißgetünchtes Gebäude zu.

„Dort durch die Tür“, vernahmen sie die leicht mürrische Stimme hinter sich, „da geben Se dann Ihre Sachen ab und werden eingekleidet.“

Eingekleidet. Was für ein Wort, ging es Sebastian durch den Kopf. Auch Tote werden eingekleidet. Es ist zwar kein Totenhemd das man uns hier verpassen wird, sondern bloß eine Zuchthauskluft, in die wir für viele Jahre gesteckt werden. Man kleidet sich nicht, man wird gekleidet. Es ist das der Begriff für eine Uniform …

Sebastian und Totila traten durch eine halb offen stehende Tür: Dort empfing sie ein langgestreckter Raum mit hohen Regalen an den Wänden, vollgestapelt mit diesen blassblauen zerschlissenen Anstaltsklamotten, die sie schon an anderen Häftlingen gestern Abend am Fenster und auch am Kalfaktor gesehen hatten. Durch den Raum reichte ein langer mit Eisenblech beschlagener Tresen, hinter denen Gefangene, in eben dieser uniformen aber nicht ganz so abgewetzten Zuchthauskleidung, anderen Neuzugängen oft arg zerschlissene Sachen zuwarfen: Jacken, Hosen mit diesen eingenähten breiten gelben Streifen an Ärmeln, am Rücken und an den Hosenbeinen. Dazu Hemden ohne Kragen, lange Unterhosen, klobige Holzschuhe, total zerstopfte Strümpfe, eine runde Stoffmütze, auch mit eingenähtem gelben Streifen. Je eine graue speckige Decke wie sie die von der Spreestraße her schon kannten. Essschüsseln aus Aluminium, ebensolche Becher sowie Löffel. Hölzerne Zahnbürsten, Zahnseife, Seife, dazu Seifenschachteln aus Zelluloid und nicht zuletzt auch je ein Paar Schlappen für den Aufenthalt in der Zelle …

„Na zumindest gibt’s hier Seife und Zahnbürste“, murmelte Totila.

„Und Handtücher“, ergänzte Sebastian.

´Die beiden Freunde mussten noch warten und sahen so der Verteilung dieser anstaltseigenen Habseligkeiten zu. Ein richtiger kleiner Berg den ein Gefangener da zusammenraffen und dann eine hölzerne Treppe hoch ins Obergeschoß schleppen musste. Von dort kamen Neuzugänge, im Gegenzug bereits in Zuchthausuniformen, dazu diese schweren Holzschuhe an den Füßen, runde Stoffmützen auf dem Kopf, die Treppe heruntergepoltert, mit dem Deckenbündel in den Armen in das Schüssel, Trinkbecher und die anderen Utensilien gewickelt waren.

Schließlich kamen auch sie an die Reihe. Die hinter’m Tresen taxierten die beiden kurz und warfen ihnen dann aus den Regalen Jacken, Hosen, Hemden Unterhosen und Decken zu.

„Schuhgröße?“

„Dreiundvierzig“, sagte Sebastian.

„Einundvierzig“, antwortete Totila.

Dann bumsten auch schon zwei Paar ziemlich abgelaufene Holzschuhe auf den Tresen.

„Abgelatscht ist doch gut“, sagte Sebastian, dem es besonders vor diesen unförmigen Botten grauste, „dann sind die nicht mehr so schwer wie ganz neue.“ Zum Schluss klatschten noch zwei Paar ziemlich abgelederte Schlappen auf den Tresen.

Dann gingen auch die beiden mit ihren Bündeln hintereinander über die Holzstufen nach oben.

Und wieder polterten ihnen von dort neu ausstaffierte Leidensgenossen entgegen. Neben Totila rutschte einer mit den Holzsohlen von den Stufen, konnte sich aber wieder fangen. Nur eine Aluminiumschüssel fiel aus der Decke und kollerte scheppernd von Stufe zu Stufe nach unten.

„Passen Se doch auf, Sie Stiesel!“, wurde er prompt vom Wachtmeister angeraunzt, der diesen Dreimanntrupp nach unten geleitete. Sebastian musterte die wie zu einem Mummenschanz verkleideten Gestalten im Vorübergehen.

„Hast doch Oogen im Kopp“, bullerte dann auch der Wachtmeister, der die beiden Freunde nach oben führte.

„Die seh’n alle wie Vogelscheuchen aus“, raunte Totila Sebastian zu.

„Wo haben die das zerschlissene Zeugs bloß her?“, murmelte der.

Oben angekommen empfing sie ein ebenso großer Raum wie unten im Parterre, mit einem ähnlichen Tresen wie dort. Regale an den Wänden voller Kartons und Schachteln.

„Los, los umzieh’n“, wurden sie auch hier wieder von Gefangenen angetrieben.

„Legt Eure Sachen hier hin“, sagte einer und schlug mit der flachen Hand auf eine Stelle des Tresens.

„Wir haben doch nichts mehr“, warf Sebastian ein, „das hat man uns in der Spreestraße schon abgenommen.“

„Na Eure Klamotten zumindest.“

Und beide begannen sich auszuziehen.

Der Kammerbulle zog sich indes zwei Schachteln über den Tresen.

„Also hier“, fragte er, als die beiden halb ausgezogen vor den geöffneten Schachteln standen, „ist noch alles vorhanden?“ Dazu schob er Totila und Sebastian je eine dieser Pappschachteln zu.

Beide bestätigten die Vollständigkeit der dort gelagerten Sachen, einschließlich Armbanduhren und Geldbörsen, deren Inhalt auf entsprechend eingerichtete Konten überwiesen worden sei, wie man ihnen mitgeteilt hatte. Auf einer Liste unterschrieben sie die festgestellte Vollständigkeit.

Kurz danach standen sie schließlich splitternackt im Raum und kletterten nach kurzer Überwindung in die verschlissenen Anstaltsklamotten.

Spiegel gab es natürlich nirgends, so aber konnte Sebastian sich, wenn er Totila betrachtete, gut vorstellen welch kläglichen Anblick er selbst abgab und umgekehrt: Die Hosen zu lang, die Jackenärmel zu kurz. „Ich seh’ ja um die Beine unten herum wie ’ne Friedenstaube aus“, erklärte er, indem er an sich hinabsah.

„Friedenstaube?“, fragte Totila verächtlich und krempelte sich dabei gebückt die auch ihm zu langen Hosenbeine um. „Bist doch gerade als Kriegsverbrecher verurteilt worden.“

„Quasseln Se nich und machen Se hin!“, trieb der Wachtmeister zur Eile.

