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In der Kaserne: Einflüsse und Entwicklungen

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Nach dem Abitur hatte Helmut Schmidt im Frühjahr 1937 den Entschluss gefasst, sich vorzeitig für den Wehrdienst zu melden. Danach beabsichtigte er, ein Studium der Architektur aufzunehmen. Der Wehrpflicht vorzeitig nachzukommen, war bei damaligen Abiturienten nicht unüblich. 1935 hatten die Nazis – in grober Verletzung des Versailler Vertrags – die Wehrpflicht wieder eingeführt. Wenn man gewiss sein wollte, das Studium ohne Unterbrechung absolvieren zu können, bot sich die Ableistung der Wehrpflicht vor dem Studium als sinnvolle Entscheidung an. Dass mit dem Krieg alles anders kommen würde, konnte der Abiturient Schmidt nicht wissen.

Sein Wunsch, den Beruf des Architekten zu ergreifen, war durch eine Freundschaft mit dem Architektensohn Erwin Laage aus der Zeit der Marine-HJ beflügelt worden. Im Hause des Freundes hatte er den Vater, Richard Laage, kennengelernt, der ein in Hamburg bekannter Baumeister war und auch im kollegialen Austausch mit dem für die Hansestadt so wichtigen Städteplaner und Stadtbaumeister Fritz Schumacher stand. Es war Richard Laage, der Schmidt in seiner Heimatstadt Hamburg mit der Bauhausarchitektur, den Bauten von Fritz Schumacher und Fritz Höger bekannt und ihn auf deren Schriften aufmerksam gemacht hat.

Vor Antritt des Wehrdienstes musste er allerdings noch den für alle Abiturienten verpflichtenden halbjährigen Reichsarbeitsdienst absolvieren. Dieser führte ihn zum Deichbau an der Dove-Elbe und bedeutete sechs Monate harter körperlicher Anstrengung und primitiver nationalsozialistischer Schulung. Die von den Nazis erwünschte Identifikation mit der NS-Ideologie konnte in einer solchen Umgebung kaum aufkommen.

Im November 1937 begann seine Zeit als Wehrpflichtiger bei der Flak der Luftwaffe, nicht wie erhofft in Hamburg, sondern in Grohn in der Nähe von Vegesack, damals noch ein kleiner selbstständiger Ort vor den Toren Bremens. Hier lernte er Kameraden kennen, zu denen er auch nach dem Krieg weiterhin Kontakt pflegte. Ganz offensichtlich fühlte er sich in der neuen Umgebung – ganz auf sich gestellt und nach der Strenge des Elternhauses – befreit und gut aufgehoben. Der Kameradenkreis, die Vergnügungstouren ins benachbarte Vegesack, seit dem Sommer 1938 dann auch die Freundschaften zu einer Künstlergruppe im nahen Fischerhude und die ersten näheren Kontakte zu Frauen, wirkten emanzipierend auf den jungen Helmut Schmidt. Er hat später auf diese Zeit als die »unbeschwerteste Zeit der Jugend«[56] zurückgeblickt.


Helmut Schmidt, in seiner Zeit als Rekrut der Wehrmacht, 1938

Von herausragender Bedeutung für ihn wurden die Besuche im Hause der Künstlerin Olga Bontjes van Beek, Tochter des Malers Heinrich Breling. Den Kontakt hatte er durch seine Familie erhalten. Der Weg ins eigentlich nicht sehr weit entfernte Fischerhude war mühsam, aber die Anregungen, die er dort erhielt, waren ein Ausgleich für die öden Routinen des Kasernenlebens. Von Vegesack ging es mit der Bahn über Bremen nach Sagehorn, dann zu Fuß durch die Niederungen der Wümme nach Fischerhude. Schmidt erinnert den Weg dorthin noch nach fast achtzig Jahren minuziös: Der Fußweg betrug »ungefähr acht Kilometer, und man musste über einundzwanzig Brücken gehen«.[57]

Olga Bontjes van Beek und deren Freundeskreis von jungen Künstlern und Kulturinteressierten zählte Helmut Schmidt bis zu seinem Lebensende als »wichtigste Quelle geistiger Orientierung […] und zugleich in höherem Maße Heimat als Hamburg und mein Elternhaus«.[58]

Zu den jungen Leuten, die er hier kennenlernte, gehörte auch Cato, die Tochter von Olga Bontjes van Beek. Cato war eine engagierte Gegnerin des NS-Systems, ab 1940 beteiligte sie sich in Berlin an Widerstandsaktionen, wurde im September 1942 verhaftet und im August in Plötzensee hingerichtet. Auf dem Kurfürstendamm hatte Helmut Schmidt sie im Sommer 1942 zufällig wiedergesehen und war ihrer Einladung zu einer privaten Feier in einer großen Berliner Altbauwohnung gefolgt.[59] Die dort von den anderen jungen Leuten offen geübte Kritik am NS-System empfand er als leichtfertig und im hohen Maße gefährlich. An einem der nächsten Tage wollte er Cato warnen, hatte sie aber nicht erreicht. Es nicht noch einmal versucht zu haben, hat er sich später oft vorgehalten.

In Fischerhude galt Helmut Schmidts Aufmerksamkeit allerdings nicht so sehr den Gleichaltrigen, sie galt vor allem der damals etwa vierzigjährigen Malerin Olga Bontjes van Beek. Sie sei seine »heimliche, aber große Jugendliebe« gewesen, bekennt er später.[60] Die starke Anziehung, die von dieser Frau auf den jungen Schmidt ausging, wirkte lange nach in seinem Leben. Er hielt Kontakt, setzte sich nach seiner Kanzlerzeit für Ausstellungen ihrer Werke ein, sprach bei Ausstellungseröffnungen in Bremen und Magdeburg, und natürlich erstand er selbst mehrere ihrer Bilder. »In meinem Schlafzimmer hängen […] fünf Landschaften aus ihrer späteren Schaffensperiode, an denen ich mich jeden Morgen und jeden Abend erfreue«, hielt er in seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte 2015 für die Nachwelt fest.[61] Es ist sehr wahrscheinlich, dass seine für die Jahre 1938 bis Anfang 1941 geschilderte Abkehr und Distanz in Hinblick auf Loki Glaser mit seiner Schwärmerei für diese für ihn einzigartig gebliebene Frau zu erklären ist.

Helmut Schmidts Wehrdienst endete im Herbst 1939. Vorausschauend bemühte er sich im Laufe des Sommers um seine zukünftige Berufslaufbahn. Mit der Wehrmacht und dem Soldatenleben hatte er abgeschlossen, deshalb kam eine Zukunft als Berufssoldat für ihn nicht infrage.[62] Den ursprünglichen Wunsch, Architektur zu studieren, hatte er allerdings verworfen: Er wollte raus aus Deutschland und bewarb sich, vom Vater mit neuer blauer Jacke und grauer Hose ausgestattet, bei der Deutschen Shell für eine Volontärstelle in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Dort betrieb die Royal Dutch Shell, die Muttergesellschaft der deutschen Shell, zahlreiche Bohrfelder. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte Helmut Schmidt wohl im Ölgeschäft seinen Beruf gefunden.

Doch mit dem 1. September 1939 muss Schmidt diesen Plan aufgeben. Der Kriegsbeginn bedeutet für ihn, wie für alle damaligen Wehrpflichtigen, dass er gar nicht erst entlassen, sondern sofort als Soldat der deutschen Wehrmacht zum Kriegsdienst einberufen wird. Er nimmt es hin wie ein Naturereignis, glaubt zunächst sogar der deutschen Propaganda, dass Polen den Krieg ausgelöst habe.

Kriegsbedingt nimmt seine militärische Laufbahn eine schnelle Entwicklung. Bereits zum 1. Oktober 1939 erhält er eine Beförderung zum Wachtmeister der Reserve, ein Dienstgrad im Rang eines Feldwebels, und zum 1. Februar 1940 wird er zum Leutnant der Reserve ernannt. Dazu muss man wissen, dass das Verhältnis von Berufs- zu Reserveoffizieren in der Kriegszeit etwa 1 zu 10 ausmachte. Schmidt besitzt die von Offizieren erwarteten geistigen und körperlichen Voraussetzungen, sein Batteriechef bescheinigt »sicheres und gewandtes Auftreten« sowie »Fleiß« und »festen Willen«.[63] Bei solchen Voraussetzungen ist die Beförderung eines Abiturienten zum Reserveoffizier die Regel. Die Aufforderungen einiger Vorgesetzter, die Laufbahn eines Berufsoffiziers anzutreten, lehnt er hingegen während seiner Wehrmachtszeit mehrfach ab. Mit der Beförderung zum Offizier der Reserve (später Kriegsoffizier genannt) zeigt er sich hingegen sehr wohl einverstanden.[64]

Ende Oktober 1940 wurde Helmut Schmidt von seinem bisherigen Standort Bremen an das Berliner Reichsluftfahrtministerium zur Lehrinspektion der Flak in der Knesebeckstraße nahe dem Kurfürstendamm abkommandiert. Zwischenzeitlich war er aber auch in Stolpmünde an der Ostsee und in Bonn stationiert. Sein letzter Standort war ab dem Spätsommer 1943 Bernau im Nordosten der Hauptstadt Berlin. Seine wichtigsten Aufgaben waren die Verbesserung von Schießvorschriften für Flakgeschütze und deren Umsetzung bei der Ausbildung. