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Die Schulwahl

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Es war kein Zufall, dass die Schmidts und die Glasers ihre Kinder auf die Lichtwarkschule geschickt hatten. Die Schule lag schließlich nicht in der Nachbarschaft, ganz im Gegenteil. Beide benötigten für den Weg mit der Hochbahn und dann weiter zu Fuß jeweils mehr als eine Stunde pro Strecke.

In der Familie Glaser fiel die Wahl auf die Lichtwarkschule aus vornehmlich politischen und pädagogischen Gründen. Lokis Elternhaus war proletarisch: Mutter Gertrud war Schneiderin, ihr Vater Hermann Elektriker. Beide waren bildungsbewusst, politisch interessiert und engagiert.[6] Beide bezeichneten sich als Sozialisten und hatten sich für den Umsturz der Klassengesellschaft des Kaiserreichs eingesetzt. Gertrud Glaser hatte sich noch im November und Dezember 1918 an Versammlungen und Initiativen des Arbeiter- und Soldatenrats beteiligt, obwohl sie hochschwanger war und ihr erstes Kind in wenigen Wochen erwartete. Bei allen gesellschaftlichen Problemen, die der neue Staat hatte, waren die Glasers entschiedene Befürworter der Weimarer Republik und ihrer demokratischen Institutionen.

Als Grundschule hatten sie für ihre erstgeborene Tochter Hannelore die Schule Burgstraße ausgewählt, eine der vielen seit 1919 entstandenen Reform- und Versuchsschulen im Volksschulwesen der Hansestadt. Die Lehrerschaft an diesen Schulen fühlte sich als Vertreter eines neuen demokratischen Schul- und Erziehungswesens. Mädchen und Jungen lernten hier gemeinsam und wurden mit neuen Arbeitsformen wie Gruppen- und Partnerarbeit bekannt gemacht. Es gab ein vielfältiges kulturelles Programm sowie eine engagierte Mitarbeit der Elternschaft in den verschiedenen Bereichen des Schullebens.[7]

Mit dieser Schule identifizierten sich die Glasers so sehr, dass sowohl Gertrud wie auch Hermann Glaser zu den wohl aktivsten Eltern in der Schulgemeinde der Burgstraße gehörten. Sie gab Nähkurse, besuchte die Kulturveranstaltungen der Schule und verbrachte als Kochmutter jedes Jahr mehrere Wochen im Schullandheim der Burgstraße in Schönberg an der Ostsee. Hermann half als geschickter Handwerker bei der pädagogischen Ausstattung und allen Renovierungsarbeiten in der Schule und im Schullandheim. Darüber hinaus spielte er zusammen mit seinen Kindern im gemeinsamen Orchester aus Schülern, Lehrern und Eltern. Ein Leben ohne die Schule Burgstraße konnten sich die Eltern von Loki Glaser in den Jahren der Weimarer Republik kaum vorstellen. Es war selbstverständlich, dass auch Lokis drei Geschwister hier eingeschult wurden.

Mit der Lichtwarkschule hielt die Burgstraße enge Kontakte, denn unter allen höheren Schulen der Hansestadt war sie die einzige, die sich der Schulreform und der neuen Demokratie verpflichtet fühlte. Es war also ausgemacht, dass für die Glasers nur die Lichtwarkschule als weiterführende Schule infrage kam. Wäre da nicht das Schulgeld gewesen, das für den Besuch von höheren Lehranstalten wegen der angespannten Finanzlage der Stadt noch immer erhoben wurde. Doch zum Glück konnte auch hier die Arbeiterfamilie von den Errungenschaften der Weimarer Republik profitieren: Das Schulgeld war nämlich inzwischen sozial gestaffelt worden und wurde den Glasers sogar gänzlich erlassen. In der Kaiserzeit hätte Loki keine Chance für eine höhere Schulbildung bekommen! Denn Hermann Glasers Einkommen war gering, seine Frau musste mit Näharbeiten helfen, die Familie zu ernähren und die Miete zu bezahlen. Als Hermann 1931 arbeitslos wurde und für sein karges Arbeitslosengeld noch Arbeitseinsätze leisten musste, verschlechterte sich die Situation der Familie dramatisch. Gertrud musste von nun an jeden Tag von morgens bis abends mitverdienen, und so war es jetzt Lokis Aufgabe, neben der Schule den Haushalt zu machen und ihre drei kleineren Geschwister zu versorgen. Auch in der Weimarer Republik waren Anstrengung und Preis für eine höhere Schulbildung für Kinder aus ärmeren Verhältnissen noch beträchtlich.

