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Kapitel 19

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An so einem Morgen Ende März wachte Sebastian noch vor dem offiziellen Wecken auf. Ein leichtes Ziehen an einem oberen Eckzahn irritierte ihn. Es zog an dem Zahn, mit dem er sich vor seiner Verhaftung in Behandlung befunden hatte. Ein Erdbeer- oder Stachelbeerkorn aus der Marmeladenzuteilung war offensichtlich in den aufgebohrten Zahn geraten. Draußen hätte man das mit einer Stecknadelspitze sicher selbst beheben können. Aber in so einer Zelle …?

Dort blieb erst nur mal die Hoffnung, dass sich das von alleine regeln würde.

Doch wenn nicht? Einen Zahnarzt, also einen Gefangenen, gabs ja im Krankenrevier.

Sebastian beschloss erst einmal abzuwarten und auch gar nicht darüber zu reden.

Handelte es sich wahrscheinlich nur um eine Winzigkeit. Er würde erst einmal bis zum nächsten Tag abwarten und sich dann, wenn nötig, bei der Morgenzählung, vorschriftsmäßig zum Zahnarzt melden. Doch zum Arzt oder Zahnarzt ins Krankenrevier ging es erst dann, wenn im Zellenbau mehrere Krankmeldungen zusammengekommen waren. Normalerweise bemühte sich kein Wachtmeister wegen eines einzelnen Gefangenen über den Hof ins Revier, zumal aus dem Zellenbau mit den Langstrafern sowieso keiner arbeiten durfte und es von daher auch nicht so wichtig war, ob einer nun gleich behandelt wurde oder noch warten konnte, ja auch ruhig noch warten sollte. Es gab keine klaren Anordnungen wie mit den Krankmeldungen Gefangener im einzelnen zu verfahren sei.

Das blieb grundsätzlich dem Gutdünken des einzelnen Schließers überlassen.

Am andern Morgen, der dumpfe bohrende Schmerz am Zahn hatte nicht nachgelassen, sich eher verschlimmert, und so sprach Sebastian auch in der Zelle davon und tippte dabei mit dem Fingernagel gegen den Zahn.

„Seit wann denn?“, fragte der Arzt.

„Seit gestern“, antwortete Sebastian. „eigentlich seit vorgestern“, setzte er dann zögernd hinzu.

„Wie kommt’s denn?“ Der Arzt sah ihn fragend an.

„Ist draußen schon mal aufgebohrt worden. Ich war in Behandlung, als ich abgeholt wurde.“

„Zeig mal her? Welcher Zahn?“

Sebastian sperrte den Mund auf und tippte dabei wieder mit dem Fingernagel gegen den Zahn.

„Merkst du dabei was?“, fragte der Arzt.

„Nö“, sagte Sebastian.

„Puckerts oder ziehts?“

„Nee, puckert nicht. Wird wohl’n Marmeladenkern sein.“

„Ja, wahrscheinlich“, nickte der Arzt. „Ist nur eine Kleinigkeit. Lass dir den Zahn gleich zumachen, sonst passiert’s wieder.“

Bei der Morgenzählung meldete Sebastian sich zum Zahnarzt.

Der Schließer notierte das.

„Hoffentlich bald“, mischte der Arzt sich ein, „es ist wirklich dringend.“

Doch nichts geschah und Sebastian konnte sich erst am nächsten Tag wieder zum Zahnarzt melden.

„Wie gehts dem Zahn?“, fragte dann gleich am Morgen Sedlmayr.

„Es zieht ganz schön, vor allem wenn Luft dran kommt.“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Das ist nicht so gut“, sagte er. „Unterm rechten Auge ist eine leichte Schwellung zu erkennen.“ Er stand vor Sebastian und drückte den Zeigefinger leicht dagegen. „Kann man deutlich spüren“, bestätigte er.

Bei der Morgenzählung erinnerte Sebastian den Schließer an seine gestrige Meldung. „Ich habe ziemliche Zahnschmerzen“, sagte er mit Vorwurf in der Stimme.

„Ich hab’s weitergegeben“, rechtfertigte der Schließer sich, „mehr kann ich nicht tun“, und er notierte die Meldung zum Zahnarzt erneut.

Doch wieder geschah nichts.

Sebastian beschwerte sich am nächsten und übernächsten Morgen, doch es passierte nichts.

