Читать книгу Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar - Reiner Lehberger - Страница 10
Loki Glaser und der BDM
ОглавлениеDie Veränderungen im Schulbetrieb haben Loki Glaser und Helmut Schmidt in gleicher Weise erlebt. Beide haben aber auch ganz individuelle Erfahrungen in diesen ersten Jahren der NS-Diktatur gemacht. Hierzu lohnt sich eine eigene Betrachtung, da die Erlebnisse sehr besonders und dazu noch voneinander abweichend sind.
Aus einem schriftlich überlieferten Rückblick von Lokis Mutter ist bekannt, dass die Machtübernahme der Nazis in ihrer Familie mit großer Sorge und eindeutiger Ablehnung wahrgenommen wurde. »Wir beobachteten genau das Wachsen der Nazipartei und waren uns klar über die Auswirkungen, wenn sie ans Ruder kommt. […] 1933 sah so aus. Wir gingen abends durch den Hornerweg, eine Gruppe Jungvolk kam vorbei. Zwei junge Leute standen am Weg. Ein Befehl von einer schrecklich gemeinen Stimme, die Jungen standen still, ein paar ältere vom Jungvolk stürzten sich auf die beiden und verprügelten sie fürchterlich. Ein Befehl, ruhig zog das Jungvolk weiter. Später hörte ich, die beiden [Verprügelten] gehörten zum ›Reichsbanner‹«[39] – ein politischer Wehrverband, der sich zur Verteidigung der Weimarer Republik gegründet hatte.
Im gleichen Jahr musste die Familie bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnanlage der Glasers in der direkten Nachbarschaft Bekanntschaft mit der Brutalität der Nazis machen: »Der ganze Block ist umstellt, auf den Dächern mit Gewehren. Wo ein Rauch aus dem Schornstein der Küchenherde dringt, sofort Hausdurchsuchung, es könnte ja Belastungsmaterial vernichtet werden. Vorn im Haus wohnt ein jüdischer Arzt. Zweite Etage. Den hatten sie die Treppe runtergeworfen, und er brach sich einen Arm. Er ist zum Glück bald ins Ausland gegangen.«
Dass die Familie Glaser bei politischen Anlässen nicht wie andere Nachbarn die Hakenkreuzfahne aus dem Fenster flaggte, wurde wahrgenommen und mit politischem Druck beantwortet: »Der Blockwart klingelt. ›Warum haben Sie keine Flagge?‹ ›Mein Mann ist erwerbslos.‹ ›Es gibt billige.‹ Hermann brachte in weiser Voraussicht zwei Hakenkreuzfahnen, Stück fünf Pfennig, mit, und wir stecken sie aus dem Klofenster(!).«[40]
Beeinflusst durch die politisch wachen und dem Nationalsozialismus gegenüber offen feindselig eingestellten Eltern, blieben die NS-Parolen und jugendspezifischen Angebote lange ohne Wirkung auf die Schülerin Loki Glaser. Dabei war der Bund Deutscher Mädel (BDM) mit seinen Freizeitangeboten insbesondere für junge Mädchen attraktiv, konnten sie sich doch bei den Treffen in den BDM-Heimen oder bei Ausfahrten an den Wochenenden zumindest zeitweise der Vormundschaft eines strengen Elternhauses entziehen. Für Loki Schmidt traf aber auch das nicht zu. Die freie Atmosphäre ihrer eigenen Familie erzeugte keine Notwendigkeit, sich gegen die Eltern aufzulehnen oder vor ihnen zu fliehen. Eine Mitgliedschaft im BDM kam für Loki Glaser nicht infrage.
