Читать книгу Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele - Regina Bäumer - Страница 26
I.1.F.b. Der Umgang mit dem Sünder - Barmherzigkeit und Vergebung.
ОглавлениеDie Altväter gehen davon aus, daß jeder im Hl. Geist und durch Gottes Barmherzigkeit den geistlichen Weg gehen kann und wenden sich deshalb besonders dem in Sünde gefallenen Mönch zu. Ein Hintergrund dieser Auffassung ist die doppelte Anthropologie des Origenes. Dieser geht einerseits von einer Dreiteilung des Menschen in Geist, Seele und Leib aus, die wichtig ist für seine asketische und moralische Lehre und entwickelt andererseits die Theologie von der Einbildung Gottes im Menschen, die Basis seiner mystischen Theologie ist.224 Für Origenes ist der Geist eine Gabe Gottes an den Menschen, durch den er im Menschen handelt. Wenn die Seele dem Geist gehorcht, wird er zu ihrem Führer und geleitet sie zur Übung der Tugenden und zu einem moralischen Leben, ebenso zur Kontemplation und zum Gebet. Hört die Seele nicht auf den Geist, wird sie sündig. Der Geist verläßt aber den Sünder nicht, sondern fällt in einen Zustand der Regungslosigkeit, der Lethargie, er bleibt in ihm gegenwärtig als eine Möglichkeit zur Umkehr. Nur den nach dem Gericht Gottes endgültig Verdammten verläßt der Geist.225
Origenes’ Lehre von der Einbildung Gottes im Menschen basiert auf dem platonischen Prinzip, daß nur das Ähnliche sein Ähnliches erkennt.
Nach Kol 1, 15 ist Christus das Bild des unsichtbaren Gottes. Deshalb spricht Origenes vom Menschen als dem zweiten Bild oder vom Bild des Bildes. Den Plural in Gen 1,26 „Laßt uns Menschen machen...“ deutet Origenes als Gespräch des Vaters mit dem Sohn, der die Menschen nach seinem Bild, nämlich nach dem Sohn, schaffen will. Dieses „Bild-des-Bildes-Sein“ ist die Grundlage unseres Seins als Menschen.
Was die Beziehung des Menschen zu Gott betrifft, so ergreift Gott ständig die Initiative, indem er sich offenbart, aber es ist notwendig, daß der Mensch bereit ist, diese Offenbarung aufzunehmen. Die Erkenntnis Gottes ist eine Begegnung zwischen zwei Freiheiten.
Die Sünde bedeckt das „Bild-des-Bildes-Sein“ des Menschen mit diversen anderen Bildern: Bildern des Teufels, irdischen Bildern etc.. Diese Bilder haben aber nicht den Verlust der Einbildung Gottes zur Folge, denn das Bild Gottes in der Seele ist unauslöschlich.226
„Der Maler dieses Bildes ist der Sohn Gottes. Ein Maler von solcher Qualität und solcher Kraft garantiert, daß sein Bild zwar durch Nachlässigkeit dunkel werden kann, aber niemals zerstört durch die Bosheit. Das Bild Gottes bleibt immer in dir, auch wenn du Bilder des Irdischen (des Teufels) darüberlegst. ... Wenn du in dir alle jene Farben zerstört hast, die mit der Tinte der Bosheit gemalt waren, wird wiederum das Bild in dir aufleuchten, das Gott geschaffen hat.“227
„Deshalb wird keiner, der mehr dem Teufel als Gott gleicht, die Möglichkeit verlieren, die Form des Bildes Gottes in ihm wiederzufinden, denn der Erlöser ist nicht gekommen, die Gerechten zur Buße zu rufen, sondern die Sünder.“228
In der Seele des Menschen verbinden sich beide Anthropologien des Origenes. Sie ist der Ort des „Bildes-des-Bildes-Seins“ des Menschen, ihr Pädagoge und Mentor ist der Hl. Geist, der Repräsentant Gottes im Menschen ist.229
Dieses grundlegend positive Bild des Menschen, der den Geist Gottes nicht verlieren kann und der das Bild Gottes in sich nicht löschen kann, was immer er auch tun, bildet die Grundlage für die Art und Weise der Geistlichen Führung im alten Mönchtum.
„Der Altvater Antonios sprach zum Altvater Poimen: ‘Das ist das große Werk des Menschen, daß er seine Sünde vor das Angesicht Gottes emporhalte, und daß er mit Versuchung rechne bis zum letzten Atemzug.’ “ (Antonios 4)(Apo 4)230
Die Väter vertrauen darauf, daß Gott auch durch die Sünde hindurch den Menschen für sich aufbrechen kann. Ja, oft scheint die Sünde die Voraussetzung zu sein, daß einer versteht, daß er nicht aus eigener Kraft, sondern nur aus Gnade und Barmherzigkeit Gottes bestehen kann.
„Der Altvater Sarmata sprach: ‘Mir ist ein Mensch lieber, der zwar gesündigt hat, aber einsieht, daß er gesündigt hat, und bereut, als ein Mensch, der zwar nicht gesündigt hat, sich aber für einen hält, der Gerechtigkeit übt.’ “ (Sarmata 1)(Apo 871)
Die Väter rechnen auch mit Umwegen und Irrwegen des Menschen und sind bereit, Ratsuchende auf ihren Irrwegen zu begleiten und sie nach ihren Umwegen weiter voll Vertrauen Gottes Wege zu lehren.