Ein anderer Schließer notierte die Meldung und wieder ein anderer, doch ohne Reaktion.

„Der Zahn ist in der Wurzel entzündet“, schaltete auch der Arzt sich bei der Zählung wieder ein. „Wenn hier nicht bald ein Zahnarzt eingreift, ist der Zahn verloren.“

Sebastian plagten inzwischen sehr starke Schmerzen. Die Wange schwoll an, bis sie ihn schließlich total entstellte.

Die Wachtmeister sahen das natürlich bei der Zählung, aber auch geflissentlich darüber hinweg.

Und so dämmerte es Sebastian wie auch den anderen in der Zelle allmählich, dass hier möglicherweise böse Absicht im Spiele war. Eigentlich, meinte Sebastian, hätte ihnen das schon eher auffallen müssen, aber er und auch die anderen hatten erst einmal schlicht an Schlamperei gedacht. Es hatte ihn zuerst nicht wenig erschreckt, dass auch alle in der Zelle solche Absichten für durchaus möglich hielten.

„Das wäre Folter durch unterlassene Hilfeleistung“, entfuhr es dem Arzt.

„Hier darf dir nichts Schlimmeres passieren“, ließ der Bezirksmeister im Mittelgewicht sich vernehmen. „Die lassen dich glatt verrecken.“

„Herzversagen“, sagte der Arzt, „wäre dann immer eine probate Erklärung.“

Sebastian lachte. „Probat ist richtig“, sagte er und hob die Schultern. „Wenn du tot bist, hat natürlich das Herz versagt …“

„Die seh ’n doch wie du aussiehst, blind sind die nicht“, wandte sich der sonst eher zurückhaltende Siegfried empört an Sebastian. „Das kann doch wirklich nur Absicht sein. Eine Riesensauerei! Wo leben wir eigentlich? Da musst du schon froh sein, wenn du überhaupt überlebst. Das ist offensichtlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit.“

Sebastian stand da, hielt sich mit der linken Hand an einem Bettgestelle fest und drückte die rechte Handfläche gegen die hochgeschwollene Wange. Ein starker Dauerschmerz quälte ihn.

„Den Zahn bist du los, der muss raus“, erklärte der Arzt.

Sebastian war es inzwischen egal ob da ein Eckzahn fehlte oder nicht, wenn er nur erst mal die Schmerzen los werden würde.

Der Arzt stand vor ihm und wiegte den Kopf. „Irgendwie muss der Eiter ja raus …“

„Bloß wie?“, fragte Sebastian und bemerkte, dass ihm der geschwollenen Wange wegen das Sprechen schwerfiel. „Kann diese Vereiterung denn gefährlich werden?“

„Ja“, sagte der Arzt, „wenn Eiter in die Kieferhöhle dringt … Nasenhöhle, Stirnhöhle, selbst die Augenhöhlen, alles hängt ja zusammen. Notfalls“, fuhr er fort, „notfalls könnte ich mit dem relativ scharfen Messer zum Brotschneiden den Abzeß öffnen. Das würde aber auch nur sehr vorübergehend helfen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß was anderes“, sagte er nach kurzem Nachdenken und hob dazu die Hand. „Wie wär’s mit Hungerstreik? Das müssen die nach oben melden und nach drei Tagen nach ganz oben. Schließlich hast du als junger Kerl einen Wert als Arbeitkraft. Wenn auch nicht jetzt, aber vielleicht in einem oder zwei Jahren … Das ist denen da oben nicht gleichgültig wie dem Kommandoleiter hier. Offiziell hast du ein Recht auf die Behandlung durch einen Zahnarzt. Und außerdem“, fuhr Sedlmayr fort, „protestierst du mit dem Hungerstreik ja nicht gegen die DDR, die Politik der Partei, ja nicht mal gegen dein Urteil, sondern nur für dein Recht auf Behandlung durch einen Zahnarzt.

Das ist es!“ Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Darauf hätte ich auch gleich kommen müssen“, sagte er. „Man ist hier im Schädel schon richtig blockiert“, schimpfte er vor sich hin.

