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Die Junglehrerin: Gefordert und überfordert in der KLV

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Loki Glaser befand sich bei Kriegsausbruch im letzten großen Schulpraktikum ihrer Lehrerausbildung, dem sogenannten Landschulpraktikum, in dem kleinen Ort Hambergen am Rande des Teufelsmoors, unweit von Bremen. Hier sollte sie Erfahrungen mit dem jahrgangsübergreifenden Unterricht sammeln. Es handelte sich um eine kleine Schule mit nur zwei Klassen: eine für die jüngeren Schüler im Alter bis zu zehn Jahren, die zweite für die älteren. Loki selbst hatte bereits deutliche Vorstellungen davon, wie sie eine Klasse und ihren eigenen Unterricht führen wollte. Ihre pädagogische Arbeit wollte sie eher an dem selbst erlebten Unterricht in den beiden Reformschulen Burgstraße und Lichtwarkschule ausrichten, als an den Methoden, mit denen sie in ihrer Ausbildung an der »Hochschule für Lehrerbildung« bekannt gemacht wurde.

In einem guten halben Jahr standen die Abschlussprüfungen an, danach konnte sie umgehend mit einer Lehrstelle an einer Hamburger Volksschule rechnen. Eine zweite Ausbildungsphase wie das heutige Referendariat war für Volksschullehrer in jenen Jahren nicht vorgesehen. Und so stand sie nach einer Ausbildung von nur zwei Jahren, nur wenige Tage nach der letzten Prüfung Anfang Mai 1940, ganz und gar auf sich gestellt, als Klassenlehrerin mit voller Stundenzahl, vor einer Klasse mit 54 Jungen und Mädchen in einer Schule im Arbeiterstadtteil Horn. Diese Schule am Bauerberg war die letzte Schule der Stadt, in der aus organisatorischen Gründen noch koedukativ unterrichtet wurde. Allerdings hatte man ihr in der einstellenden Behörde klargemacht, dass sie einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP zu stellen hatte. Dem war sie nachgekommen. Die Notwendigkeit, endlich genug Geld für den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und der Wunsch, die Eltern unterstützen zu können, wogen schwerer als die Bedenken gegen einen solchen Antrag. Allerdings sollte es zu keiner offiziellen Aufnahme in die NSDAP kommen. Doch davon später.

Vom Krieg und seinen Folgen war für die Junglehrerin anfänglich nicht viel zu spüren. Das änderte sich jedoch, nachdem Hamburg am 18. Mai 1940 zum ersten Mal bombardiert wurde. Im September kam aus Berlin die Anordnung, Kinder und Jugendliche aus Gebieten, die Luftangriffen ausgesetzt waren, in sogenannte bombensichere Gebiete des Reichs zu verlegen. Die Aktion firmierte unter dem Namen »Kinderlandverschickung«, kurz KLV genannt. Allein in Hamburg waren bis 1945 mehr als 150000 Kinder und Jugendliche sowie etwa 3000 Lehrkräfte von der Verlegung in weit entfernte Regionen bis hin ins Sudetenland, nach Österreich und Ungarn betroffen.[66]

Hannelore Glaser, jung und unverheiratet, war eine der ersten aus dem Kollegium der Schule am Bauerberg, die für die KLV ausgewählt wurde. So reiste sie nach den Herbstferien mit einer aus verschiedenen Klassen zusammengesetzten Mädchengruppe zunächst nach Kulmbach im fränkischen Teil Bayerns, danach in das benachbarte kleine Örtchen Hutschdorf. Ein Jahr, von Oktober 1940 bis Oktober 1941, sollte diese erste Phase der Kinderlandverschickung dauern. Allerdings wusste Loki bei Reiseantritt weder, wie lange die Maßnahme dauern, noch wo genau sie mit ihrer Gruppe unterkommen und welche Unterstützung sie vor Ort bekommen würde. Es war eine Reise ins Ungewisse – und das mit dreiundzwanzig Mädchen im Alter von neun bis fünfzehn Jahren, für die Loki als Einundzwanzigjährige nun die alleinige Verantwortung hatte. Man kann nur ahnen, mit welch schweren Gefühlen die Junglehrerin diese Reise vom Hamburger Hauptbahnhof nach Kulmbach angetreten hat.


