Читать книгу Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes - Ralph Ardnassak - Страница 11
IX
ОглавлениеWenn man ein junger Mann war, dem aus politischen Gründen alle Wege verbaut worden waren, so wurde man vor allem eines, nämlich ein zorniger junger Mann.
Und so geschah es auch mit dem späteren Minister ohne Geschäftsbereich. So viele Zukunftspläne hatte er für sich selbst gesponnen und entwickelt, aber ihre Verwirklichung schien nun in weite Ferne gerückt, ja sogar grundsätzlich unmöglich!
Er spürte sie, die schier allgegenwärtige Ablehnung und die Ausgrenzung durch das Regime. Er spürte die Verachtung der Macht und der Mächtigen, die ihn aussortierten, weil er sich geweigert hatte, der FDJ beizutreten und sich auf diese Weise zu den Idealen des Sozialismus zu bekennen.
Er hatte den Staat abgelehnt und dessen dominierende Ideologie und im Gegenzug lehnte ihn nun wiederum dieser Staat ab, um ihn mit Ausgrenzung und Misstrauen zu überziehen.
Er war andersartiger, als Jugendliche seines Alters, die bereit waren zur willigen Anpassung. Das hatte er bereits demonstriert. Er kannte die Verführungen, die es im Westen der geteilten Stadt Berlin gab. Als Wanderer zwischen den beiden Welten des sozialistischen und des kapitalistischen Berlins hatte er beide Gesellschaftsentwürfe miteinander vergleichen können, wobei ihm die Schwächen des der DDR gewaltsam übergestülpten Sowjetmodells in erschreckender Weise offenbar geworden waren: größtmögliche Unfreiheit und Konformitätszwang für das einzelne Individuum bei gleichzeitig vorherrschender Miß- und Mangelwirtschaft, in der sich eine elitäre Kaste von opportunistischen macht- und raffgierigen Parteibonzen schamlos als neuer roter Adel etablierte, der alle Ansprüche, die Marx, Engels, Lenin und vor allem Luxemburg in ihren theoretischen Schriften erhoben hatten, immer wieder dreist Lügen strafte!
Im praktischen Vergleich mit der satt glänzenden Demokratie anglo-amerikanischen Ursprungs, wie sie ihm im Westteil der Stadt immer wieder glitzernd und verführerisch präsentiert wurde, hatte sich der graue und von Zwängen und Verzicht geprägte Alltag im Osten als untauglich und trist erwiesen.
Er konnte nicht wissen, dass vor allem im Westteil der geteilten Stadt gerade zu dieser Zeit höchste Anstrengungen unternommen wurden, um die Kriegsschäden schnellstmöglich zu beseitigen, die Wirtschaft zu subventionieren und das verfügbare Angebot an Wohnungen und Waren künstlich derartig attraktiv und opulent zu gestalten, dass Westberlin tatsächlich dem Anspruch einer Frontstadt entsprechen konnte, die dank ihrer Aura eines Schlaraffenlandes eine geradezu magnetische Wirkung auf die Bewohner des Ostteiles auszuüben vermochte.
Er konnte damals nicht sehen, dass auch und vor allem im Westen Berlins nicht alles Gold war, was auf den ersten Blick noch danach aussah!
Insofern unterschied er sich nicht sonderlich von tausenden anderen jungen Menschen.
Davon, was Demokratie und Freiheit implizierten, hatte er nur recht vage Begriffe, die sich eng an den Geschichtsunterricht auf dem Dahlemer Gymnasium anlehnten und die griechische und vor allem nordamerikanische Historie betrafen. Er fasste darunter vor allem die Abwesenheit von Mauer und Stacheldraht, die Abwesenheit der SED und ihrer Militärorgane, die Abwesenheit jedweder Form individuellen Zwanges und die Möglichkeit, beinahe grenzenlos und nach Belieben Waren einkaufen und Filme anschauen zu können.