Vor der Ausgabe des Frühstücks gleich am nächsten Tag, erklärte Sebastian seinen Hungerstreik. „Sie sehen ja wie ich aussehe“, sagte er zum Schließer. „Ich verlange einem Zahnarzt vorgestellt zu werden.“

So einen entschlossenen Ton hatte der Schließer nicht erwartet, das sah man ihm an. Er bequemte sich dann aber doch schweigend dazu, diese Meldung in seiner Kladde zu vermerken, zumal Sebastian bereits die Annahme des Frühstücks verweigert hatte. Andererseits konnte der aber schon auf Grund des vereiterten Kiefers kaum etwas essen.

Doch bereits am Nachmittag, als er zuvor auch die Annahme der Spinatsuppe verweigert hatte, wurde er aus der Zelle geholt: „Sebaldt zum Zahnarzt!“

„Na also, warum nicht gleich so“, sagte er und zog sich seine Holzschuhe an.

Unten am Ausgang vor dem Kommandoleiterzimmer standen bereits vier weitere Häftlinge, zwei zum Arzt und zwei zum Zahnarzt.

Auf gings dann unter Führung eines Wachtmeisters in den klobigen Holzschuhen über den kopfsteingepflasterten Hof zum Krankenrevier. Dort mussten sie im Kellerflur warten, bis sie einzeln aufgerufen wurden.

Über den Zahnarzt hatte Sebastian vom Kalfaktor erfahren, dass der schon als Kriegsgefangener zehn Jahre beim Russen gesessen hatte, zu 25 Jahren verurteilt, dann aber vorzeitig in die DDR überstellt worden war.

Schließlich sah er ihn, als er den Behandlungsraum betrat: Ein kleiner Mann Mitte sechzig, schütteres dunkelblondes Haar und eine Brille mit kreisrunden Gläsern.

Der forderte ihn auf, im Behandlungsstuhl Platz zu nehmen und schüttelte den Kopf, als er des entstellten Gesichts ansichtig wurde. „Warum kommst du denn erst jetzt?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Na, weil die mich nicht eher hergelassen haben. Ich war immerhin im Hungerstreik, nur deshalb sitze ich jetzt hier.“ Er sprach etwas gedämpft, sodass der Schließer an der Tür es nicht verstehen konnte.

Der Zahnarzt nickte. „Das machen die des öfteren so“, sagte er abschätzig und ebenso gedämpft mit kurzem Blick zum Wachposten. Dann sah er sich die Geschwulst an. „Das ist dir wohl klar“, sagte er, „der Zahn muss raus.“ Eine Spritze funkelte in seiner Hand und schon saß die Nadel im Oberkiefer neben der Geschwulst.

„Da ist aber Eiter drin“, bemerkte Sebastian etwas verunsichert, als der Zahnarzt die Spritze beiseite gelegt hatte.

„Ach ja …“, sagte der und Sebastian meinte ein kurzes Zögern bemerkt zu haben. Vom Zahnziehen allerdings bemerkte er nichts Die Untereiterung schien den Zahn im Kiefer schon stark gelockert zu haben. Diesen Eiter spürte er nun im Mund und spuckte ihn in eine Emailleschüssel. Eiter und ein wenig Blut, wie er feststellte.

Ob das mal gut war, das mit der Spritze, überlegte er noch, als er vom Schließer bereits wieder in den Kellerflur gebracht worden war. Irgenwo hatte er mal gehört oder gelesen, dass Eiter nicht in die Blutbahn geraten dürfe. Im Kellerflur konnte man nur stehend warten bis die andern auch verarztet worden waren. Sebastian horchte in sich hinein … doch noch bemerkte er gar nichts. Womöglich ist es wirklich nicht so schlimm. Mit der Zunge ertastete er ein großes Loch und natürlich Blut. Der Eiter war jedenfalls raus.

Dann ging’s für den Trupp der vier Gefangenen wieder zurück über den Hof in den Zellenbau.

Als Sebastian dann vor allem dem Arzt vom Zahnziehen berichtete und dabei die Spritze erwähnte, wurden seine leisen Bedenken dramatisch bestätigt.

„Was sagst du, eine Spritze?“

„Ja.“

„Der muss nicht ganz bei Trost gewesen sein! Wirklich eine Spritze?“, fragte er noch einmal und sah dabei Sebastian eindringlich an, dem nun doch klar wurde, dass etwas passiert sein musste.

„Ja“, sagte er, „neben dem Zahn in den Kiefer …“

„Das hat natürlich geblutet.“

„Ja klar, ein bisschen mit Eiter“, bestätigte Sebastian.