Als sie dann in ihrer neuen Verkleidung gerade wieder hinaus auf den Hof getreten waren, bemerkte Sebastian, dass er seinen Taschenkamm in den abgegebenen Zivilklamotten vergessen hatte. Er bat daraufhin den Wachtmeister wegen des vergessenen Kamms doch schnell noch mal die paar Meter zurückgehen zu dürfen.

„Wie hoch is ’n Ihre Strafe“, fragte der.

„Zehn Jahre.“

Der Wachtmeister winkte ab. „Komm Se schon, da brauchen Se doch keen Kamm nich mehr.“

Also tatsächlich Glatze, ging es Sebastian durch den Kopf.

Die beiden Freunde stolperten dann in diesen Holzschuhen, mit den Deckenbündeln in den Armen, über den kopfsteingepflasterten Hof vor dem Wachtmeister her.

„Ein bissel schneller“, monierte der, „ich hab’ hier nich den halben Tag lang Zeit.“

„Wir üben doch das Laufen erst noch“, wandte Totila ein und wies dazu auf die Schuhe an seinen Füßen.

„Hab ich auch noch nich gehört“, murrte der Wachmeister vor sich hin und laut sagte er: „Das könn’ Se später noch dauernd machen. Zeit dazu haben Se ja reichlich mitgebracht.“ Schließlich dirigierte er die beiden auf den Backsteinbau mit den vielen kleinen Fenstern zu.

„Der Zellenbau“, sagte Sebastian gedämpft.

„Da haben wir den Salat!“, murmelte Totila.

Ein älterer Wachtmeister trat, als sie davor standen, von innen an die Gittertür und schloss auf. „Komm’ Se schon“, sagte der und: „Bleiben Se da steh’n.“ Er wies dazu auf eine Stelle an der Wand. Beide Wachtmeister verschwanden dann hinter einer anderen Tür.

Nach einiger Zeit, die die beiden Neuen in Erwartung allen Übels schweigend mit sich selbst beschäftigt verbracht hatten, trat ein dritter Posten aus dieser Tür und schloss das Gitter zum Treppenhaus auf. „Kommen Se!“ Es ging über hohe glatte Granitstufen aufwärts … „Verdammter Mist! Das geht hier wirklich bloß mit Übung“, brummte Sebastian, als er mit einem seiner Holzschuhe leicht seitwärts weggerutscht war.

An jedem Stockwerk und Treppenabsatz mit hohen vergitterten Fenstern gab es wieder Gittertüren. Gitter, überall Gitter … Und immer das dröhnende Krachen der Schlösser, das durch den ganzen Bau hallte, wenn die Wachtposten Zellen- und Gittertüren auf und wieder zuschlossen. Eine verschlossene Welt, machte Sebastian sich klar, die nur Schließer oder Eingeschlossene kennen. In Ku’damm Kinos, in amerikanischen Krimis, hatte er schon ähnliches gesehen: So einen Lichtschacht oben vom Dach bis hinab in den Keller und diese darüber gespannten grobmaschigen Drahtnetze, die er allerdings bereits von der Spreestraße her kannte. Und jetzt befanden sie sich mittendrin in so einem Film, der kein Film war … Das Treppensteigen endete schließlich ganz oben. Das Dach selbst mit Reihen kleiner Fenster über dem Lichtschacht war dort recht nah. Um jede Seite dieses Schachts lief eine hölzerne Galerie wie auf allen Stockwerken mit je einem eisernen Geländer an der Seite zum Schacht und eisenbeschlagenen grau gestrichenen Zellentüren mit weißen Nummern links und ebenso rechts des Schachts.

Dann klapperten sie beide mit den schweren Botten, Holz auf Holz, über die Galerie der rechten Seite, vorbei an diesen grauen Türen, bis zur Nummer 96.

„Halt! Bleiben Sie steh’n!“ Der Schließer blickte kurz durch den Spion und schloss die Türe auf.

In der Zelle standen zwischen doppelstöckigen hölzernen Bettgestellen ziemlich verunsichert zwei Vogelscheuchen wie sie selbst. Der ältere von beiden versuchte eine Meldung. Der Schließer winkte ab. „Na geh’n Se schon, geh’n Se da rein.“, forderte er die beiden Neuen auf. Dazu wies er mit dem Schlüssel in die Zelle und so gesellten die beiden sich mit ihren Bündeln zu den verschreckten Schicksalsgenossen, während die Türe hinter ihnen wieder ins Schloss krachte.

Beide warfen ihre Bündel auf zwei unbesetzte Betten.

Nach einer kurzen ersten Begrüßung sah Totila sich in der Zelle um. „ Wenigstens besser als bei der Stasi“, erklärte er.

Sebastian stimmte dem zu. „Aber den Scheißkübel in der Ecke“, sagte er, „den haben wir auch hier wieder. Und wenn ich mir dazu vorstelle, viele Jahre in so’ner Zelle?“ Er schüttelte den Kopf und wandte sich den beiden andern zu: „Ihr seid doch auch noch nicht lange hier oder?“

„Nee, auch erst seit gestern“, sagte der Jüngere und nannte seinen Namen: „Hannes, Hannes Kretschmann. Und das hier ist Herbert.“ Dazu schlug er dem Älteren auf die Schulter und reichte den beiden Neuen die Hand.

„Hannes? Hannes …?“, sinnierte Sebastian laut. Dann blickte er Hannes Kretschmann an.

„Wir haben doch miteinander geklopft …?“

Hannes grinste, nahm die hölzerne Zahnbürste aus seinem Aluminiumbecher in einem Regalfach und klopfte damit seinen Namen gegen die Zellenwand.

Sebastians Gesicht hellte sich auf. „Die Zelle über mir“, sagte er. „Na klar“, fuhr er fort, „du warst doch bei dieser Kampfgruppe in West-Berlin?“

„KgU“, sagte Hannes Kretschmann und nickte.

„Und jetzt bist du hier zum zweiten Mal im Knast, hattest du mir jedenfalls durchgeklopft oder?“

„Zum dritten Mal“, berichtigte Hannes, „aber diesmal politisch, Artikel 6.“

„Ja und die andern Male …?“

„Diebstahl von Volkseigentum. Hab aus ’nem Betrieb Werkzeug mitgehen lassen.“

„Du bist ja einen Tag vor uns verurteilt worden. Was haben sie dir denn dafür eingeschenkt?“

„Sechs Jahre.“

„Artikel 6?“

„Ja, natürlich“, beeilte Hannes sich zu bestätigen. Ich war ja auch schon mal wegen Körperverletzung verurteilt. Drei Jahre. Hab den Sohn vom Parteisekretär vertrimmt. Und im Knast hab’ ich dann Politische getroffen, so’ne wie euch, Artikel 6er.“

„Musste denn der Sohn vom Parteisekretär nachdem du ihn vertrimmt hattest ins Krankenhaus?“

„Ach wo, bloß Nasenbluten.“

„Für das bisschen Körperverletzung gleich drei Jahre?“, fragte Sebastian.