Ja selbst Südfrüchte, vor allem Bananen, Orangen und Ananas, Westkaffee, Westschokolade und Westzigaretten, schienen ihm in engster Beziehung zu den Begriffen und Inhalten von Freiheit und Demokratie zu stehen. Und allein die Tatsache, dass ihm der Konsum dieser seltenen und begehrten Produkte vorenthalten blieb, schürte seinen Zorn auf jene Leute und auf jene Partei, die ihn seiner Meinung nach um sein Bisschen junges Leben betrogen, indem sie ihn in diesem tristen Land einsperrten und zwangen, nun einen ganz simplen Beruf zu erlernen, bei dem er tatsächlich Gefahr laufen würde, geistig zu verblöden oder irgendwann zum Trinker zu werden, so wie viele Mitglieder des sogenannten Proletariates, die er kannte und deren roher und einfacher geistloser Lebenswandel ihn immer wieder abstieß.
Er hingegen fühlte sich als etwas Besonderes, als ein Mensch, der zu Höherem berufen war und der einen quasi messianischen Auftrag in der Welt zu erfüllen hatte!
Zweifellos war er ein Intellektueller, dem sie durch eine simple Tätigkeit in jener Sphäre, die sie schlicht „die Produktion“ nannten, nach und nach die Fähigkeit nehmen wollten, nachzudenken und ein philosophisches Gedankengebäude zu entwickeln, welches die Unhaltbarkeit der Zustände in der DDR nachweisen könnte!
Er hatte tatsächlich viel und mit Hingabe gelesen. Nicht etwa die Russen, ja nicht einmal die russischen Klassiker, die sie stets in den Himmel hoben, vielleicht deswegen, weil der große Stalin sie einst gelesen hatte. Ostrowski und Scholochow, diese geistig platten Arbeitstiere und Apologeten der Planerfüllung in den Kolchosen und Betrieben, sie waren ihm ein Graus, weil sie keinerlei Individualität des Menschen kannten und anerkannten, sondern sein Leben auf die Pflicht zum Dienst an der Idee des Sozialismus reduzierten, wobei die Entfaltung eines Privatlebens beinahe zwangsläufig auf der Strecke bleiben musste! Offenbar hatte ganz besonders der russische Mensch eine geradezu masochistische Grundanlage seines ureigensten Wesens, die ihn gerade dazu zwang, sich immer wieder unter entsetzlichsten Schmerzen und Qualen aufs Neue irgendwelchen Gewaltherrschern zu unterwerfen, die ihn knechteten und ausbeuteten, hießen sie nun Zar oder KPdSU! Und war es nicht auch schlichtweg Ausbeutung, was in den sozialistischen Staaten mit den Arbeitern und Bauern geschah? Schafften diese nicht auch hier die Grundlagen für die Existenz des Staates? Jene Grundlagen, von denen eine kleine Parteielite dann wirtschaftlich und finanziell profitieren konnte? Wenn im Kapitalismus der Fabrik- und Grundbesitzer die Arbeiter und Bauern ausbeutete, so war es in den sozialistischen Ländern die jeweilige kommunistische Partei, die das Volk zwang, zu arbeiten, um es auf diese Weise auszubeuten und um die Früchte seiner Arbeit zu bringen! Worin bestand also der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus, wenn doch in beiden Systemen das Volk gleichermaßen ausgebeutet wurde? Er bestand zum einen darin, dass es den Arbeitern und Bauern im Kapitalismus trotz Ausbeutung wirtschaftlich immer noch besser ging, als den Arbeitern und Bauern im Sozialismus! Denn der ausgebeutete Arbeiter im Westen konnte sich ein Auto kaufen, Bananen essen und französischen Rotwein trinken, er konnte reisen! Vor allem aber konnte er scheinbar offen seine Meinung sagen, indem er den Kapitalisten auf Demonstrationen und in den Zeitungen, ja selbst im Fernsehen, ein Schwein nennen durfte. Vielleich hatte er dann deswegen hinterher keine Arbeit mehr, aber er konnte die Wahrheit wenigstens einmal ungestraft aussprechen! Vor allem jedoch und darauf kam es letztendlich an, konnte der ausgebeutete Arbeiter im Kapitalismus den Dreck einfach hinschmeißen, wenn ihm die Scheiße eines Tages bis zur Halskrause stand! Er konnte nämlich kündigen, seine Sachen packen und nach Amerika, Australien, Neuseeland oder nach sonst wohin auswandern, wenn er die Faxen einmal dicke und das nötige Kleingeld dazu hatte!