„Das kriegen wir schon hin“, beschwichtigte der Arzt. „Gebt mal alle eure Decken her“, wandte er sich an die anderen in der Zelle und die folgten etwas verschreckt dieser Aufforderung. „Du wirst jetzt bald hohes Fieber kriegen“, wandte er sich wieder an Sebastian, „und einen mächtigen Schüttelfrost“, fügte er hinzu. „Du legst dich jetzt gleich auf dein Bett und ziehst dir zuvor Hemd und Hose aus.“

„Warum das Hemd?“, fragte Sebastian.

„Weil du gewaltig schwitzen wirst.Wir packen dann alle Decken auf dich.“

„Warum das, wenn ich sowieso schwitzen werde?“

„Weil du tüchtig schwitzen sollst, das ist wichtig.“

Sebastian folgte den Anweisungen und harrte dann unter dem Deckenstapel der bösen Dinge die da kommen sollten.

Der Arzt stellte dann gleich noch den Abwassereimer vor Sebastians Bett ans Kopfende.

„Warum denn das?“

„Warts ab“, sagte der Arzt. „Weil du alles auskotzen wirst, einschließlich Blut und Galle.“

„Ist das schlimm?“

Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Was heißt schlimm? Das ist der Gang der Dinge.“

Sebastian wand sich unter dem Deckenstapel. „Das ist schwer, ich krieg’ ja kaum noch Luft“, protestierte er.

„Das musst du aushalten“, erklärte der Arzt und richtete den etwas verrutschten Deckenstapel. Wir werden noch aufpassen müssen, dass du beim Schüttelfrost nicht aus dem Bette fällst.

„Aber ich merke ja noch gar nichts.“

„Habs man nicht so eilig. Das kommt alles noch …“ Sebastian bemerkte zwar, dass ihm allmählich heiß wurde, er schob das aber auf die vielen Decken.

Der Arzt bemerkte schon bald den ersten Schweiß auf der Stirn des Patienten.

Dann, das kam ganz plötzlich, rebellierte Sebastians Magen. Er sagte das gerade noch, da krampfte der Magen sich wie zu einem Stein zusammen. Es war dann auch wie ein Stich durch den Unterleib. Er warf schnell den Kopf zur Seite und übergab sich in den Eimer, in dem noch das Abwaschwasser von den Frühstücksbechern stand. Das wiederholte sich schließlich konvulsivisch in kürzer werdenden Abständen. „Was ist denn das Grüne da?“, fragte Sebastian den Arzt.

„Galle“, sagte der.

„Und das da ist Blut …“

„Ja sicher, kleinere Blutgefäße, Äderchen die beim Krampfen geplatzt sind.“

„Ist das denn schlimm?“

„Nö“, kam es leicht zögernd, „Das sind halt die Folgen der Spritze.“ Der Arzt stand dabei neben Sebastians Bett und betrachtet den darin Liegenden ungewollt skeptisch.

Sebastian lag unter dem Deckenstapel und Schweiß lief ihm in Bächen übers Gesicht. Er hörte wie der Boxer mit Fäusten gegen die Türe hämmerte, bis ein Schließer endlich öffnete.

Dann hörte er den Arzt etwas von Behandlung und Krankenhaus reden. „Der Junge ist in großer Gefahr“, hörte er ihn sagen. Er sei Arzt, könne das beurteilen und dass es jetzt schnell gehen müsse … Der Schließer kam in die Zelle und überzeugte sich erst einmal selbst von Sebastians Zustand.

Dann schälte man ihn aus den Decken, hob ihn aus dem Bett, zog ihm die Hose an und hängte ihm das Hemd um. Auch die Holzschuhe wurden nicht vergessen, da davon auszugehen war, dass er raus und über den Hof würde gehen müssen.

„Zumindest erst mal ins Revier“, ließ der Arzt sich noch hören, „aber besser doch gleich in ein Krankenhaus.“

„Hört sich nicht so gut an“, murmelte Sebastian so undeutlich vor sich hin, dass niemand es verstand.

Der Schließer erlaubte dem Boxer endlich Sebastian die vier Stockwerke nach unten zu schleppen. Der legte sich einen Arm Sebastians um die Schulter und der Stationskalfaktor lud sich den anderen Arm auf. Und so schleppten sie ihn wie ein Gespenst aus der Zelle und die Treppen hinab. Kalfaktoren der unteren Stationen wichen bei diesem Anblick wie vor einem Geist zur Seite.