In der KLV in Franken, 1940/41. Loki Glaser (vorne l.) mit ihrer »Klasse«

Im hohen Alter beschrieb sie in einem Gespräch mit mir das Jahr ihres KLV-Einsatzes als das wohl schwerste Jahr ihres Lebens. Wir arbeiteten damals an ihrem Buch Mein Leben für die Schule, und sie hatte gerade die KLV-Zeit für sich noch einmal detailliert aufgearbeitet. Es schien, als ob all die Herausforderungen und schweren Situationen in ihr hochgekommen wären, und man konnte die damalige große Beklommenheit geradezu spüren – und das mehr als sechzig Jahre, nachdem sie dies alles erlebt hatte.

Als Loki im Oktober 1940 mit ihren Mädchen nach langer Fahrt Kulmbach erreichte, wurde schnell deutlich, dass für die Gruppe kaum etwas vorbereitet war. Die junge Hamburger Lehrerin musste sich um das meiste allein kümmern: von der Besorgung der Bettwäsche über die Organisation von Mahlzeiten für ihre Mädchen bis hin zum Nötigsten für den Unterricht. Erst als sie Anfang 1941 Unterkunft in den Räumen einer ehemaligen Trinkerheilanstalt im kleinen Hutschdorf fanden, entspannte sich die Lage etwas.

Der Plan für die KLV sah vor, dass die Kinder am Vormittag »normalen« Schulunterricht erhielten. Der Dienst der Lehrerin Loki Glaser endete aber natürlich erst abends, wenn alle Kinder zur Ruhe gekommen waren. Als einzige Begleitung hatte sie eine junge BDM-Führerin zur Seite, mit der sie Wanderungen, Spielzeiten, Singen, Lesungen und Alltagsbesorgungen plante und durchführte. Einen eigenständigen BDM-Dienst, der von den Organisatoren der KLV eigentlich für die Nachmittage vorgesehen war, gab es nach Loki Schmidts Schilderungen bei ihr nicht.

Der Unterricht in schlecht ausgestatteten Räumlichkeiten ohne hinreichendes Material und die faktische Ganztagsbetreuung der ihr anvertrauten Kinder führten die Junglehrerin bald an den Rand ihrer physischen und psychischen Kräfte. Sie war jeden Tag, sieben Tage die Woche, von morgens bis abends durchgehend gefordert. Die Mädchen, die zum Teil noch sehr jung waren, erlebten die Trennung von Eltern, Geschwistern und Freunden als äußerst schmerzvoll, alle hatten sie starkes Heimweh. Da Loki praktisch die einzige Erwachsene war, an die sich die Kinder wenden konnten, war sie nicht nur Lehrerin und Erzieherin, sondern übernahm bei vielen Mädchen auch die Rolle der Eltern und wurde im Krankheitsfall zur Pflegerin. Bei allen Alltagssorgen vom Stopfen und Nähen bis hin zur Beratung in der Pubertät, war sie immer die erste und oft einzige Ansprechpartnerin.

All diese Aufgaben und Pflichten waren für die am Ende der KLV-Zeit gerade einmal zweiundzwanzig Jahre junge Frau eine übermächtige Belastung. Obwohl sie abends todmüde war, konnte sie nur schlecht schlafen, hatte kaum eigene Zeit zur Erholung und merkte bald, dass die Kräfte schwanden. Der Arzt verordnete zwar Beruhigungsmittel, doch eine wirkliche Verbesserung bewirkten diese nicht. Dass sie keine erwachsene Ansprechpartnerin hatte, mit der sie ihre Sorgen teilen konnte, machte ihre Lage nicht einfacher. Fast ein wenig neidisch schaute sie auf einige der männlichen Kollegen in den anderen KLV-Gruppen der Region, welche ihre Ehefrauen an der Seite hatten. Einmal pro Monat traf sich die Kollegenschaft, dann aber war die Zeit zu kurz, als dass sie mit ihren Problemen in dieser Runde Hilfe finden konnte.

So fühlte sich Loki in dieser langen Zeit des KLV-Einsatzes überfordert und alleingelassen. Der einzige Lichtblick war der Briefaustausch mit ihrem Hamburger Schulrat Fritz Köhne, der ihr Verständnis entgegenbrachte und Mut zusprach.

Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar

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