1935 veränderten sich die Umstände jedoch. In den ersten Tagen des April erhielten die Glasers ein amtliches Schreiben mit der Aufkündigung der Schulgeldbefreiung und der Mitteilung, dass Hannelore Glaser die Lichtwarkschule mit der Mittleren Reife, also am Ende des laufenden Schuljahrs, zu verlassen habe. Wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie sei mit einem späteren Studium der Tochter nicht zu rechnen, der weitere Besuch einer höheren Schule käme daher nicht mehr infrage.[41]
Die kämpferische Gertrud Glaser wollte dies nicht hinnehmen. Sie bat den Schulleiter Zindler schriftlich um Unterstützung und setzte sogar ein »Heil Hitler« unter ihre Bittschrift. Dies muss die Mutter einige Überwindung gekostet haben, denn der sogenannte »Deutsche Gruß« war in der Familie Glaser verpönt. Was nicht zu erwarten war, trat dennoch ein. Erwin Zindler versprach, sich für Lokis Verbleib einzusetzen, ließ den Klassen- und den Mathematiklehrer unterstützende Gutachten schreiben, erwirkte einen einstimmigen Beschluss der Klassenkonferenz und schickte, dies alles befürwortend, an seine vorgesetzte Schulbehörde. Allerdings geschieht dies nicht ohne Forderung nach Gegenleistung. Loki Glaser muss zwei Versprechen abgeben: Sie soll ihre »fremdländische« Bubikopffrisur ändern und sie soll in den BDM eintreten. Dazu muss man wissen, dass nur ein Drittel der Lichtwarkschüler 1935 in BDM und HJ organisiert war und die Schule damit weit unter dem Durchschnitt der Hamburger Schullandschaft lag; bei den höheren Schulen stand sie mit dieser Quote sogar an letzter Stelle.[42] Den neuen Schulleiter Zindler setzte dies gewiss unter starken politischen Druck.
Die Frisurfrage löste Loki sofort, indem sie sich einen Mittelscheitel zulegte. Der Eintritt in den BDM fiel ihr offenbar nicht so leicht. Die Familie diskutierte lange darüber, und erst am Ende des Jahres 1935 vollzog sie den Schritt. Schulleiter Zindler hatte jedoch bereits am 1. Juni 1935 an Hermann Glaser geschrieben, dass seine »auf das eindringlichste begründete Eingabe zugunsten Ihrer Tochter Hannelore Erfolg gehabt hat. Hannelore bleibt nach wie vor in unserer Schule.«[43]
Die Einreichung des Aufnahmeantrags in den BDM mag eine Überwindung gewesen sein, die Erleichterung über den Schulverbleib überwog dennoch. Lokis braune BDM-Uniform wird von Mutter Gertrud genäht, zumindest will die Familie nicht noch Schulden für den Kauf einer NS-Uniform machen. Wenig später sieht Hermann Glaser seine Tochter zum ersten Mal in ihrer Uniform – und muss sich mit Abscheu abwenden. Gut ein Jahr später, am 1.12.1936, ist für alle Jugendlichen in NS-Deutschland die Mitgliedschaft in HJ oder BDM Pflicht.
Einmal in der Horner BDM-Gruppe, findet sich Loki erstaunlich schnell in diese Jugendorganisation ein. Auf ihre Initiative hin wird das schmucklose Heim verschönert. Mit Nähen und Malen ist sie vertraut, das Ergebnis wird von allen gelobt. Ohnehin ist sie sportlich, hell im Kopf, weiß Aufgaben und auferlegte Pflichten zu erfüllen, auch das Gemeinschaftsgefühl gefällt ihr. Die Straßensammlungen und Hausbesuche sind ihr lästig, aber das geht den anderen Mädchen nicht anders. Bereits im Sommer 1936 wird sie zur »Kameradschaftsführerin« ernannt. Das bedeutet, dass sie von nun an eine BDM-Gruppe mit einem Dutzend jüngerer Mädchen bei der Vorbereitung und Durchführung der Treffen im Heim anleitet und für die Organisation von Ausflügen verantwortlich ist. Weiter gehören zu ihren Aufgaben auch die politische Schulung, das Einüben und Singen von NS-Liedgut. Als ein grundlegender politischer Sinneswandel kann dieses Engagement in der Horner BDM-Gruppe jedoch kaum bewertet werden, denn etwa zur gleichen Zeit lehnt sie in ihrer Schule die geforderte Teilnahme am Kleinkaliberschießen ab. Das war mit Sicherheit ein mutiger Schritt. Ihrem weiteren Aufstieg beim BDM stand das jedoch nicht im Wege: 1937 wird sie zur »Scharführerin« befördert.