Das bekam Sebastian noch mit und vor allem ganz unten angekommen das ‚Zwerghähnchen‘, den stets steil aufgeplustert wirkenden, weil kleingewachsenen Kommandoleiter des Zellenbaus, der aus der Tür seines Büros trat: „Was ist ’n hier los?“

Der Schließer sagte was von einem Arzt in Zelle 103 und von einem gezogenen Zahn und wies dazu auf Sebastian, der dort klatschnaß mit verklebten wirren Haaren und leichenblass zwischen dem Boxer und dem Kalfaktor hing.

„Nischt da“, der Kommandoleiter richtete sich kerzengrade auf, vielleicht auch, weil ihm Sebastians Hungerstreikandrohung eingefallen war. „Das is’ ganz normal nach ’m Zahn ziehn“, und scheuchte die drei, Sebastian in der Mitte, mit einer Handbewegung die Treppen wieder hinauf. Der Schließer folgte den Dreien.

Sebastian bekam das alles nur noch wie aus großer Entfernung mit, auch so, als ob ihn das alles kaum noch etwas anginge. Oben angekommen, nahmen sie ihm Hemd und Hose wieder ab, legten ihn aufs Bett unter den Deckenstapel und dort packte ihn dann auch der vom Arzt vorausgesagte Schüttelfrost. Seine Zähne schlugen aufeinander und die Zelleninsassen hielten die Decken fest, die er sonst von sich geschleudert hätte. Dann lief es ihm wieder glühend heiß durch den Körper und um ihn wurde es dunkel. Ganz kurz empfand er das noch als Erleichterung, als Ruhe, wie eine Erlösung.

Irgendwann tauchte er aus dem dunklen Nichts wieder auf. Seine Hände fuhren über den schweißnassen Körper und ein Erschrecken durchfuhr ihn: Er war ein Krüppel! Seine Hände erfühlten ein Brustbein, das ihm ungeheuer knochig und herausgehoben erschien. Ohne Zweifel, was er da ertastete war ganz offensichtlich eine hässlich hochgewölbte Hühnerbrust … Die hatten ihn zum Krüppel gemacht. Nein so nicht! Unmöglich! So konnte, so wollte er nicht weiterleben … Er befreite sich aus den Decken und kletterte aus dem Bett, torkelte durch die Zelle, hielt sich am Tisch fest und erkannte den Arzt, der dort saß, nur diesen Arzt, sonst nichts.

„Nein, nein …!“, wandte er sich an ihn: „Ich will eine Pistole. Ich bin ein Krüppel …“

„Wo soll ich die denn hernehmen?“, fragte der Arzt in ganz sachlichem Ton und mit einer ausholenden Handbewegung durch die Zelle.

Sebastian nahm alles um sich her nur schemenhaft wahr und konzentrierte sich einzig auf den Arzt. Gift, ging es ihm durch den partiell betäubten Schädel.

„Gift! Ich will Gift …“, forderte er den Arzt auf.

Der nickte. „Tut mir leid“, reagierte er dann, „ich hab’ den Schlüssel zum Giftschrank verlegt.“

Da fühlte Sebastian sich plötzlich veralbert. Er sah sich um und begriff auf einmal auch wo er war. „Du musst mich nicht verscheißern“, wandte er sich an den Arzt. „ Giftschrank? So ’n Blödsinn! Wo soll ’n hier ein Giftschrank herkommen?“

„Und wo sollte ich eine Pistole hernehmen?“, fragte der Arzt.

„Wieso ’ne Pistole?“

„Die hast du doch von mir gewollt.“

„Ich?“, fragte Sebastian, „das glaube ich nicht“, und er schüttelte ungläubig den Kopf.“

„Ich sehe schon“, sagte der Arzt, „es scheint fast, als wärst du erst mal über ’n Berg …“ Sebastian stand in seiner langen Unterhose mit schweißnassen Haaren hohläugig schwankend vor dem Arzt, der auf einem Hocker saß, und hielt sich dabei mit einer Hand am Tisch fest.