Für Ludovika und Gustav Schmidt kann die Wahl der Lichtwarkschule für ihren Sohn Helmut nicht so eindeutig erklärt werden wie bei den Glasers. Gustav Schmidt, selbst ausgebildeter Volksschullehrer und inzwischen zum Leiter einer Gewerbeschule avanciert, hatte in seinem Leben einen beachtlichen sozialen Aufstieg durchlaufen.[8] Unehelich geboren, war er als Ziehsohn eines ungelernten Hafenarbeiters in sehr bescheidenen Verhältnissen groß geworden. Der Gustav Schmidt unbekannt gebliebene leibliche Vater, Ludwig Gumpel, war ein jüdischer Bankkaufmann, der den unehelichen Sohn gegen ein Entgelt in die Obhut der Familie Schmidt übergeben hatte. Nicht einmal der Name des leiblichen Vaters war in der Geburtsurkunde vermerkt worden.

Nach dem Besuch der Volksschule hatte Gustav Schmidt zunächst eine Lehre als Schreiber in einem Rechtsanwaltskontor absolviert und sich später durch den Besuch des dreistufigen Lehrerseminars zum Volksschullehrer fortbilden können. 1919 machte er die zweite Lehrerprüfung, nahm neben seinem Schuldienst ab 1922 aber noch ein Handelslehrerstudium auf, und unterrichtete seit 1925 als Studienrat an einer Handelsschule. Dass er dort einige Jahre später zum Schulleiter gewählt wurde, war der Höhepunkt einer bemerkenswerten Karriere. »All seine Energie [hatte dieser Mann] auf den beruflichen und sozialen Aufstieg verwendet«, so beschrieb Helmut Schmidt seinen Vater später.[9] Für Politik, wie bei Lokis Eltern, war da keine Zeit und wohl auch kein Interesse. Zumindest hatte der Sohn ein solches Engagement weder bei seinem Vater noch bei seiner Mutter beobachten können, und das obwohl sie aus der Familie eines Druckers und Setzers stammte, also aus einer Familie der sogenannten Arbeiteraristokratie. »Über Politik wurde nicht gesprochen. Mein Elternhaus war bewusst apolitisch, vielleicht sogar antipolitisch.«[10] Helmut Schmidt vermutete, dass sein Vater sich in der Weimarer Republik bei Wahlen für die nationalliberale Deutsche Volkspartei entschied, eventuell auch einmal für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, später Deutsche Staatspartei. Eine Nähe zu den Arbeiterparteien habe es beim Vater aber gewiss nicht gegeben.

Die Entscheidung, den ältesten Sohn für die Grundschuljahre auf die Knabenschule Wallstraße zu schicken, scheint aufgrund der Biographie Gustav Schmidts nachvollziehbar. Die Wallstraße war eine Ausbildungsschule für zukünftige Volksschullehrer und Gustav Schmidt somit gut bekannt. Hier wurde streng erzogen, auch mit körperlichen Strafen. Dass der Sohn Helmut nicht, wie er selbst einmal, Volksschüler bleiben sollte, kann man bei der Aufstiegsmentalität des Vaters mit Gewissheit annehmen.

Die Wallstraße war also aus der Sicht des Vaters eine gute Wahl, die Lichtwarkschule bot sich nach dieser Logik jedoch nicht gerade an. Auch der politische Ruf der Lichtwarkschule als eine Anstalt mit einer Vielzahl weit links stehender Lehrer dürfte ihm weniger gefallen haben. Warum also traf Gustav Schmidt diese Wahl, die so bedeutend für das Paar Loki und Helmut wurde, das fragten sich die beiden später im Rückblick auf ihr gemeinsames Leben. Eine mögliche Erklärung fanden sie bei einer mit den Eltern befreundeten Volksschullehrerin, die selbst an einer Reformschule unterrichtete. Vielleicht aber, so glaubten sie, war die Welt der klassischen Gymnasien Gustav Schmidt auch zu fremd, als dass er sich dort einen Platz und eine Ausbildung für den eigenen Sohn vorstellen konnte. Möglicherweise fürchtete er als Aufsteiger auch die dann notwendigen Kontakte zu den als sehr standesbewusst geltenden Oberlehrern der etablierten höheren Lehranstalten und er wählte aus diesem Grund die liberalere Lichtwarkschule. Genau ist das nicht mehr zu ergründen, aber immerhin wissen wir, dass die Schule einen guten Eindruck bei Helmuts Eltern hinterließ, denn zwei Jahre nach Helmuts Einschulung schickten sie auch ihren jüngeren Sohn Wolfgang an diese Reformanstalt.

Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar

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