„Ein Bruder fragte den Abbas Poimen: ‘Was soll ich tun?’ Der Greis sagte: ‘Wenn Gott uns seinen Schutz gewährt, worum sollen wir uns sorgen?’ Der Bruder wandte ein: ‘Um unsere Sünden!’ Darauf antwortete der Alte: ‘Gehen wir in unser Kellion und gedenken wir unserer Sünden, und der Herr geht in allem mit uns.’ “ (Poimen 162)(Apo 736)
Der Glaube an Gottes Barmherzigkeit, der nicht nur theoretisch behauptet, sondern praktisch gelebt wird, schließt das Wissen ein, daß geistliche Wege nicht immer gerade und zielstrebig verlaufen. Im Christentum geht es nicht um stets aufsteigende, glatte Biographien, im Gegenteil, zum christlichen Wachstumsverständnis gehören notwendigerweise Brüche, Sprünge, Umwege, Krisen, ja oft sind diese erst Auslöser eines nächsten Reifungsschrittes.231 „Im geistlichen Wachstum kann nichts erzwungen werden. Mit Wachstumsschüben ist ebenso zu rechnen wie mit schöpferischen Inkubationszeiten - einschließlich regressiver Wachstumsverweigerungen und progressiver Überhastungen.“232
„Ein Bruder in der Sketis bei Abbas Paphnutios wurde von der Unkeuschheit angefochten und sagte: ’Auch wenn ich zehn Weiber nähme, könnte ich meine Begierde nicht stillen.’ Der Greis munterte ihn auf, indem er sagte: ‘Nein, Kind, der Kampf kommt von den Dämonen.’ Aber er folgte ihm nicht und ging nach Ägypten und nahm sich ein Weib. Nach einiger Zeit begab es sich, daß der Greis nach Ägypten hinaufzog, und er begegnete dem Bruder, der Körbe mit Tongefäßen trug. Paphnutios erkannte ihn nicht, er aber sagte zu ihm: ‘Ich bin dein Schüler N. N.’ Als der Greis ihn in dieser Unehre sah, weinte er und sprach: ‘Wie hast du die Ehre von damals aufgegeben und bist in diese Unehre gekommen. Es fehlte nur, daß du zehn Weiber genommen hast.’ Da seufzte er auf und sagte: ‘In Wahrheit, ich habe nur eines genommen und habe Mühe, daß ich ihr genug Brot verschaffen kann.’ Und der Greis sprach zu ihm: ‘Komm wieder zu uns!’ Und er sagte: ‘Gibt es da eine Buße, Abbas?’ Der sagte: ‘Ja, sie ist möglich!’ Und er verließ alles und folgte ihm. Und er kam in die Sketis, und durch Erfahrung wurde er ein angesehener Mönch.“ (Paphnutios 4)(Apo 789)233
Diese Art des Umgangs mit dem Sünder geschieht in einer Zeit, in der mit Sünde meist nur schwerwiegende Vergehen bezeichnet wurden.
„Jemand erzählte von einem Bruder, der in Sünde gefallen war. Er kam zum, Altvater Lot, verstört trat er ein und ging hinaus und konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Da fragte ihn Abbas Lot: ‘Was hast du, Bruder?’ Er antwortete: ‘Ich habe eine große Sünde begangen und vermag sie den Vätern nicht zu bekennen.’ Da sprach der Alte: ‘Offenbare sie mir, und ich werde sie tragen.’ Da bekannte er ihm: ‘Ich bin in die Sünde des Ehebruchs gefallen und habe, um mein Ziel zu erreichen, gemordet.’ Der Alte erwiderte ihm: ‘Habe Vertrauen, es gibt eine Reue. Wohlan, setze dich in deine Höhle, faste je zwei Tage, und ich werde mit dir die Hälfte der Schuld tragen.’ Nach drei Wochen wurde dem Alten die Gewißheit, daß der Herr die Buße des Bruders angenommen habe. Und er verharrte im Gehorsam gegen den Greis bis zu seinem Tode.“ (Lot 2)(Apo 448)
Selbst wenn die Väter Zeuge von Verfehlungen werden, sie lehnen es ab zu verurteilen:
„Es kam einmal ein Knabe, damit er von der Besessenheit geheilt werde. Die Brüder brachten ihn in das Koinobion des Ägypters. Der Alte kam heraus und sah, wie der Bruder mit dem Knaben sündigte. Er verurteilte ihn jedoch nicht, sondern sagte: ‘Wenn Gott, der sie gebildet hat, sie nicht mit Feuer verbrennt, wer bin dann ich, daß ich sie tadle?’ “ (Johannes der Perser 1)(Apo 416)
Johannes Cassian erzählt in seinen Collationes ein Beispiel, wie ein Altvater den anderen scharf zurechtweist, weil er es an Barmherzigkeit hatte fehlen lassen:
„Laßt mich ein Beispiel erzählen, ohne den Namen des betreffenden Altvaters zu nennen. Zu diesem Altvater - er ist mir bestens bekannt - kommt eines Tages ein junger Mönch, keineswegs einer der Erschlafften und Trägen, und offenbart ihm seine sexuellen Anfechtungen. Er war dadurch in großer Unruhe und glaubte nun, er werde in seiner Qual durch das Gebet des Altvaters getröstet werden und ein Heilmittel für seine Wunden erhalten. Der aber schimpft ihn mit den bittersten Worten aus, nennt ihn einen Elenden und Unwürdigen, der nicht den Namen eines Mönches verdiene, weil er sich durch ein solches Laster und seine Begierden aufreizen lasse. Durch diesen unangebrachten Vorwurf verwundet der Greis den jungen Mann zutiefst. Er schickt ihn, der tödlich verzweifelt und aufs tiefste niedergeschlagen ist, aus seiner Zelle weg. Und jener geht, schwermütig niedergedrückt. Jetzt denkt er nicht mehr an Heilmittel gegen seine Leidenschaft, sondern überlegt, wie er seine Begierden befriedigen kann. Da begegnet ihm Abbas Apollo, der bewährteste der Väter. Er schaut dem jungen Mann ins Antlitz und erkennt, welche Last ihn beschwert und welcher Kampf in seinem Innern tobt. Er redet ihn an und fragt nach der Ursache solcher Verstörung. Als dieser dem Abbas, der ihn sanft anspricht, nicht einmal eine Antwort geben kann, merkt dieser mehr und mehr, daß jener einen Grund haben muß, nicht über seine Verzweiflung reden zu wollen. Jetzt bedrängt ihn der Abbas, und der Junge bekennt, er sei auf dem Weg in ein Dorf, um sich eine Frau zu nehmen und ins Weltleben zurückzukehren, da er nach der Meinung jenes Altvaters ja doch nicht zum Mönch tauge. Er könne sich gegen den Stachel der Begierde nicht mehr wehren und wisse kein Mittel gegen solche Versuchung. Der Vater Apollo tröstet ihn aufs liebreichste und sagt ihm, er selbst werde täglich durch dieselben Stacheln sexueller Begierden gequält. Darum dürfe er nicht in solche Verzweiflung fallen und nicht erstaunt sein, daß dieser Kampf so erbittert sei. Daraus könne er lernen, daß nicht der eigene Kampfeseifer, sondern vielmehr des Herrn Barmherzigkeit und Gnade zum Sieg verhelfe. Apollo bittet den jungen Mann, einen Tag zu warten und in seine Zelle zurückzukehren.