„Pistole? So’n Unsinn“, sagte er dann. „Die Kommunisten, die Schweine“, schimpfte er schließlich so laut, dass man es durch die Tür bis auf den Gang draußen hätte hören müssen, „diese Verbrecher, die sind schuld …!“

„Nun mal nicht so laut“, mahnte der Arzt. „Du musst auch schnell wieder ins Bett“, fügte er hinzu, „das ist noch längst nicht vorüber.“

„Leisetreter!“, giftete Sebastian und sah dazu den Arzt an.

Der grinste nur.

Und im Bett schwanden Sebastian, nach einem wiederholten Fieberschub, erneut die Sinne.

„Der kämpft immer noch mächtig“, erklärte der Arzt den andern beiden in der Zelle.

„Ist das wirklich so gefährlich?“, fragte Martin, der Boxer.

„Und ob!“, nickte der Arzt.

„Wird ers schaffen?“, fragte nun auch Siegfried besorgt.

Sedlmayr nickte wieder. „Unter optimalen Verhältnissen wie in einem Krankenhaus durchaus. Aber hier? Ich hoffe es natürlich“, fügte er hinzu. „Seine Jugend ist der einzige Verbündete.“

„Und natürlich du …“, wandte der Boxer sich an den Arzt.

Der lächelte etwas verlegen und zuckte mit den Schultern. „Was kann ich hier schon machen? Ihr seht ja wie die auf meine Mahnung reagieren. Der Kommandoleiter, dieser Wollny, weiß halt besser was lebensgefährlich ist und was normal …“

„Und wenn der hier draufgeht?“

„Herzversagen“, antwortete der Arzt. „Das kennt man doch.“

„Na ich weiß nicht, ich kannte das nicht“, erklärte der Boxer.

Der Arzt zog Schultern und Augenbrauen hoch, wies dem Boxer und Siegfried die offenen Handflächen. „Aber ihr habts doch mitgekriegt“, sagte er dann.

„Meine Meinung gilt hier nichts.“

„Da gibts doch den ärztlichen Eid“, warf der Boxer ein.

„Ja richtig, aber was soll ich unter diesen Verhältnissen machen?“

„Eine Beschwerde mit Hinweis auf die Situation und deinen ärztlichen Eid nach Berlin schicken“, schlug der Boxer vor.“

Der Arzt lachte kurz. „Wenn die das überhaupt zur Kenntnis nehmen würden, dann lassen die so viele Gegenzeugen aufmarschieren, dass ich am Ende noch als Verleumder dastehe.“

„Aber wenn der draufgeht?“, und der Boxer wies dazu auf Sebastian.

„Das wäre dann wieder eine andere Situation“, erklärte der Arzt.

„Aber weißt du“, sagte der Boxer nachdenklich, „so eine Geschichte wie jetzt hier und dazu ausgerechnet noch ein Arzt auf der Zelle? Also das, denke ich, wird’s nur ganz selten geben.“

Auch der Arzt nickte nachdenklich. „So’n kräftiger gesunder Kerl wie der“, sagte er, „der bringt schon einiges an Widerstandskraft auf. Wenigstens wollen wir das hoffen.“

Erst am Abend kam Sebastian wieder zu sich und als er die Augen öffnete, sah er ins Gesicht des Arztes, der sich über ihn gebeugt hatte.

„Brauchst du noch ’ne Pistole?“, fragte der grinsend.

Da lief dann auch ein schwaches Lächeln über Sebastians blasses, verschwitztes und eingefallenes Gesicht. „Ich erinnere mich an das mit der Pistole und dem Gift“, sagte er. „Ich war aber im Moment davon überzeugt, du hast so was. Nur das mit dem Schlüssel vom Giftschrank, also da wurde mir plötzlich klar, du nimmst mich auf den Arm. Das hat mich natürlich geärgert, vor allem weil das großer Quatsch von mir war, ’ne Pistole und Gift.“

„Du warst nur teilweise bei Sinnen“, erklärte der Arzt, „so ein Zwischenzustand …“

„Ja, einerseits habe ich daran geglaubt und andererseits auch gewusst, dass das Unsinn war, also dieser blöde Einfall. Da war mir’s peinlich. Aber mir war es plötzlich wirklich so vorgekommen, als sei ich ein Krüppel geworden mit so einer vorgewölbten Hühnerbrust. So habe ich’s jedenfalls gefühlt.“

„Du warst eben nicht ganz da, das gibt es“, sagte der Arzt. „Und ganz schön ramponiert siehst du auch aus …“

„Es kommt mir vor, als ob ich abgenommen habe“, und Sebastian fühlte unter den Decken seine Brust ab.

