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Helmut Schmidt und die HJ

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Während sich Loki in den ersten drei Jahren der NS-Zeit noch von der Jugendorganisation der Nazis fernhält, ist dies bei ihrem Schulfreund Helmut Schmidt anders. Bereits 1932 hatte er seine Eltern gebeten, in eine der Organisationen der bündischen Jugend eintreten zu dürfen. Die Gemeinschaft von Jugendlichen in einer festen Gruppe, vor allem aber Ausfahrten, Lager und äußere Insignien wie die »Kluft« hatten es ihm angetan. Sicher wird hier der Wunsch deutlich, in einem jugendlichen Leben einen Gegenpol zu dem distanzierten und kleinbürgerlichen Elternhaus zu finden. Die Eltern lehnten diesen Wunsch jedoch ab.

Im Jahr 1933 versucht er es erneut, nun will er in die HJ eintreten. Ganz offensichtlich ist das Werben des NS-Staates für einen Eintritt in die HJ bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen. Eine gewisse Verblendung habe es bei ihm als vierzehnjährigen Schulbuben schon gegeben, räumt er später ein. Wiederum sprechen die Eltern jedoch ein eindeutiges Verbot aus, eine Begründung geben sie dem Sohn allerdings nicht. Ende 1933 oder 1934 holt die Mutter das jedoch nach und vertraut dem Sohn das Familiengeheimnis des jüdischen Großvaters Gumpel an. Darüber verlangt sie von ihm Stillschweigen: »Du darfst mit niemandem über die Sache reden. Die Schulbehörde weiß nicht, dass Vati Jude ist; aber wenn die davon erfahren, dann werfen sie ihn raus«, erinnert sich Schmidt an dieses Gespräch. »Natürlich warf seit jenem Gespräch mit meiner Mutter im Jahre 1933 die Tatsache meiner jüdischen Abstammung einen Schatten auf mein Leben, zumal nach der 1935 bekannt gewordenen Nürnberger Rassengesetzgebung. […] So war seit jenem Gespräch mit meiner Mutter im Herbst 1933 für mich entschieden, dass ich innerlich kein Nazi werden konnte.«[46]

Wann immer dieses Gespräch genau stattgefunden hat – an anderer Stelle nennt Helmut Schmidt andere Daten –, dass es eine erhebliche Verunsicherung bei dem Jugendlichen auslöste, ist nachvollziehbar.

Ein Eintritt in die NS-Jugendorganisation erfolgte trotzdem, wenn auch nicht auf dem direkten Wege, sondern über seine Mitgliedschaft in der Ruderriege der Lichtwarkschule. Die zwölfköpfige Ruderriege der Schule war bereits Ende des Jahres 1933 in die neu gegründete HJ-Marine, später Marine-HJ (MHJ) genannt, zwangsüberführt worden. In einem Schreiben an den Dachverband heißt es: »Folgende Mitglieder haben sich bei uns zum Übertritt in die H. J.-Marine gemeldet: Helmut Schmidt, Wolfgang Tyra, Herbert Meinke und Julius Nowak.«[47]

Als Kapitän der Ruderriege wird Helmut Schmidt zum »Kameradschaftsführer« ernannt, 1936 sogar zum »Scharführer« der MHJ befördert. Damit war er verantwortlich für die Heimabende, in denen Theorie und Praxis des Ruderns und Segelns eine gewichtige Rolle spielten. Für die weltanschauliche Schulung standen Schulungshefte mit den einschlägigen Themen zur Verfügung: Rassengesetze, Entstehung der NSDAP, Geschichte des Ersten Weltkriegs. Ob und in welchem Umfang sie in der MHJ zum Einsatz kamen, bleibt offen. Bekannt ist, dass nicht alles, was die Nazis publizierten und propagierten, tatsächlich Eingang in Heimabende von HJ und BDM oder in den Schulunterricht fand.

Zackig und im Befehlston ging es aber schon zu in der MHJ-Gruppe von Helmut Schmidt, wie ein Mitschüler später zu berichten weiß. Aber es gab auch »Heimabende, an denen die ›Seemannschaft‹ ganz ohne weltanschauliches Beiwerk blieb«.[48] Das zackige Auftreten Helmut Schmidts, das ihn später auch in seiner Rolle als Politiker kennzeichnen sollte, wie auch seine aus fundierten Kenntnissen gespeiste Autorität, zeigen sich bereits hier in seinen Jugendjahren. Für seine Ernennung zum Scharführer der HJ waren diese Eigenschaften gewiss gewichtige Gründe.

Mit den Eltern gab es über seine Erlebnisse bei der HJ keinen Austausch, es scheint, dass sie das Thema vermeiden wollten. Auch über die Nazis und deren politische Ziele sprachen die Eltern kein Wort mit ihrem ältesten Sohn. Der Vater war inzwischen – wie gut die Hälfte aller Hamburger Schulleiter – aus seiner Funktion entlassen worden und nur noch als einfacher Lehrer tätig.[49] Er musste zudem immer befürchten, als »Halbjude« verfolgt zu werden. Das waren sicher Gründe für ihn, sich im häuslichen Kreis jedweder politischen Äußerung zu enthalten. Angst und Sorge um seine Stellung als Beamter waren übergroß. Nach 1945 habe er sich von dieser latenten Bedrohungssituation nie mehr richtig erholt, berichteten die Schmidts.