Mit höchster Eile begibt er sich zum Kellion des erwähnten Altvaters. Als er sich dem Ort nähert, betet er mit ausgebreiteten Händen unter Tränen: ‘Herr, der Du allein der milde Richter bist, der die im Menschen schlummernden Kräfte und seine verborgenen Schwächen kennt, der Du zugleich im geheimen zu heilen verstehst, erlege die Anfechtung jenes jungen Mannes diesem Greise auf, damit er noch , im Alter belehrt werde, herabzusteigen zu den Niederlagen der Kämpfenden und mitzufühlen mit den Schwächen der Jugend!’ Mit einem Seufzer beendet er sein Gebet und sieht, wie ein Teufel vor dem Kellion steht und mit feurigen Pfeilen hineinschießt. Der Greis muß sofort verwundet worden sein, denn er stürzt heraus und rennt wie von Sinnen herum, heraus und hinein. Aufgeregt will er auf demselben Weg entfliehen, auf dem der junge Mann von dannen gegangen war. Abbas Apollo sieht, daß der Alte wie wahnsinnig ist, wie von Furien gehetzt, und begreift, daß der Feuerpfeil, den der Teufel auf ihn abgeschossen hat, ihm im Herzen steckt und diese ganze Verwirrung des Geistes und diesen Aufruhr der Sinne hervorruft. Da tritt er zu ihm und sagt: ‚Wohin rennst du, und aus welchem Grund benimmst du dich, die Würde deines Alters vergessend, wie ein Kind? Jener, ganz konfus vom Widerstreit zwischen Gewissen und schändlicher Leidenschaft, glaubt, der Altvater habe die Flamme entdeckt, die in ihm lodert, und wagt nicht zu antworten. Da sagte Apollo: ‘Kehre zurück in deine Zelle und lerne endlich, daß dich der Teufel bisher entweder gar nicht gekannt oder dich verachtet hat; offenbar zählte er dich nicht zu jenen, durch deren Fortschritte er täglich zu Kampf und Streit gereizt wird, da du nach so vielen Jahren deines Mönchseins dich unfähig zeigst, auch nur einen einzigen seiner Pfeile einen Tag lang zu ertragen oder gar zurückzuschleudern.
Der Herr hat zugelassen, daß du verwundet wurdest, damit du wenigstens im Alter lernest, Mitleid zu haben mit fremder Schwäche und vom hohen Roß herabzusteigen zur Gebrechlichkeit deiner Brüder, vor allem der jungen. Was du an dir selbst erfährst, soll dir Lehre sein. Du hast den jungen Mann, der teuflisch versucht wurde, nicht nur nicht getröstet, du hast ihn in eine schlimme Verzweiflung gestürzt und ihn, soviel an dir lag, den Händen des Feindes überlassen, daß er ihn schrecklich verschlinge. Den Jungen hätte der Teufel ganz gewiß nicht so heftig angegriffen, wie er dich zu versuchen bisher verschmähte, wenn er nicht neidisch gewesen wäre auf seinen künftigen Fortschritt. Darum beeilte er sich, die Tugend, die er in seiner Seele angelegt sah, im Keim zu ersticken. Zweifellos erkannte er ihn als den Stärkeren, da er sich die Mühe machte, ihn so heftig anzugreifen. Jetzt lerne du, mit denen, die ringen, Mitleid zu haben, die Gefährdeten nicht solch verderblicher Verzweiflung auszusetzen oder mit harten Worten rauh zu behandeln. Erquicke sie vielmehr mit sanftem und zartem Trost. Lerne aus dem Beispiel unseres Erlösers, ein geknicktes Rohr nicht zu brechen und den glimmenden Docht nicht auszulöschen (Mt 12,20) und jene Gnade vom Herrn zu erbitten, mit der du selbst vertrauensvoll singen kannst: ‘Der Herr gab mir eine kundige Zunge, damit ich durch mein Wort den zu stärken wisse, der gefallen ist’ (Is 50, 4). Nun ist erreicht, was der Herr in seiner Weisheit mit diesem Ganzen Heilsames gewollt hat! Der junge Mann sollte von seiner sexuellen Begierde befreit werden, du aber solltest eine Lehre erhalten über die Heftigkeit von Versuchungen und über die Notwendigkeit des Mitleids. So laß uns jetzt gemeinsam den Herrn anflehen, er möge diese Geißel, die über dich kam, weil sie dir nützen sollte, wieder von dir nehmen.’
Der Herr erhörte das Gebet. Die Lehre aber aus dem Ganzen: Niemandem darf man die Fehler vorwerfen, die er selbst offenbart hat. Das verlangt der Respekt vor dem Schmerz eines Mannes, der kämpft. Darum darf uns denn auch nicht die Ungeschicklichkeit oder Leichtfertigkeit des einen oder anderen Alten, dessen Greisenhaar der schlaue Feind mißbraucht zur Täuschung der Jüngeren, abschrecken. Heilsame Lehre der Väter ist: Ohne falsche Scham den Vätern alles offenlegen und von ihnen entweder Heilmittel für die Wunden oder Lebensbeispiele, wie man damit fertig wird, vertrauensvoll annehmen.“234
Gott selber korrigiert die Väter, wenn sie gegen diesen Grundsatz verstoßen:
„Einmal kam der Altvater Isaak von Theben ins Koinobion und sah einen Bruder, der zu Fall gekommen war, und verurteilte ihn. Als er aber in die Wüste hinausgegangen war, kam ein Engel des Herrn und stellte sich vor die Tür seines Kellions und sagte: ‘Ich lasse dich nicht eintreten.’ Er aber wandte ein: ‘Warum?’ Der Engel gab ihm zur Antwort: ‘Der Herr hat mich mit dem Auftrag gesandt: ‘Sage ihm: was soll ich mit dem gestrauchelten Bruder, den du gerichtet hast, anfangen?” Auf der Stelle bereute er und sagte: ‘Ich habe gefehlt, verzeihe mir!’ Und der Engel sprach: ‘Steh auf, Gott hat dir verziehen. Aber sei in Zukunft auf der Hut, und verurteile niemand, ehe der Herr ihn gerichtet hat.’ “(Isaak der Thebäer 1)(Apo 422)
Abbas Theodor von Pherme formuliert grundsätzlich:
„Keine andere Tugend ist wie die: keinen verachten!“ (Theodor von Pherme 13)(Apo 280)
„Ein Bruder fragte den Altvater Hierakas: ‘Sage mir ein Wort, wie ich gerettet werden kann.’ Der Greis sprach zu ihm: ‘Bleib in deinem Kellion sitzen, iß, wenn du Hunger hast, trink, wenn du Durst hast, aber sprich nicht abfällig von einem anderen, und du wirst das Heil finden.’ “ (Hierakas 1)(Apo 399)
Hinzu kommen die vielen Hinweise darauf, daß der Mönch sich des Urteils enthalten soll, es ihm nicht zusteht über andere zu urteilen und sich damit auch über sie zu stellen. Ein Bruder fragte den Altvater Euprepios:
„ ‘Wie kommt die Gottesfurcht in die Seele?’ Der Altvater antwortete: ‘Wenn der Mensch demütig und arm ist und nicht urteilt, dann kommt zu ihm die Furcht Gottes.“ (Euprepios 5)(Apo 222)
Auch seinen Augen soll man nicht trauen, jegliche Vermutung vermeiden, auch wenn sie noch so offensichtlich scheint:
„Abbas Poimen sprach: ‘Es steht geschrieben: Was dein Auge gesehen hat, das bezeuge! (Spr 25, 7). Ich aber sage euch: Auch wenn ihr es mit Händen greift, so redet nicht davon. Ein Bruder wurde in dieser Sache genarrt. Er sah etwas, wie wenn ein Bruder mit einem Weibe sündigte. Stark angefochten, ging er hin und stieß mit dem Fuße, im Glauben, daß sie es seien, und sagte: ‘Hört endlich auf, wie lange denn noch?’ Und siehe: es fanden sich Getreidegarben! Deshalb sage ich euch: Auch wenn ihr es mit Händen greifen könnt, urteilt nicht!” (Poimen 114)(Apo 688)
Ähnliches gilt für die Zurechtweisung:
„Einige von den Vätern fragten den Altvater Poimen: ‘Wenn wir einen Bruder fehlen sehen, willst du, daß wir ihn zurechtweisen.’ Der Greis antwortete ihnen: ‘Was mich betrifft: wenn ich durch jene Gegend wandern muß und ich sehe einen fehlen, dann gehe ich an ihm vorbei und weise ihn nicht zurecht.’ “ (Poimen 113)(Apo 687)
Etwas differenzierter sieht das ein anonymer Abbas:
„Ein Bruder fragte einen Greis: ‘Wenn ich mit anderen Brüdern beisammenwohne und beobachte irgend etwas Unziemliches, soll ich dann mit ihnen darüber reden?’ Er antwortete: ‘Wenn sie älter sind als du oder gleichaltrig mit dir, dann wirst du mehr Ruhe haben, wenn du schweigst, denn je mehr du dich erniedrigst, desto sicherer wirst du sein.’ Der Bruder fragte weiter: ‘Was soll ich also tun, Vater, denn mein Geist verwirrt mich?’ Der Greis entgegnete ihm: ‘Wenn es dir schwer fällt, dann ermahne einmal demütig. Wenn sie dir aber nicht gehorchen, so gib dich vor Gott zur Ruhe, und er selbst wird dich trösten. Denn es ist gut, daß sich ein Diener Gottes vor dem Herrn erniedrigt und seinen eigenen Willen verläßt. Hab aber acht, daß deine Sorge sich auf Gott richte. Und dennoch, soviel ich sehe, ist es am besten zu schweigen, ja die Demut besteht für dich im Schweigen.’ “(V, 15, 76)(Apo 1067)
Auch wenn offensichtliches Versagen vorliegt, besteht keine Notwendigkeit des Urteilens oder Ermahnens, ganz im Gegenteil:
“Einige von den Alten kamen zum Altvater Poimen und sagten zu ihm: ‘Wenn wir beim Gottesdienst Brüder einnicken sehen, willst du, daß wir ihnen einen Stoß geben, damit sie in der Vigilie wachen?’ Er erwiderte: ‘Wahrlich, wenn ich einen Bruder einnicken sehe, dann leg ich seinen Kopf auf meine Knie und lasse ihn ruhen.’ ” (Poimen 92)(Apo 666)
Diese Haltung gegenüber dem Bruder, auch und gerade, wenn er Sünder ist, bildet die Grundlage eines sehr selbstständigen und selbstbewußten Umgangs der Väter mit der Sünde und mit Sündenvergebung.
Der Altvater Abbas Lot spricht die Vergebung nach geleisteter Buße zu, denn dem Alten wurde „die Gewißheit, daß der Herr die Buße des Bruders angenommen habe“.235 Dafür gibt es noch weitergehende Belege. Die Einsicht in begangene Sünde wirkt bereits sündenvergebend:
„Abbas Poimen wurde von einem Bruder gefragt: ‘Wenn ich einem kläglichen Fehler verfalle, dann zehrt mich mein Denken auf und klagt mich an: Warum bist du gefallen?’ Der Greis antwortete: ‘Zu der Stunde, da der Mensch einem Falle unterliegt und sagt: Ich habe gesündigt, ist er auf der Stelle abgetan.’ “ (Poimen 99)(Apo 673)
Abbas Poimen hält nichts von übertriebener Buße, das Entscheidende ist die Reue:
„Ein Bruder sagte zum Altvater Poimen: ‘Ich habe eine große Sünde begangen und will drei Jahre dafür Buße tun.’ Der Greis antwortete ihm darauf: ‘Das ist viel!’ Der Bruder erwiderte: ‘Aber dann ein Jahr lang?’ Der Greis darauf: ‘Das ist viel!’ Die Anwesenden meinten: ‘Vierzig Tage.’ Und wieder sprach der Greis: ‘Das ist viel. Ich sage euch: Wenn der Mensch aus ganzem Herzen bereut und sich vornimmt, die Sünde nicht mehr zu tun, dann nimmt ihn Gott auch bei einer Buße von drei Tagen wieder auf.’ “ (Poimen 12)(Apo 586)
Ähnlich Abbas Elias:
„Was vermag die Sünde, wo Reue ist? Und was nützt die Liebe, in der Überheblichkeit ist?“ (Elias 3)(Apo 261)
Ein äußeres Zeichen der Reue sind die hochgeschätzten Reuetränen236, denen als „Tränentaufe“237 sündenvergebende Wirkung zugesprochen wurde:
„Ein Bruder fragte den Abbas Poimen: ‘Was fange ich mit meinen Sünden an?’ Der Greis sagte: ‘Wer sich von seinen Sünden reinigen will, der reinigt sie durch Beweinen. Und wer Tugenden erwerben will, der erwirbt sie durch Weinen. Denn das Weinen ist der Weg, den uns die Schrift überliefert hat und auch unsere Väter, indem sie sagten: Weinet! (vgl. Lk 6,21; 23, 28). Einen anderen Weg als diesen gibt es nicht!’ “ (Poimen 119)(Apo 693)
Abbas Antonios betont, daß nicht nur die Reue wichtig ist, sondern auch der Glaube an die Vergebung, so daß man auch an der Reue nicht hängenbleiben darf:
„Der Altvater Pambo fragte den Altvater Antonios: ‘Was soll ich tun?’ Der Alte entgegnete: ‘Baue nicht auf deine eigene Gerechtigkeit und laß dich nicht ein Ding gereuen, das vorbei ist, und übe Enthaltsamkeit von der Zunge und vom Bauch.’ “ (Antonios 6)(Apo 6)
R.C. Bondi bezeichnet diese Position der Apophthegmata auf dem Hintergrund der Zeit als „truly radical“238. Diese Einschätzung geht allerdings sehr von der westlichen Entwicklung aus, die seit Ende des 2. Jahrhunderts die kanonische Kirchenbuße für überaus schwere Sünden (Glaubensabfall, Mord, Ehebruch), einmal im Leben, kennt. Dem Bekenntnis der Sünde vor dem Bischof und in allgemeiner Form vor der Gemeinde folgte eine oft sehr lange Bußzeit mit harten Bußauflagen, die den Pönitenten u.U. lebenslang belasteten. Nach Ablauf der Bußfrist erfolgte die Wiederaufnahme (Rekonziliation) durch die Handauflegung des Bischofs bzw. der Vorsteher. Auch hier war die Gemeinde durch Fürsprache beteiligt. Die Aussöhnung mit der Gemeinde bedeutete Aussöhnung mit Gott (pax cum ecclesia = pax cum Deo).239 Diese Praxis, die bis ins 6. Jh. vorherrschte, führte im Lauf der Zeit dazu, daß diese Buße erst möglichst kurz vor dem Sterben empfangen wurde. Die Buße verschwand damit weitgehend aus dem Leben der Gemeinde, den einzelnen bot diese Bußpraxis keine Hilfe mehr zur Überwindung ihrer Schuld innerhalb des Lebens. In diese Situation hinein fällt die Bewegung der iroschottischen Wandermönche, die die wiederholbare, geheime Buße einführten, die sich, zunächst heftig bekämpft (z.B. von der 3. Synode von Toledo 589), bis um 800 durchgesetzt hatte.