Im Sozialismus aber konnte der Arbeiter nicht hinschmeißen! Er blieb sein Leben lang an Arbeit, an sein Land, an Partei und Massenorganisationen gekettet, wie ein Sklave an seine Galeere! Und wenn er aus Protest aufhören würde, zu arbeiten, so würden sie ihn als Asozialen einsperren und selbst im Knast noch dazu zwingen, für sie zu arbeiten!
Kapitalismus, das war für ihn Freiheit. Eine Freiheit, so grenzenlos und unsagbar, dass sie selbst die Freiheit des Individuums einschloss, im Winter unter einer Brücke erfrieren oder ganz einfach verhungern zu können! Es war ein freies Leben, aber zugleich auch ein Leben, welches den Einzelnen unausgesetzt forderte, sein Bestes zu geben und der Beste zu sein, wollte er nicht wirtschaftlich auf der Strecke bleiben! Kommunismus aber bedeutete die größte vorstellbare Form der Unfreiheit! Eine Unfreiheit, die so weit ging, dass sie dem Einzelnen, der als williges Rädchen im Großen und Ganzen zu funktionieren und zu jubeln hatte, selbst die Freiheit nahm, über das Weiterleben oder das Nicht-Weiterleben seiner Person entscheiden zu können!
Aus diesen Gründen hatte er die Lektüre russischer und sowjetischer Autoren und Schriftsteller als Apologeten der Unfreiheit und der Unterwerfung des Individuums unter den totalitären zaristischen oder den totalitären kommunistischen Staat stets vehement abgelehnt.
Stattdessen jedoch, hatte er sich mit Hingabe den verfemten amerikanischen Schriftstellern zugewandt, deren Werke rar oder gar nicht aufzutreiben waren. Von Twain bis Hemingway hatte er bereits in jungen Jahren alles verschlungen, was ihm in die Hände gefallen war. Darunter auch Jack London, der zumindest als linkslastiger Autor galt. Ja, gerade immer wieder Jack London, dessen ungeschminkte Beschreibung der kapitalistischen Realität ihm höchsten Lesegenuss beschert hatte.
Sein ausgemachtes Lieblingswerk darunter war jedoch der Roman „Martin Eden“. Nicht allein deswegen, weil hier der Aufstieg eines außergewöhnlichen Menschen dargestellt wird, der sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen jene Widerstände zur Wehr setzt, die ihm auf seinem Durchmarsch nach oben, hin zu Bildung, Anerkennung und Reichtum, in den Weg gelegt wurden, wobei er jedoch am Ende siegte. Nein, vor allem auch deshalb, weil London hier zeigte, wie harte körperliche Arbeit den Menschen auszehrte, seinen Geist nach und nach abstumpfte und verarmen ließ und den betreffenden Menschen empfänglich machte für die betäubende und ihn vernichtende Wirkung des Alkohols.
Er meinte, gerade dies geschähe doch in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten des Ostblocks im ganz großen Stil. Der sogenannten Arbeiterklasse wurde unausgesetzt suggeriert, dass sie die herrschende Klasse sei, der die Produktionsmittel letztendlich gehörten. Tatsächlich aber war die Arbeiterklasse zu einer willenlosen Horde hirnloser Arbeitstiere und gewaltbereiter Säufer degeneriert, die keine politische Erscheinung mehr hinterfragte, sondern nur noch tat, was die Partei ihr befahl, während sie dabei ihren Trost im billigen Alkohol suchte.
Die Arbeiterklasse in der DDR, in die man ihn gerade zwangsweise hinein pressen wollte, bestand für ihn aus 17 Millionen Martin Edens, die von Montag bis Freitag in den Fabriken, auf den Feldern, in den Ställen und Wäldern und unter Tage schufteten, um sich dann von Freitagabend bis Sonntagabend sinnlos zu betrinken, damit Fron und Mühsal einer Arbeitswoche und all die leeren Schaufenster, die löchrigen Straßen und die grauen und zerfallenden Fassaden der Häuser auch nur halbwegs erträglicher wurden!