Für Helmut Schmidt stand bei der MHJ das Segeln im Vordergrund: »Das Beste an der MHJ war das Kutter-Segeln auf der Alster, das ich bald mit großer Begeisterung gegen das Rudern eintauschte.«[50] Kutter waren umgerüstete ehemalige Rettungsboote, schwer zu segeln, dafür aber praktisch nicht zum Kentern zu bringen. In einem Sommerlager der HJ an der Ostsee gelang es ihm, einen speziellen Seesportschein zu erwerben, der ihm die Führung eines Segelbootes im Küstenbereich und auf der Elbe erlaubte.

In der Schule und in seiner Freizeit vermied er die Zurschaustellung seiner HJ-Mitgliedschaft. Es kam ihm nicht in den Sinn, die Uniform in der Schule zu tragen, ein offenes Bekenntnis zur HJ oder den politischen Zielen des NS-Staates gab es von ihm nicht. Es mag verwunderlich klingen, aber der Schüler Helmut Schmidt hatte kein Problem damit, sich in der NS-Jugendorganisation MHJ zu engagieren und gleichzeitig aktiv am Lesekreis der Nazigegnerin Erna Stahl teilzunehmen.

Im Herbst 1934 erregte Helmut Schmidt in seiner MHJ-Einheit zum ersten Mal auch negatives Aufsehen: Ihm wurde »aufsässiges Verhalten« gegenüber dem Ruderwart am eigenen Bootssteg vorgeworfen. Konkret hatte er dem Ruderwart gegenüber den Hitlergruß unterlassen und dabei das von ihm – im Übrigen bis ins Alter – gern benutzte Fäkalwort benutzt. Der Fall zog weite Kreise, nur knapp entkam er einem Schulverweis.

Zwei Ereignisse im Jahr 1936 schärften seine Distanz zum NS-Staat: ein HJ-Lager bei Cuxhaven mit üblem Kasernenhof-Drill und stupider politischer Schulung sowie die Teilnahme am sogenannten »Adolf-Hitler-Marsch« der HJ zum Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg. Den Fußmarsch von Hamburg nach Nürnberg, immerhin über 500 Kilometer, hatte er als physische Herausforderung angesehen, der Parteitag selbst aber erregte seinen Widerwillen: »Ich empfand uns als missbrauchte Kulisse.«[51] In den Notizen aus der Gefangenschaft notiert er für das Jahr 1936: »Erstes Erkennen der Mißstände in Nazi-Deutschland. Krach in der HJ.«[52] Als Grund für den »Krach« erwiesen sich seine abfälligen Äußerungen auf dem Parteitag in Nürnberg über den Reichsjugendführer Baldur von Schirach.

Er selbst berichtete auch von einer weiteren Aktion im Versammlungsraum seiner HJ-Gruppe, die für Aufsehen bei den HJ-Oberen sorgte. Auf einer der Wände des Gruppenraums hatten sie in roten Buchstaben einen Vers aus dem Liederschatz der HJ aufgemalt: »Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein, solang’ sie noch lodert, ist die Welt nicht klein.« Eigentlich war hier nur ein von den HJ-Verantwortlichen anerkanntes Lied des NS-Komponisten Hans Baumann zitiert worden. Losgelöst aus seinem Kontext als NS-Kampflied hatte der Vers aber eine provokante Wirkung entfaltet und den HJ-Oberen missfallen. Im Dezember 1936 wird Helmut Schmidt als Scharführer abgesetzt und vom HJ-Dienst beurlaubt. Als einen bewussten politischen Akt wollte Schmidt sein damaliges Handeln jedoch nicht gewertet sehen: »Ich flog schlichtweg raus […] weil ich ein freches Mundwerk hatte und oft abfällige Äußerungen über dieses und jenes machte, was mir mißfiel.«[53]

Für die Klassenkameraden Loki Glaser und Helmut Schmidt bleibt als Gemeinsames festzuhalten, dass sie – jeweils aus sehr eigenen Beweggründen – Mitglied in den NS-Jugendorganisationen wurden, bevor dies für Jugendliche allgemein verbindlich war. Die Zugehörigkeit zu diesen Organisationen hatte bei ihnen jedoch nicht zu der von den Nazis angestrebten Identifikation mit der NS-Ideologie geführt. Von einer aktiven, politisch motivierten Auflehnung waren sie allerdings ebenso weit entfernt. Der Wille, möglichst unbeschadet durch die Schulzeit zu kommen, war für beide gewiss stärker gewesen. In dieser Haltung unterschieden sich die beiden kaum von der großen Mehrheit ihrer Altersgenossen.

Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar

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