Die westliche Bußtheologie zeichnet sich durch ein stark juridisches Denken aus, Genugtuung für die Schuld muß geleistet werden, die Schuld muß abgezahlt werden, damit der Büßer wieder frei ist. Dem gegenüber denkt die östliche Tradition, in der die Väter der Apophthegmata stehen, stärker „therapeutisch“240 in ihrer Bußtheologie. Die Buße ist zur Heilung notwendig, vergleichbar mit der Arznei beim Genesungsprozeß eines Kranken.241
Dieser Vergleich ist bei Klemens von Alexandrien grundgelegt, der die Buße einerseits als lebenslangen Erziehungsprozeß und andererseits als Heilungsvorgang beschreibt. Was für den Leib die Krankheit, das ist für die Seele die Sünde, und so wie ein kranker Leib durch Diät, Arznei und chirurgischen Eingriff geheilt werden muß, so die Seele durch Mahnung, Tadel und überführende Bloßstellung, die geradezu einer Operation der seelischen Leiden(schaften) gleichkommt.242 Dabei übertrifft die Buße des Gnostikers, die Buße des gewöhnlichen Christen. Der Gnostiker hat das Wesen der Sünde durchschaut, und unter der Führung der Vernunft läßt er von der Sünde ab. Er ist von da an nicht nur selbst von der Sünde frei, sondern kann nun den übrigen Christen Sündenvergebung erwirken.243 Neben dieser höheren Auffassung von Buße teilt Klemens auch das allgemeine Bußverständnis der Kirche des Ostens. Er bejaht die einmalige Buße als die zweite Buße nach der Taufe als letzte Ausnahme, als unumkehrbare Umkehr.244
Hier deutet sich bereits eine Entwicklung an, daß es neben der offiziellen kirchlichen Buße die Möglichkeit der Vergebung durch verdiente und qualifizierte, erkenntnismäßig Fortgeschrittene, durch die Gnostiker gibt. Auf dieser Linie entwickelt sich das Bußverständnis des Mönchtums.
Origenes stellt die Buße in einen größeren Zusammenhang. Der Prozeß der Erziehung und Heilung betrifft nicht nur den Christen, Läuterung und Weg zur Vollendung ist vielmehr der Sinn des Weltprozesses im ganzen. Seit ihnen nach ihrem Fall Christus der Logos die Möglichkeit des Wiederaufstiegs zu ihrem Ursprung eröffnet hat, streben alle Geister in unaufhörlicher Bewegung ihrer Vollkommenheit zu. Gott hat jede vernünftige Seele auf ihr ewiges Leben hin bestimmt, die Freiheit der Wahl allerdings, zum Aufstieg oder Abgleiten liegt bei ihr selbst. Dabei wird sie durch Schaden klug, so daß sie nach ihrer Heilung verabscheuen wird, was ihre Gesundung gefährdet hat.245 Buße wird damit zur Voraussetzung des Fortschreitens auf dem Weg zum ewigen Ziel. So wie die Sünden verschiedene Grade haben, so sind auch die Mittel der Buße verschieden: Taufe, Martyrium und Almosen, dem Mitbruder Vergebung gewähren, den Sünder zur Umkehr bewegen, überschwengliche Liebe und tränenreiche öffentliche Buße vor der Gemeinde haben jeweils unterschiedlich sündentilgende Kraft.246 Es gibt eine gewisse Äquivalenz zwischen Sünde und Buße. Da das Volk Israel in der Wüste für seine vierzigtägige Verschuldung vierzig Jahre lang büßen mußte, hat man für die Sünde eines Tages ein Jahr Strafe anzusetzen.247 In jedem Fall ist es besser, die Bußstrafen in diesem Leben auf sich zu nehmen, um im künftigen Erquickung zu finden.248 Solange der Sünder sich weigert umzukehren, solange findet er keinen Zugang zur Stätte der Wahrheit, der Weisheit und des Logos, wo Jesus ist.249 Auch den Heiligen ergeht es so, sind sie doch nicht sündenlos, sondern Heilige und Sünder zugleich, die auch für ihre Sünden Buße tun müssen.250 Origenes hält die Möglichkeit der göttlichen Sündenvergebung dank der Güte des Logos und der überströmenden Menschenliebe Jesu für grundsätzlich unbegrenzt.251
Er sieht darin keinen Widerspruch zur Praxis der Kirche, schwere Sünder auszuschließen.252 Wollen sie in die Gemeinde zurückkehren, so müssen sie eine gründliche Veränderung an den Tag legen und längere Zeit Buße tun.253
Weitherzigkeit einerseits und Strenge andererseits sind für Origenes auch deshalb kein Widerspruch, weil er Vergebung Gottes und Aussöhnung mit der Kirche nicht einfach ineinssetzt. Die Schlüsselgewalt, d.h. die Vergebungsvollmacht, ist für ihn nicht an das kirchliche Amt als solches gebunden. Allein deswegen, weil jemand Bischof ist, besitzt er noch nicht die Vollmacht der Sündenvergebung.254 Der Amtsträger wird von Origenes dem Maßstab der geistlichen und ethischen Vervollkommnung unterworfen. Noch steht in der Gemeinde neben dem Bischof oder Priester, neben dem kirchlichen Amt, die geistliche Vollmacht des Seelenführers, dem sich der Sünder anvertrauen soll und von dem er Buße und Sündenvergebung erlangen kann.255
Damit ist das theologische Fundament für eine Entwicklung gelegt, die sich in den Apophthegmata widerspiegelt, daß der erfahrene Mönch, der Altvater, der Abbas selbstverständlich die Vollmacht der Sündenvergebung hat bzw. „weiß“, ob und wann Gott die Sünde vergeben hat.256