„Na ja, der Sohn vom Parteisekretär“, erklärte Hannes.

„Dann war’s doch auch schon was Politisches.“

Hannes winkte ab. „Körperverletzung ist doch nicht Artikel 6. Und von der Kampfgruppe, also ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit‘, hab’ ich ja erst im Knast von Politischen gehört. Gedacht hatte ich ja immer schon wie die.“

„Und jetzt bist du’s selber“, sagte Sebastian, „bist’n Artikel 6er.“

„Richtig“, bestätigte Hannes kopfnickend.

„Aber das kostet dich sechs Jahre, die höchste Strafe, die du dir bisher eingefangen hast. Wie haben die dich denn erwischt?“

„Ich hatte den Jungs im Knast versprochen von draußen ein Eisensägeblatt in einer Wurst versteckt mit ’nem Monatspäckchen zu schicken.“

„Und das hast du gemacht?“

„Hatte ich versprochen …“

„Aber das wissen doch alle, sogar jeder Neue hier hat schon davon gehört“, sagte Sebastian, „wie die mit dem Inhalt solcher Päckchen umgehen: „Alles, Wurst, Käse, Apfelsinen … wird bei der Ausgabe kurz und klein geschnitten.

Vor allem Westsachen aus den Päckchen.“

„Das weiß ja wirklich jeder“, ließ auch Totila sich hören. „Aber was hat das nun mit der KgU zu tun? Abgesehen mal davon, dass das mit dem Sägeblatt schon total bescheuert ist, wie aber konnte dir die KgU so was auch noch besorgen?

Das wäre schon mehr als nur grobe Fahrlässigkeit.“

„Was hast du denen bei der KgU denn erzählt?“, fragte Sebastian.

„Ich hab’ von ihren Leuten im Knast erzählt …“

„Haben die das alles geglaubt?“

„Na klar, die hatten mir auch das Sägeblatt besorgt.“

„So klar ist das nicht“, mischte Totila sich wieder ein, „du konntest genau so gut von der Stasi gewesen sein.“

Die beiden Freunde spürten schon, dass da was nicht stimmte. Das mit dem Eisensägeblatt und der Wurst war nicht nur bescheuert, sondern geisteskrank, ging es Sebastian durch den Kopf. Aber einen geisteskranken Eindruck machte dieser Hannes durchaus nicht. Auch Totila schossen widersprüchliche Überlegungen durch’s Hirn: Wenn dieser Hannes bei der KgU gewesen war, dann doch nicht wegen eines Eisensägeblatts, das im Päckchen in den Knast geschmuggelt werden sollte.

Mit Spitzeln hatten ja er wie auch Sebastian bei der Stasi schon erste Erfahrungen machen können. Spitzel? Das traf auf diesen Hannes offensichtlich nicht zu.

Auch Sebastian schloss das gefühlsmäßig aus.

„Haben die dir in West -Berlin nicht gesagt“, fragte Sebastian, „dass das mit dem Sägeblatt gefährlicher Unsinn ist?“

„Nee, haben die nicht!“, verneinte Hannes Kretschmann mit leichtem Trotz in der Stimme.

„Na ja“, Totila winkte ab. „Du hättest es selber wissen müssen, schließlich hast du den Knast ja von innen her schon gekannt.

Inzwischen kam in Sebastian ein Verdacht auf, nur ein Verdacht, den er am liebsten hatte verwerfen wollen, weil er ihm zu absurd erschien. Wenn dieser Hannes, dem sein Artikel 6er-Urteil offenbar heilig zu sein schien, es darauf angelegt hätte, zur Erlangung eines solchen Status in den Knast zu gehen, um ein Politischer zu werden wie die andern Politischen, die er als Krimineller dort kennen gelernt hatte? Dann wäre das mit der Säge, der Wurst im Monatspäckchen und der KgU, diese ganzen Blödsinnigkeiten wären dann nur Erfindungen, um die ganz offenbar banaleren Ursachen seines Artikel 6er-Urteils anderen politisch Verurteilten gegenüber aufzuwerten? Die Frage: Litt dieser Hannes tatsächlich unter derart massiven Komplexen und wenn, warum, weshalb …?

„Ja, ich verstehe dich“, sagte Sebastian dann laut zu Hannes Kretschmann, der auf einem Hocker, mit dem Rücken gegen die kalten Rippen der Heizung gelehnt saß. Dazu lief Sebastian dann langsam die wenigen Schritte den schmalen Gang in der Zelle, von der Tür zum Fenster und wieder zurück auf und ab und blieb stehen. „Du bist nun ein Politischer“, sagte er, „ein Artikel 6er. Und bist du jetzt damit zufrieden?“

Hannes Kretschmann stieß sich mit dem Rücken von der Heizung ab, richtete sich auf und wiegte den Kopf. „Wenn ich ehrlich sein soll schon“, sagte er und fuhr dann zögernd fort, „ja, doch, das ist mir wichtig.“

„Aber das mit dem Sägeblatt und der KgU“, mischte Totila sich wieder ein, „ist doch wohl ein haarsträubender Unsinn.“ Er sah Hannes an und ließ sich kopfschüttelnd auf einen Hocker fallen.

Auch Sebastian blieb bei seinem Gang von der Tür zum Fenster und zurück erneut vor Hannes Kretschmann stehen. „Wenn ich das richtig sehe“, sagte er, „dann hast du alles getan, um hier sozusagen als Politischer rein zu kommen?

Könnte das sein?“

„Als Politischer!“, warf Hannes mit Nachdruck ein, „das ist richtig.“

„Ja gut, als Politischer, als Artikel 6er“, hob Sebastian letzteres besonders hervor, „aber wie kann man das freiwillig machen?“

„Hab’ ich doch nicht“, reagierte Hannes Kretschmann. „Also bei der KgU in West-Berlin war ich aber wirklich“, begann er nach einem kurzen Schweigen in der Zelle zu reden. „Und das mit der Säge“, sagte er, „na ja, das ist Quatsch.

Das habe ich nur so erzählt. Weiß auch nicht warum …“

„Aha, jetzt wird es hell“, sagte Sebastian und lächelte. „Ich meine, du wolltest deinen Artikel 6, der dir ganz offensichtlich wichtig ist, vielleicht ein bisschen aufwerten?“

Hannes nickte leicht. „Es waren Flugblätter“, sagte er. „Ich hatte ein paar Flugblätter von der KgU mitgebracht …“

„Kein Eisensägeblatt?“, fragte Totila spöttisch.