„Hast du auch“, bestätigte der Arzt. „Die ganze Geschichte hat dich ein paar Kilo gekostet. Das Wasser lief ja nur so. Du hast auch ein richtig spackes Gesicht bekommen und müsstest dich mal im Spiegel sehen.“

„Bloß gut, dass wir hier keinen haben“, sagte Sebastian.

„Zeig mal dein Handgelenk“, forderte der Arzt den Bettlägerigen auf. Er fühlte Sebastians Puls und starrte dabei zum Fenster hinaus. „Siebzig“, sagte er. „Ist nicht viel, aber in Ordnung …“ Dann legte er die Hand auf Sebastians Stirn.

„Fieber natürlich auch nicht mehr …“

„Warum natürlich?“, fragte Sebastian.

„Na weil bei dem schwachen Puls Fieber eigentlich nicht zu erwarten ist.“ Dann starrte er wieder abwesenden Blicks zum Fenster hinaus. „Du hattest Glück“, sagte er nach einer Weile und wandte sich Sebastian zu, „großes Glück. Du hättest auch drauf gehen können, aber nun hast dus wenigstens überstanden, davon können wir ausgehen. Primär, würde ich sagen, hat dich deine Jugend geschützt. Außerdem warst du ja auch sonst gesund. Draußen freilich wärst du bei so ’ner Geschichte ganz schnell im Krankenhaus gelandet.“

„Das Ganze war schon ein dolles Ding“, ließ Sebastian sich hören.

„Das kann man wohl sagen!“, stimmte der Boxer zu. „Was ist denn das bloß für’n Zahnarzt?“

„Tja, der sitzt schon über 12 Jahre hab ich mal vom Kalfaktor gehört“, erklärte Sebastian, „davon 8 Jahre beim Iwan und über 4 Jahre hier. Die Russen sollen ihn zu 25 Jahren verurteilt und nach 8 Jahren an die DDR überstellt haben. Und dann ist der auch, schätze ich, bestimmt schon über fünfundsechzig.“

„Das Alter ist es nicht“, mischte der Arzt sich ein, „vielleicht aber die Lebensumstände …“

„Na ja“, sagte der Boxer, „der Zahnarzt, das ist sicherlich ’n armes Schwein, aber dieser Wollny, das aufgeplusterte Zwerghähnchen, das ist ein Verbrecher.

Wenn ein Arzt dem sagen lässt, es bestehe Lebensgefahr, dann wischt der das einfach mit einer Handbewegung weg. Und auch dass sie dich“, wandte er sich an Sebastian, „erst nach Tagen und Anmeldung eines Hungerstreiks zum Zahnarzt gelassen haben …“

„Der Sebastian fast umgebracht hätte“, ließ der eher zurückhaltende Siegfried sich hören.

„Das ist wieder ’ne ganz andere Sache“, winkte der Boxer ab.

„Ach, wir wissen ja mit wem wir’s hier zu tun haben“, wandte Sebastian ein.

„Ob nun der Zahnarzt oder das Zwerghähnchen … Immerhin lebe ich noch.“

„Nimms nicht auf die zu leichte Schulter“, mahnte Sedlmayr. „Du wirsts ja sehen, wenn du auf den Kübel gehst, wie wacklig du noch bist. Zehn Tage wirst du mindestens im Bett bleiben müssen. Vor allem musst du wieder was essen und überhaupt erst mal zu Kräften kommen.“

„Na dann bestelle mal“, sagte Sebastian, „bestell’ mal Kraftbrühe, Rührei und Buttertoast morgen zum Frühstück.“

Sedlmayr schüttelte den Kopf. „Gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und schon wieder solche Ansprüche. Und hinsichtlich der Ernährung, da werden wir mit Bordmitteln auskommen müssen.“

Das war dann aber auch leichter gesagt, als getan. Der Arzt machte am nächsten Morgen aus Sebastians Frühstückszuteilung eine Scheibe Brot mit Margarine und Marmelade zurecht, schnitt die Brotscheibe schließlich in ganz kleine Stückchen und stellte den Abwassereimer in Kopfhöhe an Sebastians Bett.