G.A. Benrath charakterisiert in seinem Artikel für die Theologische Realenzyklopädie die Entwicklung im Mönchtum mit folgenden Worten: „Die angestrebte Vollendung des christlichen Lebens in Weltflucht und Askese unter beständigem Achthaben auf sich selbst war im Mönchtum von Anfang an mit dem lebhaften Bewußtsein von der Realität der Sünde und von der Notwendigkeit der Buße verbunden. Das Mönchsleben wurde zum Leben in der Buße schlechthin. Schon die Mönchstracht war ein Bußgewand. Der Eintritt in den Mönchsstand wurde im 6. Jh. einer zweiten Taufe gleich geachtet ... . Trauer und Tränen über die Sünden sollten die Grundstimmung dieses Lebens sein. Denn so oft der Mönch im Ringen mit den Dämonen und im Kampf wider die Sünde und das eigene Ich unterlag, bedurfte er der Buße, die seine asketischen Leistungen, insbesondere das Beten und Fasten erst recht vervielfachen und verschärfen mußte.“257 Benrath hält sich offensichtlich sehr eng an die Studie von K. Holl258 und mag für seine Position einige Stellen als Beleg anführen können. Diese Darstellung des Mönchtums entspricht jedoch nicht den oben zitierten Stellen zur Bußpraxis etwa eines Abbas Poimen, der gerade an einer Minimierung der Bußleistung interessiert ist und darin auch nicht Origenes folgt, sondern eine wesentlich zugewandtere Haltung dem Sünder gegenüber einnimmt, die offensichtlich vollends der therapeutischen Funktion der Buße den Vorzug vor jeglicher Strafe gibt.
Die Formulierungen Benraths klingen sehr nach dem alten evangelischen Vorwurf der „Werkerei“. Die von ihm benannte sog. asketische Leistung wird innerhalb der Apophthegmata an vielen Stellen kritisiert. Daneben wird betont, daß das rechte Maß einzuhalten sei259 und daß nur die Demut und damit eine Haltung zur Vollkommenheit führt.260
Richtig an der Darstellung ist, daß die Buße im Mönchtum nicht auf schwere Sünden beschränkt blieb, sondern eine Grundströmung mönchischen Lebens bildete und von daher auch die Unterscheidung zwischen Todsünden und geringen Sünden mehr und mehr obsolet wurde.261 Jede Sünde ist als Ungehorsam Gott gegenüber aufzufassen, sie trennt von ihm. Eindrücklich beschreibt dies ein Logion über Abbas Ammoes:
„Der Altvater Poimen erzählte: Ein Bruder kam zum Altvater Ammoes, um von ihm einen Spruch zu erbitten. Er blieb bei ihm sieben Tage, aber der Greis gab ihm keine Antwort. Als er ihn fortschickte, sagte er zu ihm: ‘Geh und habe selber auf dich Acht! Denn zur Zeit sind meine Sünden eine finstere Wand zwischen mir und Gott.’ “262 (Ammoes 4)(Apo 133)
G.A. Benrath kommentiert diese Entwicklung: „Um so nötiger wurde die genaue Gewissenserforschung, die eingehende und wiederholte tägliche Beichte, die Fürbitte der Mitbrüder und die Lossprechung von der Sünde durch den Beichtvater. So wurde die Buße im Mönchtum auf eine Weise vertieft, welche die kirchlichen Maßstäbe überstieg.“263
Mir scheint, daß der Begriff der Buße hier in eine falsche Richtung weist, gerade vor dem Hintergrund der oben beschriebenen therapeutischen Auffassung von „Buße“ als lebenslangem Prozeß im Mönchtum. K. Holl spricht von den „acht Hauptsünden“ und spielt dabei auf die Lasterlehre des Evagrius Pontikus an, der als Urheber dieser Einteilung264 gilt.265 Bei Evagrius heißt die entsprechende Schrift in der Rezension A „Über die acht Geister der Bosheit“ und in der Rezension B „Über die acht Gedanken“266 und nicht „Über die acht Sünden“. Dieser Unterschied scheint uns gewichtig zu sein, denn die „Buße“ des Mönchtums bestand zum großen Teil nicht aus der Buße für die begangenen acht Hauptsünden und deren Ableitungen, sondern im Ringen mit den acht Gedanken, den Versuchungen und Lastern, um so zu Selbsterkenntnis und Reife zu gelangen. Laster „sind Verhaltensweisen und Zustände, die zwar in freien Entscheidungen wurzeln, aber dann den Menschen ausliefern an etwas, das ihn ganz und gar einnimmt, ‘fesselt’ und besitzt; ein unfreies, an etwas Übermächtiges Verfallen- und Ausgeliefertsein, d.h. ein Selbst- und In-der-Welt-Sein, das sich auf diese privativ veränderte Weise zum Grund der Welt verhält. ... Etymologisch hat Laster nichts mit Last oder Belastung zu tun. Gemeint sind daher ‘Leiden’ und nicht freie, sündige Entscheidungen. ... Es wird verkannt, daß es sich hier um Weisen des Verfallen- und Verfangenseins handelt, die nicht mehr jener freien Entscheidung des Willens unterliegen, die eine notwendige Voraussetzung des Sündigenkönnens ist.“267
Es ist also auf weite Strecken nicht ein klassischer Bußweg, wo für begangene Sünden gebüßt wird, sondern ein Weg der Selbsterkenntnis und Reifung ganz im Sinne eines „therapeutischen“ Verständnisses, das als lebenslanges Training Aufgabe ist und bleibt. Von daher erscheint in unserem Zusammenhang die Verwendung des Begriffs der Buße als Lebensbeschreibung der Mönche problematisch, auch wenn sich sicher da und dort solche Formulierungen und Anklänge finden.