Hannes grinste. „Nur’n paar Flugblätter“, sagte er. „Ich hab’ die auf Arbeit und in der Kneipe rumgezeigt.“

„Na, das war dann schon starker Tobak!“, ließ erstmals Herbert Fischer, der älteste in der Zelle, sich grinsend vernehmen.

„Aber damit hast du wirklich nachhaltig für dein Hiersein gesorgt“, wandte Totila sich an Hannes Kretschmann.

Der nickte nur und grinste wieder.

Stimmt also, sagte Sebastian sich, hier ist tatsächlich einer freiwillig in den Knast gegangen, um ein politischer Gefangener zu werden. Das wird einem draußen niemand abnehmen. Es ist aber auch wirklich erstaunlich was es so alles gibt.

„Sag mal“, wandte er sich wieder an Hannes Kretschmann, „hast du denn geahnt, dass du dir damit sechs Jahre einhandelst?“

„Nee, über die Höhe hab’ ich nicht nachgedacht.“

„Aber einen Schreck gekriegt …?“

Hannes nickte. „Ein bisschen schon. Aber es sind ja auch nur fünf …“

„Aha, aber das reicht ja auch“, ließ Totila sich hören.

„Also irgendwie hast du dir deinen Artikel 6 schon redlich verdient, finde ich“, erklärte Sebastian lachend.

„Aber was oder wem nutzt das nun?“, fragte Totila.

„Na ganz offensichtlich unserm Hannes hier“, antwortete Sebastian.

„Also Ihr kennt euch schon von der Spreestraße her?“, fragte nun auch Herbert Fischer und blickte dazu von Sebastian zu Hannes und zurück.

„Na ja, wie schon gesagt“, erklärte Sebastian, „über’s Klopfen, das kennst du doch. Und da habe ich von seiner Beziehung zur KgU erfahren. Von so’ner Eisensäge war da nicht die Rede … Ich hatte aber auch nicht weiter nachgefragt.

Ich erwartete damals für mich so um die fünfzehn Jahre, es hätte auch lebenslänglich werden können. Da war mir nicht so sehr nach dem Elend anderer, dass es dann bei mir nur zehn wurden, war eben Glück. Wir sind ja beide in den gleichen Fall verwickelt“, dazu wies er auf Totila, der dort inzwischen durch die Fensterklappe hinausblickte. „Der hat sieben Jahre“, sagte er.

„Und der Herbert hier“, erklärte Hannes, „hat sechs Jahre nach Artikel 6. Der hat in der Kneipe den Spitzbart als Luden und Zuhälter beschimpft, weil Ulbricht ja aus so ’ner Leipziger Kaschemme stammen soll.“

„Ja, ja, Verächtlichmachung“, sagte Sebastian nickend. „Aber auf so eine Art“, wandte er sich an Hannes, „wärst du jedenfalls noch schneller zu deinem Artikel 6 gekommen.“

„Ich bin ja nun kein Held“, meldete Herbert sich lächelnd wieder zu Wort, „und das war in ’ner Kneipe, ein Sonnabend. Wir hatten uns schon ganz schön was genehmigt“, erzählte er, „auch harte Sachen. Die Gespräche, politische Gespräche wie häufig, die wurden mit gestiegenem Alkoholpegel immer lauter und da ist mir dann das mit dem Ulbricht nur so rausgerutscht. Ein guter Bekannter von mir, der guckte mich danach auch gleich ganz entgeistert an. Ich bin also aus lauter dummem Zufall hier und nicht wie ihr mit Absicht …“ „Na also mit Absicht“, sagte Totila und lachte dazu, „sind wir bestimmt nicht hier reingeraten.“

„So meine ich das nicht“, entgegnete Herbert Fischer. „Ihr hattet was vor“, sagte er, „ich aber nicht. Ich bin dann wie zu erwarten angeschwärzt worden.

Ich weiß wer’s war, aber das nutzt jetzt auch nichts mehr, mir nicht und meiner Familie draußen ebenfalls nicht.“

„Wir sind ja auch verpfiffen worden“, sagte Totila. „Ich wollt’s erst gar nicht glauben, als Sebastian mir das in der Spreestraße über drei Zellen durch Klopfen mitteilen konnte.“

„Und das war ein langjähriger Freund von mir“, sagte Sebastian, schüttelte den Kopf und ging langsam in Richtung Fenster. „Einen Vorteil hat das hier oben“, sagte er und wandte sich vom Fenster in die Zelle um. „Man kann rausgucken.

In den unteren Zellen geht das nicht, hab’ ich gehört. Die Zellen sollen dort höher sein und die Fenster dann mehr unter der Decke.“

„Stimmt, „, sagte Hannes, „habe ich auch so vom Kalfaktor gehört. Wäre also gut, wenn wir hier bleiben könnten. Außerdem, die Zellen unten sind nicht größer, nur höher und mit drei Stockwerkbetten vollgestellt, statt mit zweien wie hier oben.“

„Sechs Betten in so ’nem kleinen Stall? Vor hundert Jahren, als dieser ganze Kasten gebaut worden ist, waren das alles Einzelzellen.“

„Aber ständig Einzelhaft?“, warf Hannes Kretschmann fragend ein.

„Unsinn!“, wehrte Sebastian ab. „Zu bestimmten Tageszeiten standen alle Zellen offen. Jeder konnte jeden besuchen. Das kennt man doch aus Filmen, jedenfalls im Westen. Außerdem, vier Mann oder gar sechs und dieser kleine Kübel dort“, dazu wies er mit der Hand in die Ecke vor der Tür. „Vor hundert Jahren ging’s den Häftlingen auf alle Fälle besser als uns hier. Damals mussten nicht vier oder gar sechs Leute wie jetzt in den unteren Stationen, dieses Ding da hintereinander benutzen.

„Das ist richtig“, stimmte Herbert Fischer zu. „ Auch die Strohsäcke hier“, und er schlug mit der flachen Hand darauf, sodass eine feine Staubwolke durch die Zelle zog. „Da kann man sich ja gleich auf die blanken Bretter legen.“

„Die ranzigen Decken, auch das eine Zumutung“, ergänzte Totila und roch daran. „Stinken genau so nach altem Schweiß wie die bei der Stasi“, und er warf sie wieder zurück auf den Strohsack. „Die sind kurz vor dem Verfaulen.“

„Aber jetzt mal ehrlich“, ließ Sebastian sich hören, „hat denn jemand von euch hier was anderes erwartet?“

„Ich hab’ überhaupt nichts erwartet“, antwortete Herbert Fischer „Aber du hast doch wenigstens gewusst was hier los ist?“, wandte Sebastian sich an Hannes Kretschmann.

