Читать книгу Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August - Страница 20
Kapitel 14
ОглавлениеWieder waren Wochen ins Land gezogen. Im Herbst, Sebastian schätzte so im Oktober, hatte es wieder Kartoffeln zu Mittag gegeben, in aller Regel Pellkartoffeln mit Fischsoße oder brauner Mehlsoße, doch zweimal auch schon mit saurem Hering, sodass „Pellkartoffel“, ein älterer Schließer mit original ostpreußischer Aussprache und einem Vorwurf in der Stimme den Gefangenen nahe zu bringen versuchte, dass „Pellkartoffel mit Häring“, ein sehr gutes Essen sei, natürlich so, als seien sie als Verbrecher das gar nicht wert.
Doch nun rückte auch Weihnachten näher. Die wenigen Tage bis dahin würden wohl wie im Fluge vergehen. Sein erstes Weihnachten als Gefangener. Über ein Jahr lag inzwischen hinter ihm. Da das Gericht ihm seine monatelange Untersuchungshaft bei der Stasi aber nicht angerechnet hatte, galt hier nur erst ein dreiviertel Jahr. Sebastian hielt es jedoch angesichts seiner Gesamtstrafe für müßig, schon jetzt mit dem Abzählen der verbrachten Zeit zu beginnen.
Seine Mutter schrieb im Monatsbrief, dass Christa aus Leipzig sich gemeldet hätte. Die Mitteilung seiner Verurteilung habe sie erschreckt, doch sie glaube an ihn.
Und dieser Brief war ohne Schwärzungen oder herausgeschnittene Zeilen durch die Zensur gegangen? wunderte Sebastian sich. So eine Verurteilung sollte ja das genaue Gegenteil bewirken, sollte abschrecken und möglichst Angst verbreiten und nicht den Glauben an einen Volksfeind befördern. Doch das da draußen, was immer es war oder worum immer es ging, es war doch sehr weit weg.
Viel näher lag das Mittagessen zu Weihnachten. Sie waren ja alles Neue in der Zelle, niemand von ihnen hatte schon mal ein Weihnachten im Zuchthaus erlebt.
Nahrung, Essen, so dürftig das auch stets ausfiel, war ja ein wichtiger Faktor und Zeitmesser in der Eintönigkeit ständiger Wiederholung. Draußen änderten sich die Jahreszeiten. Eines Tages lag Schnee im Hof, auf den Dächern und im Land draußen.
„Weiße Weihnachten“, sagte Vater Kurt, der „Buntspecht“, und sah zum Fenster hinaus.
„Is man bloß Modderschnee“, erklärte der Sohn. „Kann ja morgen oder übermorgen schon wieder wech sein.“
Als sie eines Tages wieder durch den schrillen Ton der geschlagenen Stahlschiene aus dem Schlaf fuhren, verkündete Siegfried, dass heute „Heiligabend“, sei.
Doch dieser Tag, ein genau so grauer Tag wie alle davor, verlief auch so. Und zu Mittag gab es Weißkohlsuppe, aber mit Kartoffelstückchen statt bloßer Mehlklümpchen. Was sollte auch sein, beruhigte man sich in der Zelle. „Heiligabend“, passte nun mal nicht ins „Kommunistische Manifest“. Kaum einer wusste inzwischen ja noch, weshalb es Weihnachten überhaupt gab. „Das macht die Kirche, ist deren Sache“, hieß es. Aber warum macht sie’s und wo? Dieser Tag quälte sich also dahin wie jeder andere. Dauernd herrschte draußen ja Kirchenkampf mit der Partei … Und Weihnachten? Draußen nahmen es die führenden Genossen zähneknirschend hin. Die Werktätigen der DDR mochten halt Weihnachten, als der Deutschen liebstes Fest. Aber hier?
„Weihnachten“, sagte Sebastian schließlich abwinkend, „lasst alle Illusionen fahren, wenn jemand welche haben sollte. Wir Volksfeinde sind ja nicht die werktätigen Bürger“, fuhr er grinsend fort. „Ich jedenfalls nicht. Mir haben sie nach KD 38 die Bürgerrechte aberkannt und das geht hier sicher vielen ebenso.“
Es wurde endlich Abend, „Heiligabend“. Die Zelleninsassen saßen bei diesem gelblichen Licht der 40 W-Birne über der Tür auf den Hockern, starrten vor sich hin und schwiegen. Was jeder dachte und woran er sich erinnerte, davon sprach keiner. Alle wussten ja, dass noch viele solcher „Heiligenabende“, vor ihnen lagen. Da galt es jede Sentimentalitätsanwandlung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Als „Einschluss“, ausgerufen wurde und jeder seine Jacke und Hose zusammengelegt auf je einem Hocker deponiert hatte, wurde auch bald das Licht gelöscht. „Einmal werden wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag“, murmelte Siegfried noch halblaut vor sich hin. Dann war es still und jeder lag ganz für sich mit seinen Gedanken auf dem Strohsack unter der ranzigen Decke, die auch noch schlecht wärmte.