Es war ein tristes Dasein, das Dasein eines Arbeiters in der DDR, wie er fand. Ein Dahinvegetieren zwischen Werkhalle und Ehebett, zwischen Sonderschicht und Vollrausch, umgeben von einer stets wachsenden Schar ewig verrotzter und erkälteter Kinder, die einem, das Pionierhalstuch um den Hals geknotet, an den Beinen hing. Kontrolliert und reglementiert vom Parteisekretär, von der BGL und selbst vom Abschnittsbevollmächtigten und vom Hausvertrauensmann, dem jeder Besucher gemeldet werden musste, der länger als drei Tage auf Besuch blieb.
Und was bedeutete schon Volkseigentum? Es blieb ein Abstraktum, zu welchem der einzelne Arbeiter emotional letztendlich keinen Zugang bekam! Oder sollte er etwa hingehen, um sich aus der Wand derjenigen Werkhalle, in der er gerade arbeitete, drei oder vier Ziegelsteine als seinen persönlichen Anteil am Volkseigentum heraus zu schlagen, um sie dann mit nach Hause zu nehmen?
Er spürte in der Gesellschaft der DDR und insbesondere in seiner persönlichen Umgebung Dasjenige, was Janka später, in der Wendezeit, schlicht Stalinismus nannte. Es war der beständige Zwang zu Konformität und Anpassung, zu Wohlverhalten im Sinne des Staates, zur Verbiegung der eigenen Meinung und der eigenen Person, bei Strafe, sonst Repressalien bis hin zur Verhaftung ausgesetzt zu werden.
Es war ein seltsames Gemisch aus Angst, Lüge und Opportunismus, welches, seiner Meinung nach, einen ziemlich widerlichen Gestank in der ganzen Gesellschaft verbreitete. Und er fragte sich oft, warum die Masse der Menschen so dumm und so feige war, dies nicht zu sehen, um lautstark dagegen zu opponieren. Je mehr er sich jedoch mit dieser Frage beschäftigte, desto stärker erkannte er, dass dem Menschen das Hemd stets näher war, als die Hose und dass Bequemlichkeit und Komfortdenken zu den Lebensentwürfen jedes Zeitgenossen in der DDR-Gesellschaft gehörten.
Bestürzt und zugleich erbost dachte er, dass die Menschen sogar die Kleinkinder ihrer Nachbarn fangen, schlachten, grillen und aufessen würden, sobald dies ihnen auch nur ansatzweise den leisesten gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen würde!
Bestürzt und entsetzt zugleich meinte er, jene Mechanismen auch in der sich strikt antifaschistisch gebenden DDR-Gesellschaft ausgemacht zu haben, die einst die Verfolgung von Juden und Kommunisten in Nazideutschland ermöglicht hatten!
Illusionslos kam er zu dem Schluss, dass solche Mechanismen zu den strukturellen Grundzügen jedes menschlichen Individuums und jeder menschlichen Gesellschafts- und Staatsform gehörten!
Die Vielfalt der Menschen, ihrer Meinungen und Ansichten und Lebensentwürfe war zu groß, um sie unter einem Staats- und Gesellschaftsmodell integrieren und vereinen zu können. Rein zwangsläufig mussten daher zu jeder Gesellschafts- und Staatsform stets politische und wirtschaftliche Gegner gehören, die sich in differenzierter Art und Weise artikulierten und sogar radikalisierten.
Abweichler und Häretiker zählten zum Weichbild jedes Staates, ebenso wie Angepasste und schlichte Mitläufer.
Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang hatte jedoch Rosa Luxemburg mit ihrem berühmten Satz aufgeworfen, wonach Freiheit auch immer die Freiheit des Andersdenkenden darstellte.
Es sollte also für den herrschenden Staat grundsätzlich kein Problem darstellen, dass Häretiker und Abweichler da waren. Das Problem bestand vielmehr in der Frage, wie man offiziell mit diesen Häretikern und Abweichlern umging. Und die DDR ging mit ihnen ebenso wenig zimperlich um, wie weiland Hitlerdeutschland mit seinen politischen Gegnern!
Und obwohl er wusste, dass man den Menschen grundsätzlich und ihrer Natur wegen weder Anpassung an ein bestehendes Staats- und Gesellschaftssystem vorwerfen konnte, wie Opposition dazu, begann er, die Eliten und die Angepassten des DDR-Systemes zu hassen und zu verabscheuen. Vor allem jedoch all die kleinen Mitläufer! Vor allem diese!