„Warum das?“, fragte der misstrauisch.

„Du wirst das Brot erst mal nicht bei dir behalten“, erklärte der Arzt ganz sachlich.

Und so kam es dann auch. Kaum hatte Sebastian den ersten kleinen Bissen, der ihm vom Arzt in den Mund geschoben worden war hinuntergeschluckt, hob sich fast gleichzeitig der Magen und der Brocken landete mit etwas Flüssigkeit vermischt im Eimer.

„Trink erst mal wieder was“, forderte der Arzt und hielt ihm den Becher mit diesem undefinierbaren Kaffeeersatz hin.

Sebastian griff nach dem Becher, konnte ihn aber nicht halten ohne etwas zu verschütten. Seine Hand zitterte dabei deutlich.

„Da siehst du ja selbst wie schwach du bist. Nicht mal den Becher kannst du ruhig halten“, lautete der Kommentar des Arztes, der Sebastian damit aufzurütteln versuchte.

Schluck für Schluck trank der den Becher dann langsam leer.

„Besser als nichts“, sagte der Arzt. Mit großer Geduld schob er Sebastian immer wieder Bissen für Bissen in den Mund, die der aber ebenso gleichbleibend wieder in den Eimer würgte. In Abständen ging das den ganzen Tag so, auch den zweiten Tag … Sebastian ekelte sich inzwischen vor jedem Bissen.

„Ich weiß, das ist eine Tortur“, bestätigte der Arzt. „Aber andererseits“, sagte er, „andererseits schaffst du’s ja nicht mal alleine zum Pinkeln bis an den Kübel und siehst jetzt auch schlechter aus als noch am ersten Tag …“ „Ich weiß, ich glaub dir’s auch, kann’s aber nicht ändern.“

„Das musst du aber! Wir essen inzwischen dein Brot und dein Mittagessen. Das ist ja ganz schön für uns. So gehts aber nicht weiter.“

Doch es kam dann auch der Tag, an dem er einen allerersten Bissen bei sich behielt. Der Arzt, aber auch alle in der Zelle, die die Torturen um diesen ersten Bissen mitverfolgt hatten, freuten sich als hätten alle persönlich einen Sieg errungen.

„Endlich“, sagte der Arzt mit einem tiefen Seufzer, als Sebastian auch einen zweiten und dritten Happen Brot bei sich behielt. Der erholte sich dann, kam allmählich zu Kräften und erreichte schließlich den Kübel alleine, konnte sich auch selbst wieder waschen, verließ nach Wochen das Lager endgültig und stand eines Tages bei der Morgenzählung, ein wenig blasser und etwas mitgenommen, wie die anderen aufgereiht in der Zelle.

Das Liegen auf den Betten am Tage war den Gefangenen ja strengstens untersagt, doch kein Schließer hatte zu Sebastians Bettlägerigkeit auch nur ein Wort verloren. Stillschweigend hatten sie ihn morgens wie abends im Bett mitgezählt.

Es wurde auch nie klar ob sie wussten, dass Kommandoleiter Wollny durch die Verweigerung einer Zahnbehandlung im Krankenrevier diesen Jungen fast in den Tod geschickt hätte.

Beim ersten Rundgang im Hof bereiteten ihm die drei vorgeschriebenen Kniebeugen noch Schwierigkeiten, aber auch das gab sich bald.

Beim 20-Zeilen-Monatsbrief, zehn Zeilen nach Hause und zehn Zeilen an Christa nach Leipzig durfte er die lebensgefährliche Sache mit dem gezogenen Zahn gar nicht erwähnen, galt das doch als Anstaltsangelegenheit, worüber nichts mitgeteilt werden durfte. Das galt im übrigen auch für die vierteljährliche Sprecherlaubnis. Es gelang Sebastian lediglich etwas von einem abgeheilten Abzeß in den 10 Zeilen an seine Mutter mit unterzubringen. Es wäre, meinte Sebastian, sicher auch nicht gut für die zu Hause, wenn sie wüssten, dass Gesundheit und Leben eines politisch Verurteilten nicht allzuviel wert waren. Wie hatte doch Friedrich Sedlmayr, der Arzt, gesagt? Herzversagen sei immer eine probate Erklärung.

Auf der anderen Seite der Schwelle

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