Nach Wecken, Zählung, Kübel vor die Tür und Verpflegungsausgabe: 500 gr.
Brot im Stück für den Tag, sowie 20 gr. Margarine, leicht glasig und hart auf einem Blättchen Margarinepapier, einen Esslöffel Vielfruchtmarmelade mit Blättern und Stielen, alle zwei Tage eine mitteldicke Scheibe Wurst beziehungsweise ein Stückchen Käse und einen Becher unergründlichen Getreidekaffees … Holzschuhe an und „Raustreten zur Freistunde.“ Alles lief am ersten Weihnachtsfeiertag so ab wie auch an jedem x-beliebigen anderen Tag. Der Rundgang im Gleichschritt bei bereits festgetretenem Schnee sowie einigen Freiübungen in der kalten Luft, die den eigenen Atem sichtbar werden ließ, verlief mal wieder kürzer als sonst. Alle waren froh in ihren dünnen Klamotten, als es „Einrücken!“, hieß. Die ersten scherten aus dem Kreis aus und auf die Eingangsstufen des Zellenhauses zu, die andern folgten.
„Oh du fröliche, oh du selige gnadenbringende Weihnachtszeit …“: ertönte aus den Reihen der einrückenden Gefangenen in leicht brüchiger Stimme diese kurze gesungene Sentenz eines bekannten Liedes zu diesem Tag.
„Ruhe da! Schnauze halten!“, kam auch gleich die Antwort eines Schließers und verhieß nichts Gutes für diesen Weihnachtstag.
Doch am ersten Weihnachtsfeiertag waren dann alle überrascht, als statt des Rollwagens mit dem Essenskübel, zwei Gefangene einen Thermoskübel mit dampfenden Salzkartoffeln heranschleppten. Jeder bekam daraus eine Kelle leicht zerkochter Kartoffeln in die hingehaltene Schüssel.
„Was ’n das?“, fragte Arno Sawatzky verblüfft, starrte in den dampfenden Kessel und dann auf den Schlag Kartoffeln in seiner Schüssel.
„Ist doch Weihnachten“, sagte einer der Kesselträger und beide lachten.
Doch es kam noch besser: Zwei weitere Gefangene rückten mit einem Kessel voll ebenfalls dampfenden Sauerkrauts an, von dem jeder zwei große Löffel voll in die Schüssel bekam.
Nicht genug damit, zwei Kalfaktoren kamen mit dem Rollwagen und zwei Kesseln darauf, um Soße und Fleisch auszuteilen. Das erwies sich zwar als fett und zettrig. Doch was Besseres, meinte Sebastian, gebe es draußen oft genug auch nicht. Dieses Fleisch mit dem Löffel bewältigen zu wollen, erwies sich dann ganz schnell als unsinnig. Man musste es in die Hand nehmen, hineinbeißen und auseinanderzerren, um sich Stücke aus dem fettigen Gezettere zu reißen.
Handelte es sich dabei doch um Eiweiß und kostbare Kalorien. Schließlich traf man auf genügend Gefangene, meist etwas ältere, bei denen sich bereits Wasser durch tiefe Fingerabdrücke in den Beinen nachweisen ließ. Aber außer wässriger Spinatsuppe, abgewechselt mit zerkochten Bruchnudeln in brauner Mehlsoße im Sommer sowie zerkochter Weißkohlsuppe, abgewechselt mit Pellkartoffeln und Fischmehlsoße. Sommers wie Winters gab es weder Obst noch Gemüse wie etwa Zwiebeln, Tomaten, Gurken, Äpfel … Vieles davon bekam man aber auch draußen nicht zu Gesicht und im Winter schon gar nicht.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag gab es dann noch Mal ein festliches Mittagessen wie schon am ersten Feiertag und das auch noch bei weiterhin höher eingestellter Heizung. Die Zelleninsassen steckten wie eh und je die feuchten Brotscheiben zum Trocknen zwischen die sonst nur lauwarmen Heizungsrippen. Mancher vertrug dieses feuchte Brot nicht. Es verursachte Magenbeschwerden.