Ihre »Karriere« als Sechzehnjährige im BDM wird ihr nach 1945 im Entnazifizierungsverfahren ernsthafte Probleme bereiten. Ob ihre gleichzeitige Aufnahme als Bratschistin in das BDM-Orchester der Anlass für die »Beförderung« zur Scharführerin war, ist unklar. Man habe viel klassische Musik gespielt, erinnert sie sich, gewiss aber auch das politische Repertoire der damaligen Zeit. Im BDM-Orchester bleibt sie über die Schulzeit hinaus aktiv und kann auf diese Weise während ihres Lehrerstudiums einer Erfassung im NS-Studentenbund umgehen. Ihre offizielle BDM-Mitgliedschaft endet Anfang 1938 mit ihrem Eintritt in den obligatorischen Reichsarbeitsdienst.
Zu den Gründen ihres Aufstiegs im BDM mochte sich Loki Schmidt in späteren Erinnerungen nicht äußern. Dabei wäre es zeitgeschichtlich aufschlussreich gewesen, wie eine Jugendliche, die eine politische Bewegung explizit ablehnt, sich in einer Jugendorganisation dieser Bewegung so aktiv einbringt, dass ihr verantwortliche Positionen übertragen werden.
Worüber sie hingegen später berichtete, war die Wirkung, die das Gemeinschaftserleben, die innere Dynamik einer Gruppe und die feierlichen Rituale auf einen jungen Menschen haben konnten. Besonders hob sie dabei die Wochenendausflüge in die freie Natur, im Kreis vieler Jugendlicher, hervor: »Einmal habe ich eine Nachtwanderung mit einem großen Feuer miterlebt. Alle saßen um das Feuer herum, einige alte Lieder von der bündischen Jugend wurden angestimmt. Ich muss bekennen, dass dieses Feuer, dieses große Feuer und das Singen im Dunkeln mich damals durchaus beeindruckt haben.«[44] Auch die feierliche Übergabe der an der Uniform zu tragenden Kordel als »Kameradschaftsführerin« hatte sie bewegt. Es waren solche, auf das Gefühlsleben abzielenden Rituale, die für junge Menschen anziehend waren und Bindungen schufen. Die NS-Jugendverbände setzten diese Mittel gezielt ein, und zwar mit Erfolg, wie auch bei der sechzehnjährigen Loki Glaser.
Eine starke psychologische Wirkung auf Loki hatte auch der Hitler-Besuch in der Hansestadt vom August 1934, für den der NS-geführte Senat eine aufwändige Vorbereitung betrieb. Die gesamte Stadt wurde beflaggt, an den Schulen wurde der Unterricht ausgesetzt und die Lehrer- und Schülerschaft an die von der Wagenkolonne passierten Straßen beordert. Loki Glaser, die mit ihren Schulkameraden in Dreierreihen an der Alsterkrugchaussee stand, hatte sich fest vorgenommen, weder zu jubeln noch den rechten Arm zum Hitlergruß auszustrecken, berichtete sie später: »Wir warteten und warteten. Dann ein Brausen in der Ferne, das langsam anschwoll. Plötzlich entdeckte ich, dass ich laut brüllte und winkte. Ich bekam einen Riesenschreck und schämte mich wie wohl nie zuvor in meinem Leben. Als ich meinem Vater abends davon berichtete, erzählte er mir von Massenpsychose: mein Verhalten sei nur menschlich gewesen. Aber die Scham blieb.«[45]