Читать книгу Malleus communisticarum oder der Stiefel Gottes - Ralph Ardnassak - Страница 5
III
ОглавлениеIn jenen Jahren, als er noch ein einfacher und bedeutungsloser Jugendpfarrer gewesen war, den die Öffentlichkeit noch nicht kannte und beachtete, hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich einen strotzigen und struppigen Vollbart wachsen lassen, so wie einst Karl Marx und Friedrich Engels.
Er kannte weder die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, keine einzige Zeile davon, die er beide allein aufgrund der Tatsache verabscheute, weil sie das verhasste kommunistische Regime beständig zu seiner Legitimierung heran zog. Aber wie jene ließ er sein Gesichtshaar üppig wuchern und sprießen, um dadurch wie sie seine Verachtung des herrschenden Establishments zum Ausdruck zu bringen.
Glatt rasiert war nämlich in jenen Jahren vornehmlich die Staatsmacht gewesen. Glatt rasiert waren Honecker und Mielke und Ihresgleichen. Glatt rasiert waren die Parteifunktionäre und die Bonzen aller Hierarchiestufen, an deren Revers das Bonbon, das Parteiabzeichen, blitzte wie eine Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft der DDR. Glatt rasiert waren die Vopos, die Stasis, die Offiziere, die Schließer in den Gefängnissen, die Spitzel und Aufpasser und die FDJ-ler, die die Fahnen und Fackeln zu den Republikgeburtstagen an der hölzernen Tribüne in der Karl-Marx-Allee mit all den winkenden Greisen um den vertrottelten und autoritären Honecker vorbei trugen!
Glatt rasiert waren die Schuldirektoren und die Generaldirektoren der volkseigenen Kombinate! Glatt rasiert waren die Offiziersschüler. Glatt rasiert und dressiert waren die gegenwärtigen und die künftigen Eliten der sozialistischen Gesellschaft der DDR! Die privilegierten Leistungssportler und die Schriftsteller, die gehätschelten Künstler, die Ideologen und Strategen und die Wirtschaftslenker. Die Jagdgenossen Honeckers, die linientreuen Familien, die nicht auffallen, sondern aufsteigen wollten und die mit dieser Angst, um ihre Pfründe gebracht zu werden, all die tausend Ungerechtigkeiten des Regimes erst ermöglichten.
Glatt rasiert und sauber, so meinte der Minister ohne Geschäftsbereich, trug das Regime, das sich dreist Arbeiter- und Bauern-Staat nannte, ungeniert seine Bestialität zur Schau!
Er aber, der sich seinerzeit stets auf das Wort Gottes berufen und seinen persönlichen Trost daraus bezogen hatte, der meinte, für die Bedrängten und Verfolgten da sein zu müssen, wie jeder gute Hirte seit Jesus und Petrus, er trug seinen üppig wuchernden Vollbart vor sich her, wie er selbst noch aus dem Kragen des Talars heraus wuchs, als wäre er ein Angehöriger jener rebellischen und selbstbewussten Bauern, die sich weiland um den unglücklichen Thomas Müntzer geschart und gegen die adelige Obrigkeit aufbegehrt hatten. Wie Moses seinen üppigen Vollbart einst stolz gegen den Pharao gereckt hatte, gestützt auf jenen mystischen Stab, den der Gott der Israeliten mit der Fähigkeit versehen hatte, Zauber zu wirken und Wunder zu vollbringen, so hatte der Minister ohne Geschäftsbereich seinen eigenen wuchernden Vollbart gegen die Vertreter der Staatsmacht der DDR gereckt, gestützt auf seinen Glauben, von dem er meinte, er könne das Wunder vollbringen, auch jene Tyrannei eines Tages zu brechen.
Verächtlich hatte er einen bestimmten Parteibonzen damals seines Büros verwiesen, der ihn eifernd daran gemahnen wollte, wonach in der Bibel geschrieben stand, dass alle Obrigkeit doch gottgewollt sei.
Heute hatte sich der Minister ohne Geschäftsbereich jedoch den Gegebenheiten angepasst. Er hatte sich sofort und trotz heftiger Reaktionen seiner irritierten Haut, den Vollbart rigoros abrasiert, sobald er in das gesamtdeutsche Parlament eingezogen war und den muffigen Talar, der immer nach Schweiß und Räucherkerzen und nach Aufrechtsein und Trotz gerochen hatte, gegen einen teuren Anzug eingetauscht, der beim Sitzen im Schritt kniff und nach Wohlstand und Machtfülle duftete. Ein teurer Anzug, in dem er sich anfangs noch ein wenig unbeholfen, zunehmend jedoch immer sicherer, bewegte.
Und immer wenn er heute vor politischen Freunden davon sprach, dass die neue Obrigkeit doch von Gott gewollt und eingesetzt worden sei, vor Freunden, die ihn erzürnt daran erinnern wollten, für welche Ideale sie im Herbst 1989 doch eigentlich auf die Straße gegangen waren, so sandte er ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich niemand an seine Polemik gegen die frühere Obrigkeit erinnern möge!
Er begriff, dass die Wende tatsächlich etwas mit einem physischen und gedanklichen Umwenden und Umdrehen zu tun hatte und dass auch ein Opfer der DDR-Diktatur wie er, der einstige Jugendpfarrer, nicht umhin kommen würde, sich zu wenden und sich vollständig zu drehen, sofern er in der neuen Zeit politisch und wirtschaftlich noch irgend Bestand haben wollte.
Und immer dann, wenn ihm noch Zweifel kamen, immer dann, wenn seine Frau ihm leise mahnend zu raunte: „Du musst Dich arrangieren! Nutze doch endlich die Gunst der Stunde! Und mach Dir deswegen keine Gedanken!“, dann kamen ihm ganz leise und ganz am Grunde seines Wesens Bedenken deswegen, wie sie gerade im Begriff waren, gegen jene Spitzel und Mitläufer vorzugehen, die sie in ihren Schlupflöchern unnachsichtig aufstöberten, um sie quasi gewaltsam heraus zu zerren und in das Licht des Tages, heraus, in die lodernde Flamme des unaufhörlich befeuerten Volkszornes. Waren nicht auch jene nur Leute wie er gewesen, die sich angepasst hatten, so wie er sich jetzt anpasste? Und war es nicht gerade eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, sich anzupassen, sich der Evolution zu beugen, so wie er es jetzt tat?
Aber diese Gedanken schob er sogleich mit dem inneren Argument zur Seite, dass jene sich mit dem Bösen arrangiert hatten, während er selbst doch im Begriff war, sich mit dem Guten zu arrangieren!
Aber war eine politische und wirtschaftliche Theorie nur allein deswegen gut, weil sie gerade zufällig siegreich war?
Und sehr fern wetterleuchtete eine vage Befürchtung durch sein Hirn, er könne möglicherweise eines Tages ebenso für jenes zur Rechenschaft gezogen werden, was er gerade anderen Menschen vorwarf oder antat.
Aber auch diese vage Befürchtung schob er sogleich beiseite, denn er wusste, dass ein Volkstribun nur dann ein Volkstribun sein konnte, wenn er, selbst das eigene Leben verachtend, vollkommen frei von Angst war und auf diese Weise agieren konnte, wie einst Heinrich Kramer, wie Giulio Antonio Santorio, wie Tomás de Torquemada, wie Danton oder wie Andrei Wyschinksi und Roland Freisler!