„Ja schon“, sagte der, „aber gegen früher hat sich’s doch etwas gebessert.“

„Wer nichts erwartet, kann auch nicht überrascht werden“, erklärte Sebastian und ging dann wieder langsam die wenigen Schritte Richtung Fenster.

„Beim Russen“, sagte Totila, „, soll’s noch schlimmer sein.“

Sebastian blickte durch die Gitterstäbe nach draußen in den Frühsommermorgen, nah und doch unerreichbar fern zugleich. Er bestaunte das Schattenspiel des Sonnenlichts in dem von leichtem Sommerwind bewegten jungen Laub der alten Kastanienbäume, als sähe er das zum ersten Mal. Und er erinnerte sich an eine ähnliche Erfahrung, etwa drei Jahre zurück.

Es war eine Winternacht. Er fuhr mit seinem Fahrrad auf der Chaussee von Altdöbern nach Großräschen und kam vom Besuch zweier Schwestern und deren Freundin. Zu später Stunde hatte sich dann noch der Freund einer der Schwestern eingefunden und war mit dieser ziemlich bald ins Bett gefallen. Er selbst hatte dann im dunklen Zimmer auf einem Stuhl gesessen, der Freund mit Freundin in einem Bett, die beiden übrigen Mädels in einem anderen. Eine peinliche Situation. Er saß schließlich dort wie bestellt und nicht abgeholt. Und als die beiden Mädels schließlich meinten, er solle doch zu ihnen ins Bett kommen, war er gegangen.

Doch als er unten die Tür des Hauses öffnete, blickte er in das helle Licht eines großen, runden, fast weißen Mondes. Alle Gegenstände warfen scharfe schwarze Schatten in eine glitzernde Schicht unberührten Neuschnees. Er war überrascht und einen Moment lang scheute er davor zurück diese glitzernde Zauberwelt zu betreten. Als er dann doch in den watteweißen Schnee trat, knirschte der leicht in der tiefen Stille dieser mondhellen Nacht.

Der Zauber war geblieben, als er mit seinem Fahrrad durch den noch unberührten Schnee der im Mondlicht glitzernden Chaussee gerollt war. Links und rechts verschneiter Kiefernwald in blendendem Weiß mit tiefschwarzen Schatten. Ein Wald voller noch unerzählter Märchen, durch den er damals gefahren war, ganz neu, als sähe er das alles zum ersten Mal.

Dann wieder der Blick durch die Gitterstäbe auf die Zuchthausmauer mit den im Sonnenlicht glitzernden bunten Glasscherben auf der Schräge, die alten Kastanienbäume dahinter und die Backsteinvilla des Anstaltsleiters. Dann wandte er sich um und sah auf die zerkratzte eiserne Tür mit dem Spion darin und den Kübel in der Ecke in seinem rostigen Gestell, sah die hölzernen Doppelstockbetten mit den zerschlissenen Strohsäcken und die Elendsgestalten die dort auf ihren Schemeln hockten, dachte an die vielen Jahre die noch vor ihm lagen. Doch eines Tages, sagte er sich, eines Tages wird das hier vorbei sein. Die Sonne, den lauen Wind im Laub alter Bäume, den Mond, den Schnee und die Wälder dort draußen gabs ja noch und wird es immer geben.

„Ja“, sagte er schließlich, „wir werden uns hier einrichten müssen, ehe die mit dem Mittagessen anrücken.“ Damit trat er an sein Bett.

„Du hast Recht“, pflichtete Totila ihm bei und tat ein Gleiches.

Beide hatten die Betten nur erst mit ihren Bündeln belegt, die sie nun auseinander kramten. Blechnapf, Aluminiumlöffel, Holzzahnbüste, Tonseife im Zelluloidschälchen …all das musste in die Fächer eines rostfarbenen Holzregals an der Wand schräg über dem Kübel eingeräumt werden.

Sebastian stieß dabei mit dem Fuß gegen einen Hocker, trat einen Schritt zurück und zeigte auf die darauf stehende Schüssel. „Da sollen wir uns alle waschen?

Und das Handtuch?“

„Da unten“, sagte Hannes und wies auf die Wand unter dem Regal, „da sind doch Haken …“

„Ah ja, aber direkt neben dem Kübel?“

„Ja wo sonst?“ Hannes sah sich demonstrativ um. „Ist ja kaum Platz in so ’nem vollgestellten Käfig.“

„In der Spreestraße“, erklärte Totila, „wusste man jedenfalls, dass man dort nicht jahrelang bleiben würde, aber hier?“

Doch dann hörten sie Schritte vor der Tür, die gleich darauf krachend aufflog.

Ein Häftling mit Armbinde neben dem Wachtmeister fragte mit einer Handbewegung in die Zelle: „Alle lebenslänglich?“, und grinste ganz leicht dazu.

Die Vier sahen den Kalfaktor verständnislos an.

„Nein, wieso?“, meldete Totila sich verblüfft.

„Na die rote Scheibe draußen an der Tür. Das hier ist ’ne Zelle für Lebenslängliche“, klärte der Kalfaktor die vier Neulinge auf.

„Ich hab’ sieben Jahre“, sagte Totila. „Ich sechs“, erklärte Hannes. „Zehn“, sagte Sebastian.

Der Kalfaktor winkte ab. „Ist ja gut! Rafft eure Plünnen zusammen, ihr kommt in ’ne andere Zelle.“

„Hat jemand Berufung eingelegt“, ließ der Wachtmeister sich hören.

Nach einem Moment erneuter Verblüffung meldete Sebastian sich: „ Ja, ich“, sagte er und hob dazu die Hand, also ich meine wir“, fügte er berichtigend hinzu und deutete auf Totila. Unser Rechtsanwalt hat Revision beantragt.“

Der Wachtmeister nickte und notierte die Namen der beiden in einem Block den er bei sich trug. „Na machen Sie schon „, ließ er sich vernehmen, „packen Sie ihre Sachen!“

„Hätten wir uns gar nicht erst einrichten müssen“, brummte Sebastian, indem er wie alle anderen seine eben noch zusammengelegte Decke wieder auseinander breitete, um dort seine Utensilien aus dem Regal hinein zu werfen.

„Kommen Sie schon“, sagte der Wachtmeister ungeduldig und warf, als alle mit ihren Bündeln auf dem Gang standen, die Türe zu. „Gehen Sie!“ Die Vier setzten sich hintereinander in Bewegung, vorneweg der Stationskalfaktor und zum Schluss der Wachtmeister. Schließlich hielt der Kalfaktor vor einer Zellentür.