Die Altväter differenzierten selbst zwischen Offenbarung der Gedanken und dem Sündenbekenntnis, wie das auch K. Holl wiederum für Basilius darstellt.268
„Ein Bruder fragte einst den Altvater Poimen: ‘Warum kann ich nicht offen mit den Altvätern über meine Gedanken reden?’ Der Alte antwortete: ‘Johannes Kolobos hat den Ausspruch getan: Über keinen freut sich der Teufel so sehr wie über jene, die ihre Gedanken nicht offenbaren.’ “ (Poimen 101)(Apo 675)
„Abbas Poimen erzählte: Der Abbas Paphnutios pflegte zu sagen: In alten Zeiten, als die Altväter noch lebten, ging ich zweimal im Monat zu ihnen - die Entfernung betrug zwölf Meilen - und legte ihnen mein ganzes Denken dar, und sie sagten nichts anderes als dies: ‘An welchen Ort du auch hinkommst, vergleiche dich nicht mit anderen, und du wirst Ruhe finden.’ “ (Paphnutios 3)(Apo 788)
„Wenn du von unreinen Gedanken bedrängt wirst, verbirg sie nicht, sondern offenbare sie sofort deinem geistlichen Vater und vernichte sie. Denn in dem Maß, in dem man seine Gedanken verbirgt, vermehren sie sich und werden stärker. Ähnlich wie eine Schlange, die aus ihrem Versteck entweicht und sogleich davonläuft, so verschwindet der Gedanke sofort, wenn er offenbart ist. Und wie ein Wurm das Holz, so zerstört der schlechte Gedanke das Herz. Wer seine Gedanken offenbart, wird sogleich geheilt, aber wer sie verbirgt, wird krank vor Stolz.“269
Bei Origenes findet sich in Auslegung von Ps 137,8 ein sehr drastisches Bild:
„Es könnte sonst der Fall eintreten, daß irgendein Laster oder Gedanke im Herzen zurückbleibt, im Lauf der Zeit erstarkt und immer mehr sich breitmacht und stärker wird ... und schließlich ist das Ende schlimmer als der Anfang. Das schaute der Prophet im Psalm voraus und mahnte: ‘Wohl dem, der die Brut packt und am Felsen zerschmettert’, d.h. die Brut Babels, unter der nichts anderes zu verstehen ist als die bösen Gedanken, die unser Herz ‘verwirren’ und ‘durcheinanderbringen’. Das bedeutete ja ‘Babel’. Diese Gedanken müssen wir, solange sie noch klein sind und am Anfang stehen, packen und am Felsen Christus zerschmettern und ihnen auf seinen Befehl hin die Kehle abschneiden, damit ‘nichts von dem, was Odem hat, übrig bleibt’. So wird an der einen Stelle (Ps 137,8b) der gelobt, der die Brut Babels packt und am Felsen zerschmettert und die bösen Gedanken sofort beim Entstehen tötet, an der anderen (Jos 11, 11) der, ‘der nichts überleben läßt, was Odem hat ‘.“270 „Wer gemäß der Lehre Christi die bösen Gedanken der Seele tötet, der zerschmettert die Brut Babels am Felsen.“271
Diese Auslegung wird tradiert u.a. von Johannes Cassian272. B. Steidle bringt dieses Zerschmettern der Gedanken an Christus in Zusammenhang mit der Offenbarung der Gedanken dem Abbas gegenüber und verweist auf die entsprechende Praxis im Mönchtum.273
Für Johannes Cassian ist die vollständige Eröffnung der Gedanken die zweite Stufe der Demut274, er hat sie in seinen Regeln für die Novizen in einem eigenen Kapitel behandelt:
„Damit sie leicht dahin gelangen [zur wahren Demut], werden die Novizen angeleitet, niemals Gedanken, die sie im Herzen verwirren, aus falscher Scham zu verbergen. Sobald solche Gedanken entstanden sind, sollen sie sie dem Älteren kundtun. Das Urteil darüber sollen sie nicht ihrem eigenen Unterscheidungsvermögen zutrauen, sondern in der Frage, was schlecht oder gut ist, auf das vertrauen, was die Prüfung des Älteren ergeben und festgestellt hat. So kann der böse Feind dem unerfahrenen und unwissenden Novizen nicht zuvorkommen. Mit keiner List kann er ihn täuschen, denn er sieht ja, daß er nicht mit seiner eigenen, sondern mit des Älteren Unterscheidungsgabe ausgerüstet ist. Er kann ihn auch nicht dazu bringen, die Einflüsterungen, die er gleich glühenden Pfeilen in sein Herz schießt, vor dem Älteren zu verbergen. Der recht schlaue Teufel kann den Novizen ja gar nicht anders betrügen und täuschen, als daß er ihn dahin bringt, aus Stolz oder Scham seine Gedanken nicht aufzudecken. Als ganz allgemeines und offenkundiges Zeichen teuflischer Gedanken gilt es bei den Mönchen, wenn man sich schämt, sie dem Oberen anzuzeigen.“275
In den Collationes führt Cassian dies weiter aus:
„Wirkliche Unterscheidungsgabe (discretio) erlangt man einzig durch wahre Demut.276 Die erste Probe auf Demut ist, daß man alles dem Urteil der Väter unterwirft, nicht nur, was man tut, sondern auch, was man ‘denkt’. Auf diese Weise vertraut man in keinem Punkt seinem eigenen Urteil, sondern dem Urteil der Väter, und erkennt einzig aus dem, was sie überliefern, was man als gut und was man als böse zu betrachten hat.
Aufgrund dieser Einrichtung weist eine wahre Discretio ihm, dem Jüngeren, nicht nur den rechten Weg, sondern bewahrt ihn auch unverletzt vor den Fallstricken und Hinterhältigkeiten des Feindes. Keiner wird nämlich getäuscht werden, der nicht nach eigenem Gutdünken lebt, sondern in allem sich an der Erfahrung der Väter orientiert. Und dem noch Unkundigen werden die schlauen Täuschungen des Feindes nicht schaden können, wenn er keinen der Gedanken, die in seinem Herzen aufsteigen, aus falscher Scham verhehlt, sondern alle dem reifen Urteil der Alten unterwirft und demgemäß solche Gedanken entweder verwirft oder zuläßt. Sobald nämlich ein böser Gedanke offenbart wird, verliert er seine Kraft. Und noch ehe Discretio ihr Urteil gesprochen hat, ist die scheußliche Schlange bereits aus ihrem finsteren, unterirdischen [d. i. unterbewußten] Schlupfwinkel durch die Kraft des Bekenntnisses ans Licht gezogen worden. Denn nur so lange knechten uns die schädlichen Gedanken mit ihrer suggestiven Kraft, als sie im Herzen verheimlicht werden.“277
Die Offenbarung der Gedanken geschieht damit, noch bevor es zu irgendeiner Tat kommt und gehört damit eher zur asketischen Übung im Sinne der Selbsterkenntnis278 und des Lernens des Umgangs mit sich und seinen Gedanken, Leidenschaften etc..279 Der „Ort“ für die Selbsterkenntnis ist das Herz des Menschen. Abbas Pambo sagt: „Wenn du ein Herz hast, kannst du gerettet werden.“280 Ein Herz zu haben, so H. Vlachos, meint, sein Herz zu finden, zu sich selbst zu finden, um dort, im Herzen, die Führung Gottes zu entdecken.281
Die Gedanken aufzuhalten ist töricht bzw. unmöglich, es geht darum, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ein Beispiel macht das deutlich:
„Ein Bruder kam zum Altvater Poimen und sagte: ‘Vater, ich habe vielerlei Gedanken und komme durch sie in Gefahr.’ Der Altvater führte ihn ins Freie und sagte zu ihm: ‘Breite dein Obergewand aus und halte den Wind auf!’ Er antwortet: ‘Das kann ich nicht!’ Da sagte der Greis: ‘Wenn du das nicht kannst, dann kannst du auch deine Gedanken nicht hindern, zu dir zu kommen. Aber es ist deine Aufgabe, ihnen zu widerstehen.’ “ (Poimen 28)(Apo 602)
Gedanken zu haben oder vielleicht besser, sie wahrzunehmen, wird etwa von Abbas Kyros ausdrücklich begrüßt, denn dies bewahrt vor der Tat bzw. gibt die Möglichkeit, Widerspruch zu erheben. Wer keine Gedanken hat, der tut die Sünde.
