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Jenseits des Denkens
ОглавлениеIm Westen belohnen wir rationales Wissen und Gelehrsamkeit. Aber erst wenn du erkennst, dass die Voraussetzungen, mit denen du gearbeitet hast, gar nicht stimmen, wenn du daran verzweifelst, über deinen rationalen Geist dorthin zu gelangen, erlangst du die Möglichkeit, deinen Geist wahrhaft zu verwandeln. Albert
Einstein meinte einmal: „Wir werden einen grundlegend neuen Denkansatz brauchen, wenn die Menschheit überleben soll.“ Und: „Der Geist stößt an seine Grenzen, wenn er nur aufgrund dessen denkt, was er weiß und beweisen kann. Man erreicht den Punkt, an dem der Geist springen muss – man kann das Intuition nennen oder anders – und damit eine höhere Ebene des Wissens erreicht. Wir können aber nie beweisen, wie er dorthin gelangt ist. Bei allen großen Entdeckungen hat es einen solchen Sprung gegeben.“
In den indischen Veden erklären die alten Weisen, dass es drei Wege gibt, um spirituelles Wissen zu erlangen:
• Der erste, unmittelbarste ist der Weg der eigenen Erfahrung.
• Der zweite ist der, indem man von jemandem davon erfährt, der es weiß und der dir davon berichtet.
• Der dritte Weg liegt im Studium von oder in der Unterweisung durch Bücher – wie diesem hier – mittels des logischen Geistes.
Gibt es Wege, das Leben kennenzulernen und zu erfahren, Wege, die in Einklang stehen mit einer inneren Stimmigkeit, die sich intuitiv richtig anfühlen? Einstein sagte: „Ich erreichte mein Verständnis der Naturgesetze des Universums nicht über meinen Verstand.“ Es gelang ihm durch Intuition. Obwohl wir unsere Intuition ständig nutzen, wissen wir nicht, worum es sich dabei handelt. Wir sagen, jemand habe etwas intuitiv erkannt. Er hat subjektive statt objektive Erkenntniswege verwendet. Tatsächlich stehen uns außer durch die Sinne und den denkenden Geist weitere Wege zur Verfügung, um Wissen zu erlangen.
1906 schrieb William James in Die Vielfalt religiöser Erfahrung:
Unser gewöhnliches waches Bewusstsein … ist nur eine besondere Art des Bewusstseins, das rundum von völlig andersartigen, potenziellen Arten des Bewusstseins umgeben ist, von denen es nur durch den dünnsten Schleier getrennt ist. Wir leben, ohne etwas von ihnen zu ahnen; aber wenn man nur den richtigen Reiz einsetzt, so erscheinen sie auf einmal voll ausgeformt, diese feststehenden Arten der Mentalität, die vermutlich irgendwo anders ihr Anwendungsgebiet finden. … Keine Darstellung des Universums in seiner Gesamtheit ist vollständig, wenn sie diese anderen Formen des Bewusstseins außer Acht lässt. Wie man sie beachtet, ist allerdings die Frage. … Sie bestimmen unsere Haltung, bieten aber keine Lösungen, und eröffnen uns Gebiete, für die sie uns keine Karten mitliefern. Auf jeden Fall aber verbieten sie uns, unseren Bericht der Wirklichkeit vorschnell zu beschließen.
Das Erwachen für die spirituelle Dimension des Lebens geschieht auf unglaublich vielfältige Art und Weise. Einige Menschen öffnen sich durch traumatische Erfahrungen, etwa wenn der Tod nah ist oder wenn sie mit etwas in Berührung kommen, das tiefer greift als ihre gewöhnlichen Gedanken. Andere Menschen erwachen durch Meditation oder durch religiöse Erfahrungen. Andere wiederum gelangen durch Sex oder Drogen dorthin.
Ich erinnere mich an einen meiner Vorträge Anfang der 1970er Jahre. Mein Publikum zu dieser Zeit war jung, gemeinhin trugen sie weiße Kleider und hatten Blumen im Haar und lächelten andauernd. Ich trug meine mala und einen langen Bart. In der ersten Reihe saß eine Frau, etwa 70 Jahre alt, einen Hut mit künstlichen Erdbeeren auf dem Kopf. Dazu trug sie schwarze Schnürschuhe, ein Blümchenkleid und eine schwarze Tasche. Ich sah zu ihr hin und konnte mir nicht vorstellen, was sie in meinem Publikum verloren hatte. Sie sah so anders aus als alle anderen.
Meine Vorträge waren wie ein Treffen von Forschern und Abenteurern – wir kamen zusammen und sprachen über das, was wir erlebt hatten. Ich beschrieb einige meiner Erfahrungen, von denen einige ziemlich ausgespaced waren. Ich blickte die Frau an und sie nickte zustimmend. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie wusste, wovon ich sprach. Ich sprach von meinen Erfahrungen mit psychedelischen Substanzen, Erfahrungen mit anderen Bewusstseinsebenen. Ich blickte sie an und sie nickte immer noch. Ich vermutete, sie hätte irgendwie Probleme mit ihrem Hals, dass es also gar nichts mit dem zu tun hatte, wovon ich gerade redete. Ich betrachtete sie und sie faszinierte und schockierte mich immer mehr, sie nickte immerzu.
Als ich mit dem Vortrag fertig war, lächelte ich sie so freundlich und intensiv an, dass sie einfach zu mir kommen musste. Sie trat zu mir und meinte: „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie haben ja so recht. Genauso sehe ich das Universum auch.“
Und ich fragte sie: „Woher wissen Sie das? Was haben Sie in Ihrem Leben gemacht, das Sie zu solchen Erfahrungen geführt hat?“ Sie beugte sich verschwörerisch zu mir vor und flüsterte: „Ich häkle.“
Und in diesem Augenblick erkannte ich, dass die Menschen ein spirituelles Verständnis durch eine viel größere Bandbreite von Erfahrungen erlangen können, als ich geglaubt hatte.
Ein Teil des Prozesses des Erwachens besteht darin, zu erkennen, dass die Wirklichkeit, die wir für absolut halten, nur relativ ist. Man muss sich nur von einer Realität in die andere verlagern und die Anhaftung an das, was man für wirklich hält, bricht in sich zusammen. Wächst erst einmal der Keim des Erwachens in dir, bleibt dir keine Wahl mehr – es gibt dann keinen Weg mehr zurück.
Natürlich wissen wir alle, dass die Wirklichkeit bloß relativ ist. Wir wissen das seit unserer Kindheit: „Rudere dein Boot“ –so heißt es in einem englischen Kinderlied – „sanft entlang des Stroms, denn dein Leben ist nur ein Traum.“ Das Leben ist ein Traum.