Der Wachtmeister trat vor und schloss auf. Die Zelle war, wie Sebastian mit vorgestrecktem Hals erkennen konnte, noch unbelegt. Als dann Totila und er hinter den beiden anderen mit hinein gehen wollten, hielt der Wachtmeister sie zurück. „Sie nicht“, sagte er, schloss die Türe und blätterte kurz in seinem Block.

„Gehen Sie!“, und weiter ging’s an noch ein paar Türen vorbei, alle mit runden grünen Scheiben beklebt, bis fast ans Ende des Gangs. „Halt!“, vernahmen sie wieder die Stimme des Wachtmeisters hinter ihrem Rücken. Die Tür vor der sie standen, wies auch eine dieser runden grünen Scheiben auf, aber mit einem großen schwarzen R darin. Den beiden war klar, dass es sich dabei um eine Revisionszelle handelte, deren Insassen noch keine Glatzen geschoren bekommen hatten.

„Hab ich doch gut gemacht“, brummte Sebastian in Totilas Ohr.

Der nickte nur unauffällig.

Der Wachtmeister öffnete wie immer laut krachend Schloss und Riegel, stieß die Tür auf und wies mit dem Schlüssel in die Zelle. „Alle beide“, sagte er dazu ohne die Meldung der Zellenbelegung abzuwarten, und schon krachte auch hinter ihnen die schwere Türe wieder ins Schloss.

Beide standen dann mit ihren Bündeln in den Armen zwei älteren Schicksalsgenossen gegenüber und alle vier beäugten sich gegenseitig. Es stimmt also, die haben noch Haare auf dem Kopf, stellte Sebastian erleichtert fest. Und Totila fielen die Worte ihres Anwalts ein: Bloß keine Revision! Das kann nur schlimmer werden …` Jetzt sind wir Scheinrevisioner, sagte er sich. Und laut erklärte er: „Zum Glück diesmal keine Zelle für Lebenslängliche. Da waren wir nämlich auch schon.“ Und beide legten ihre Bündel erst mal auf dem Fußboden ab „Na, nun sind wir ja wieder komplett“, begrüßte sie der, der die Meldung versucht hatte.

„Lebenslängliche sind wir hier nicht, aber was habt ihr Kinder denn mitgebracht?“

Sebastian überhörte die leichte Herablassung. „Zehn Jahre“, antwortete er, überzeugt nicht eben von einem Pappenstiel zu reden.“

„Das geht ja schon“, sagte der Ältere mit den kurzen graumelierten Haaren, dem schmalem straffen Gesicht und einer leichten Hakennase.

Sebastian ahnte sogleich, dass hier der Höhe einer Strafe eine ganz eigene Bedeutung beigemessen wurde und dass es sich bei den beiden auch um Politische handeln musste.

„Du meine Güte“, reagierte der andere der beiden, „zehn Jahre“, sagte er, „da ist eure Jugend ja so ziemlich futsch.“ Er erschien äußerlich und in der ganzen Erscheinung als das genaue Gegenstück des großen Hageren mit dem schmalen Gesicht. Ihn zeichnete eine fortgeschrittene Stirnglatze aus, ein rundliches Gesicht und eine mehr füllige Gestalt.

„Was heißt denn: Ist die Jugend dahin …“, fragte Sebastian. „Es gibt Verhältnisse und Umstände, ihr kennt die ja auch“, wandte er sich an die beiden Älteren, „die hauptsächlich in der Abwehr von Zumutungen und in Anfällen von Verzweiflung bestehen. Das gibt es“, sagte er und fügte hinzu: „ So was endet dann eben manchmal auch in solchen Verliesen hier“, dabei wies er mit der offenen Hand in den Raum.

„Es scheint wenigstens so, als ob hier jemand erwachsen werden will“, sagte der mit dem schmalen Gesicht, als er sich Sebastians Auslassungen lächelnd angehört hatte.

Der fragte nun dagegen: „Was habt ihr denn mitgebracht?“

„Zwölf und Fünfzehn Jahre“, bekam er zur Antwort.

„Da habt ihr aber auch ganz schön was zu buckeln.“

„Wie’s kommt so kommt’s eben“, antwortete der mit dem schmalen Gesicht.

„Aber nun schnappt euch mal die Bündel da und räumt euren Krempel ein. Die beiden unteren Betten sind vergeben. Ihr müsst dann mit oben vorlieb nehmen.“

Eine dieser Zellen ähnelte der anderen und so wussten die beiden mit dem Einräumen ihrer Sachen inzwischen Bescheid.

„Seid ihr schon länger hier?“, fragte Totila.

„Wie sollten wir denn?“, antwortete der Schmalgesichtige, „wenn wir noch in einer Revisionszelle sitzen.“

„Na, Revision“, warf Totila ein, „, die könnt ihr ja auch nach zwei oder drei Jahren eingelegt haben.“

„Seht an was für’n cleveres Kerlchen!“ Der mit den graumelierten Haaren lachte.

„Hat sich vergaloppiert und sofort einen Ausweg gefunden. Was ist lange?“, sagte er dann. Wir sind rund drei Monate hier. Ist das viel oder wenig …? Aber was ist das schon gegen fünfzehn oder auch zehn Jahre? Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?“

„Achtzehn“, sagte Sebastian, „und Totila hier“, dabei wandte er sich kurz dem Freund zu, „ist neunzehn und hat sieben Jahre. Wir beide sind ein Fall und von einem Freund verraten worden.“

„Wie, was für ein Freund?“

„Also genauer, ein alter Freund von mir, leider …“, sagte Sebastian und zuckte dazu mit den Schultern.

„Ja, ja, alte Freunde. Das ist so eine Sache, kommt aber öfter vor“, erklärte der mit der Stirnglatze. „Was hat der denn verraten?“

„Wir haben für Gehlen gearbeitet.“

„Und der Verräter auch?“

„Ja klar, der auch.“

„Also ich muss schon sagen“, mischte der Graumelierte sich ein, „Gehlen …das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“

„Andere auch nicht“, sagte Sebastian.

„Na schön, und jetzt hockt ihr hier oben auf Station vier. Und du“, wandte er sich an Sebastian, „bist höchstwahrscheinlich der jüngste Gefangene im ganzen Bau.“

„Mag sein“, sagte der, „aber das ist nur vorübergehend so. Und Station vier hier oben ist doch besser als weiter unten. Dort kann man nicht aus dem Fenster sehen.“

„Na ja wie man’s nimmt“, sagte der Graumelierte. „Doch nun wollen wir uns erst mal bekannt machen. Also ich bin Klaus uud der Kollege hier oder besser Schicksalsgenosse“, und er klappste dem mit der Halbglatze, der dort gegen einen Bettpfosten lehnte, auf die Schulter: „ Das ist Günter. Tja“, fuhr er fort, „der vierte Stock hier? Keiner unter fünf Jahren …“

„Haben wir schon gehört“, warf Totila ein, „und deswegen auch die Lebenslänglichen hier oben?“

„Richtig. Und bis auf drei Mörder, einen Totschläger und zwei die wegen eines Raubüberfalls sitzen, gibts hier oben nur Politische. Und unter den Lebenslänglichen, soweit ich gehört habe, kein einziger Mörder.“

„Alles Politische?“, fragte Totila verwundert.

Klaus, der mit den graumelierten Haaren, fuhr mit der Hand durch die Luft: „Alles!“, bekräftigte er, „ich hab’s vom Kalfaktor, außer zwei oder drei Buntspechten, aber die zählen meiner Meinung nach mindestens zu den Halbpolitischen, schon wegen der sehr hohen Strafen für’n paar Kilo Blei oder Kupfer.“

Totila lachte und schüttelte den Kopf. „Buntspechte?“, sagte er. „Eine kuriose Bezeichnung.“

„Kurios?“, fragte Klaus, „kurios sind erst die Strafen! So zwischen zehn und fünfzehn Jahren.“

Sebastian pfiff kurz durch die Zähne. „„Donnerwetter! Warum denn das?“

„Buntmetalldiebe schaden dem sozialistischen Wirtschaftsaufbau der DDR und nutzen damit dem kapitalistischen Klassenfeind im Westen, an den das Buntmetall verkauft wurde.“

„Aha. Natürlich. Aber wo haben die das Buntmetall her?“

„Bleirohre, Kupferkabel, Messinggeräte … aus den Ostberliner Ruinen“, zählte Günter, der mit der Halbglatze, auf. „Das liegt dort noch tonnenweise unter Trümmern. Das wissen die Parteibonzen auch, nur kommt man da nicht so ohne weiteres ran.“

Sebastian, der sich inzwischen auf einem Hocker niedergelassen hatte, nickte dazu. „Klar“, sagte er, „das mit den Trümmern in Berlin und den darunter verschütteten Bleirohren und so … das kann man sich vorstellen, doch darauf gekommen wäre ich nie. Woher wisst ihr das alles?“

„Zum einen bin ich Ostberliner und zum anderen hat mir das einer erzählt.

Buntspechte sind ja in aller Regel von der Stasi in die Mangel genommen worden.“

„Das nur zu den Buntspechten“, mischte Klaus sich wieder ein. „Hier spielt sich zur Zeit eine noch viel schlimmere Geschichte ab …“ „Ich möchte gar nicht immer daran denken“, winkte Günter mit verzogenem Gesicht kopfschüttelnd ab.

„Möchte nicht immer daran denken“, äffte Klaus den Zellengenossen nach.

„Was meinst du denn woran der denken muss!“

„Hör auf damit“, und Günter hob abwehrend die Hand.

Sebastian und Totila hörten sich etwas unschlüssig dieses kurze Geplänkel an.

„Es geht um den Todeskandidaten hier auf Station“, wandte Klaus sich schließlich an die beiden Neuen. „Der Dicke da“, sagte er, stand dabei im Raum und wies mit einer Kopfbewegung auf Günter, der inzwischen auf einem Hocker saß, „der wird immer weinerlich, wenn mal die Rede darauf kommt und möchte am liebsten in seinen Strohsack kriechen. Es handelt sich hier um einen Fluglehrer, der schon im Krieg die Me109 geflogen hatte und dann hier bei Cottbus als Fluglehrer Volksarmeepiloten auf der sowjetischen Mik15 schulte und dabei mit einem westlichen Nachrichtendienst in Verbindung stand, soviel wir vom Kalfaktor wissen, der den täglich zur Rauchpause in die Spülzelle begleitet. Bekannt ist daher auch, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Wie er aufgeflogen ist, weiß allerdings keiner.“

Wahrscheinlich redet der nicht darüber“, fügte Klaus hinzu und hob leicht die Schultern. „Es heißt jedenfalls er hat Pläne dieser Mik15 dem Westen zukommen lassen.“

„Ein Todeskandidat …? Menschenskinder, damit hab’ ich hier nicht gerechnet.

Das ist ja ’n verdammter Mist!“, schimpfte Sebastian merklich geschockt.

Auch Totila blieb vom Schock nicht verschont. „Es gibt also wirklich Todesurteile?“, fragte er.

„Wieso wundert dich das?“, fragte Sebastian etwas erstaunt den Freund. „Ich hab’s nur hier nicht erwartet“, fügte er hinzu.

„Na ja, draußen hört man so was unter der Hand, aber nie offiziell im Radio oder liest davon in Zeitungen.“

„Ich weiß nicht“, sagte Sebastian, „wir hatten zu Hause immer RIAS eingestellt.

Und wer liest schon DDR- Zeitungen? Todesstrafen in der DDR, das ist doch nichts Neues. Der Artikel 6 reicht ja schon von einem Jahr bis Todesstrafe.

Totila nickte dazu. „Wie lange ist denn der Fluglehrer schon hier“, fragte er dann

„Wissen wir nicht“, antwortete Klaus. „jedenfalls länger als wir“, dazu wies er mit der Hand auf Günter und sich. „Wir sind ja zusammen hergekommen.“

In eine längere Pause hinein, in der alle vor sich hin schwiegen, erklang die nachdenkliche Stimme des Schmalgesichtigen:“Hinrichtungen werden in Dresden vollzogen“, erklärte er. „ Eine Hitlerguillotine steht dort ja noch“, und er schüttelte sich. „Man kriegt richtig ’ne Gänsehaut …“ Niemand äußerte sich dazu. Jedem ging diese Situation durch den Kopf und alle starrten vor sich hin.

Der kann ja auch nur verraten worden sein, überlegte Sebastian.

Vielleicht war der leichtsinnig und hat sich so selbst verraten“, äußerte Totila sich, als hätte er Sebastians Überlegungen erraten.

Der ging wieder die wenigen Schritte von der Tür zum Fenster hin und zurück.

„Ist durchaus möglich“, bestätigte er seinem Freund. „Man muss ja auch davon ausgehen, dass in den westlichen Nachrichtendiensten überall ‚Kundschafter des Friedens‘ sitzen.“

„Nur mit dem Unterschied, dass diese Kundschafter keine Todesstrafe zu erwarten haben“, wandte Günter ein, „ganz gleich wo sie sitzen.“

„Das ist der gravierende Unterschied“, bestätigte Klaus.