„Über unzüchtige Gedanken befragt, antwortete der Altvater Kyros, der Alexandriner, folgendermaßen: ‘Wenn du den Gedanken nicht hast, dann entbehrst du der Hoffnung. Bist du gedankenfrei, dann wendest du dich zur Tat. Das heißt: Wer in seinem Denken nicht gegen die Sünde kämpft und auch keinen Widerspruch erhebt, tut sie leiblich. Wo nämlich die Tat vorliegt, wird man von Gedanken nicht belästigt.’ Es fragte nun der Alte den Bruder: ‘Du hast es doch wohl nicht mit einem Weibe zu tun gehabt?’ Der Bruder antwortete: ‘Nein, aber meine Gedanken sind alte und neue Maler: meine Erinnerungen machen mir zu schaffen und: es sind Frauenbilder.’ Da sprach der Greis zu ihm: ‘Tote fürchte nicht! Aber die Lebenden fliehe und verlängere lieber deine Gebete.’ “ (Kyros)(Apo 445)
Hier wird ganz klar unterschieden zwischen dem Gedanken und der Tat, nur Letztere wird als Sünde verstanden. Ein anderes Beispiel:
„Altvater Theodor in der Sketis sagte: ‘Ein Gedanke kommt mir, verwirrt mich und nimmt mir die Ruhe, aber zur Ausführung vermag er nicht fortzuschreiten, doch hindert er mich in der Tugend. Ein wachsamer Mann aber schüttelt ihn ab und erhebt sich zum Gebet.’ “ (Theodor Sketiotes)(Apo 300)
Theodor differenziert hier klar: Der Gedanke beunruhigt, kommt aber nicht zur Ausführung, d.h. er führt nicht zur Sünde, behindert aber das Tugendwachstum. Das Beispiel macht weiter deutlich, daß dieses Offenbaren der Gedanken auch Gott gegenüber geschehen kann, denn als Mittel gegen diese Gedanken nennt Theodor das Gebet. Andere Apophthegmata nennen neben Gebet282 auch Fasten283 und regelmäßige Arbeit bzw. eine gute und maßvolle Ordnung des Tages284.
Eine andere Möglichkeit ist die „Gegenrede“ (Antirrhetikon)285, der Mönch beginnt einen Dialog mit seinen Gedanken, er setzt sich auseinander und nimmt die Gegenposition ein:
Abbas Poimen erzählte über den Altvater Isidor:
„Seine Gedanken sagten zu ihm: ‘Du bist ein großer Mensch!’ Und er sprach zu sich: ‘Bin ich etwa von der Art des Antonios? Oder bin ich vollkommen geworden wie Abbas Pambo? Oder wie die übrigen Väter, die das Wohlgefallen Gottes hatten?’ Sooft er sich das vorführte, hatte er Ruhe. Wenn aber die Feindschaft (der Dämonen) ihn mit Kleinmut erfüllen wollte, daß er nach all dem doch in die Strafe eingehen werde, sagte er zu ihnen: ‘Auch wenn ich in die Strafe geworfen werde, werde ich euch doch noch unter mir finden.’ “ (Isidor 6)(Apo 362)
Von einer ähnlichen Form, den Gedanken zu überlisten, erzählt Amma Theodora:
„Da war ein Mönch, den erfaßten, als er in den Gottesdienst gehen wollte, Frösteln und Fieberschauer, und im Kopf spürte er eine Spannung. Da sprach er zu sich: Siehe, ich bin krank, und es kann sein, daß ich sterbe. Ich will mich aufraffen, ehe ich sterbe, und in die Versammlung gehen. Mit diesem Gedanken bezwang er sich selbst und besuchte den Gottesdienst. Als dieser zu Ende war, hörte auch das Fieber auf. Wieder einmal hielt er diesem Gedanken stand und kam in die Versammlung und überwand den Gedanken.“ (Amma Theodora 3)(Apo 311)
Manche Gedanken müssen schließlich ausgehungert werden:
„Abbas Isaak befragte den Altvater Poimen über die schmutzigen Gedanken, und dieser erklärte dazu: ‘Es ist wie mit einer Truhe, die voller Kleider ist: Wenn einer sie drinnen liegen läßt, dann vermodern sie mit der Zeit. So ist es auch mit den Gedanken: wenn wir sie nicht mit dem Leibe ausfahren, dann verschwinden sie mit der Zeit oder verfallen.’ “ (Poimen 20)(Apo 594)
Auch die Nichtbeachtung kann hilfreich sein, Abbas Poimen rät:
„Wenn dir ein Gedanke kommt wegen der Notwendigkeit der leiblichen Bedürfnisse, und du sie einmal in Ordnung gebracht hast, und wenn er dann ein zweites Mal kommt, und du ihn wieder geordnet hast, und wenn er dann ein drittes Mal kommt, dann achte nicht darauf, denn es ist ein unfruchtbarer Gedanke.“ (Poimen 40)(Apo 614)
„Ein Bruder fragte einen Alten: ‘Warum drücken die Gedanken mich nieder? Oft mache ich ihnen Vorhaltungen, aber sie entfernen sich nicht, sondern bleiben da.’ Der Alte antwortete: ‘Wenn du ihnen nicht energisch zurufst ’Verschwindet’, werden sie nicht weggehen. Denn solange sie Ruhe haben, werden sie nicht gehen.’ “286
Diese Beispiele unterstreichen die Differenziertheit im Umgang mit den Gedanken und den Unterschied zum Sündenbekenntnis bzw. der Buße im engeren Sinn, wie sie oben dargestellt wurde.