Die Weihnachtsfeiertage waren schließlich mit dieser für alle unerwarteten kulinarischen Überraschung vorüber gegangen. Es standen zwar noch Silvester und Neujahr vor der Tür, aber es erwartete niemand eine ähnliche Situation wie die an den Weihnachtsfeiertagen. Es blieb den Gefangenen sowieso unerfindlich wie es zu dieser Art von Bescherung hatte kommen können.
Der Silvestertag verging dann wie jeder andere x-beliebige Tag. Am Nachmittag war es in der Zelle bereits so dunkel, dass man auf den Seiten der sowjetischen Heldenromane Buchstaben kaum noch erkennen konnte. Es handelte sich dabei um Bücher, die wie üblich den Zellen vom Bücherkalfaktor zugeteilt worden waren: Vier Mann, vier Bücher. Vater und Sohn Sawatzky hatten darüber gelästert: Diese Schwarten dort, das sei doch der reinste Schund. „Die hätten uns lieber was zu fressen bringen sollen.“
Am Silvesterabend, noch vor Einschluss, hatten sich alle ihre Becher mit Wasser gefüllt und ins Regal gestellt. Die Trink-und Waschwasserkanne des Nachts in der Zelle zu belassen, galt der Anstaltsleitung grundsätzlich als zu gefährlich.
Alle Vier hatten sich also vorgenommen in dieser Nacht wach zu bleiben. Sie lagen daher nicht in den Betten, sondern saßen im trüben Widerschein der Scheinwerfer, die draußen die weißen Mauern ausleuchteten, in ihre Decken gewickelt auf den Hockern und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Eine Uhrzeit hatten sie nicht, also warteten sie auf das Glockengeläut der Cottbuser Kirchen, die den Beginn des Jahres 1955 einläuten würden.
Sebastian war ans Fenster getreten und blickte durch die Scheibe hinaus in langsam aufsteigende Eisnebelwolken, drehte sich dann in die Zelle um und sagte: „Draußen wirds neblig. Wenn es Silvesterfeuerwerke in der DDR geben würde“, fügte er hinzu, „wäre deren Abbrennen, bei diesem Nebel der sich da draußen zusammenbraut für die Katz.“
„Es ist auch kälter geworden“, bestätigte Siegfried und wickelte sich schaudernd fester in seine Decke.
Bei dieser Nachtwache kroch die Zeit zäh dahin, die Stunden dehnten sich und Sebastian dachte darüber nach, ob ihm dieser Jahreswechsel nicht schnuppe sein konnte. Ging ihn das hier, ausgesondert und abgeriegelt wie er war, überhaupt noch was an? Das Vergehen der Jahre schon, sagte er sich, aber so ’n Jahreswechsel? Und er schüttelte dazu unmerklich den Kopf.
Doch dann begannen die Silvesterglocken der Cottbuser Kirchen nahezu gleichzeitig tatsächlich zu läuten. Und im Dämmerlicht der Zelle erhoben sich wie Nachtgespenster die in ihre Decken gewickelten Insassen, griffen nach ihren Trinkbechern im Wandregal, stießen mit Wasser an und wünschten sich wechselseitig nur eines: Gesundheit, um auch dieses kommende Jahr unbeschadet zu überstehen. Ein womöglich laut gewordener Wunsch nach baldiger Freiheit wäre von den dort Versammelten wohl nur als peinlich empfunden worden bei insgesamt 42 Jahren Zuchthaus in der Zelle. In Abständen waberten immer wieder mal Gerüchte von möglichen Amnestien durch die Zellen. Vielleicht von der Anstaltsleitung auch nur gestreut, um die Gefangenen zahm zu halten.
Ans Fenster getreten sahen die Vier dann statt eines möglichen Feuerwerks nur ein paar Leuchtkugeln im Nebel verglimmen.
Der alte Sawatzky warnte schließlich davor, das Wasser in den Bechern ganz auszutrinken. „Bis zum Kübeln ist es noch ’ne Weile hin“, gab er zu bedenken.
Das leuchtete ein.
Die weihnachtliche Bescherung in Hinsicht auf das Nahrungsangebot wiederholte sich am Neujahrstag nicht mehr. Als große Enttäuschung empfand das kaum jemand, denn Wunder, das wusste ja jeder, wiederholten sich nun einmal nicht so oft.