„Aber dafür haben wir doch den humanen Strafvollzug“, hielt Sebastian grinsend dagegen. „Den haben die beim Klassenfeind nicht!“

Schließlich drang vom Eingangsbereich unten das hohle Scheppern von Kesseln herauf, die über einen Steinboden gezogen wurden. In kurzen Abständen erklang dann auch bald das Krachen von Schlössern.

„Mittagessen!“, rief Günter, sprang vom Hocker hoch und hielt das Ohr an den Türspalt.

„Das wäre das erstemal, dass wir überhaupt was zu essen kriegen“, ließ Totila sich vernehmen und musterte dazu seinen Blechnapf im Regal.

Auch Freund Sebastian tat automatisch ein Gleiches. „Menschenskinder“, wunderte er sich dann, „wir sind doch erst seit gestern hier und mir ist’s als wären’s mindestens acht Tage.“

„Na ganz so verschwenderisch verhält sich mein Zeitempfinden nicht“, erklärte Totila, „aber dass wir erst seit gestern hier sein sollen, kann auch ich nicht begreifen.“

„Wartet’s mal ab“, gab Klaus, der Graumelierte, zu bedenken, „das ändert sich bald. In spätestens vier Wochen hat sich das gegeben. Es sind halt die neuen Eindrücke, die durchaus nicht alltäglich und sehr nachhaltig sind.“

Günter, der sich weiterhin an der Türe aufhielt, steckte, als das Schlösserkrachen lauter wurde, die Nase in den Türspalt. „Wieder mal Weißkohlsuppe“, sagte er, „das riecht man schon durch den ganzen Bau.“

„Das gibt’s hier nur“, klärte Klaus die beiden Neuen auf. „ Entweder zerkochte Bruchnudeln mit brauner Mehlsoße oder Weißkohlsuppe: ein paar Weißkohlblätter in trübem Wasser mit einigen Mehlklümpchen, alles ohne Salz.“

Sebastian winkte nur müde ab. „Das kennt man doch schon aus der Spreestraße.“

Schließlich und endlich war auch Station vier mit der Essensausgabe dran. Das Krachen der Schlösser und Riegel kam näher und wurde lauter. Alle vier in der Zelle standen mit ihren Blechschüsseln bereit, als auch ihre Tür aufflog: Zwei Kalfaktoren schleppten einen zerschrammten Militärthermoskessel vor die Tür.

Ein dritter schöpfte daraus mit einer Kelle in die hingehaltenen Aluminiumschüsseln. Dann warf auch schon der Wachtmeister die Türe wieder ins Schloss.

„Der erste Schlangenfraß im Zuchthaus Cottbus“, sagte Totila, rührte in der Schüssel und begann dann zu essen.

Alle löffelten die Suppe bis auf den letzten Rest aus ihren Näpfen.

„Ich denke, so könnte Abwaschwasser schmecken“, erklärte Sebastian und legte den Löffel auf den Tisch neben seinen leeren Napf.

„Meckert nicht“, mahnte Klaus als der Ältere, „das bringt gar nichts. Ihr werdet so was noch jahrelang essen müssen.“

„Das ist schon richtig“, stimmte Sebastian zu. „Bei der Stasi hatte ich mir schon am ersten Tag vorgenommen alles bis auf das letzte Krümel zu essen, ganz gleich was die mir vorsetzen würden. Das ist ja jetzt nicht anders. Wer will hier schon krank werden?“, fragte er und sah sich in der Zelle um.

Nachdem schließlich alle ihre Näpfe mit Wasser aus der Kanne gereinigt und dieses dann in den Eimer geschüttet hatten, saßen sie entweder auf ihren Hockern, starrten vor sich hin oder liefen in Gedanken versunken die wenigen Schritte zwischen den Betten von der Tür zum Fenster und wieder zurück, hielten manchmal am Fenster an, blickten durch die Gitter hinaus und nahmen dann die Wanderung wieder auf. Jeder der vier langjährig Verurteilten hatte ja die Vielschichtigkeit seiner ganz eigenen Welt draußen lassen müssen. Dort in den vollgestellten Zellenschächten schrumpfte dann in der Regel die Persönlichkeit jedes einzelnen auf das Minimum ihres Selbsterhalts. Aber davon wussten die beiden Freunde, trotz ihrer Feuertaufe in den Stasi- Katakomben, noch nichts. Sie waren über diese Schwelle in eine Welt getreten, über die sie nur vom Hörensagen gewusst hatten und über die in der Welt, aus der sie kamen, ängstlich geschwiegen wurde: Hinter ihnen geht einer, hinter ihnen steht einer, dreh’n Sie sich nicht um …! Und die verängstigten Schweiger gehorchten und sahen sich nicht um …

Der Tag war zu Ende gegangen. Sebastian blickte wieder wie so oft durch die Gitter nach draußen. Ganz unten vom Hof stieg allmählich Dunkelheit wie grauer Dunst auf, der vom Scheinwerferlicht aus dem Wachturm zerschnitten wurde. Licht, das die weißen Zuchthausmauern bis an die Zellendecke zurückwarfen, um dort als Schattenriss die Gitterstäbe abzubilden. Gitter wohin man auch sieht, sagte Sebastian sich, selbst noch als Schatten an der Wand.

Die anderen in der Zelle schliefen bereits tief atmend auf ihren Strohsäcken, auch sein Freund Totila. Zählung und Einschluss fanden im Sommer um acht Uhr statt. An klaren Tagen schien um diese Zeit noch die Sonne und Amseln sangen. Doch tief hängende graue Wolken, aus denen seit Wochen fast ohne Unterbrechung Regen fiel, bedrückten das Land, verwandelten Felder in Morast und ließen sonst harmlose Bäche ganze Weideflächen überfluten. Grünfutter konnte nicht eingebracht werden, das Vieh musste vielfach in den Ställen bleiben und Heu wurde knapp. So entnahmen sie’s den klein geschnittenen Zeitungspapierqadraten, die den Gefangenen als Toilettenpapier zugeteilt wurden.

Sebastian lag schließlich auch auf seinem Strohsack. Draußen stieg feucht nächtlicher Dunst auf. Er rollte sich zusammen und versuchte einzuschlafen.

Das schrille Geräusch von Eisen auf Eisen riss bereits um sechs Uhr die Gefangenen wieder aus dem Schlaf. Am Tage auf dem Bett zu sitzen, geschweige denn zu liegen, war laut Zuchthausordnung streng verboten.

Auf der anderen Seite der Schwelle

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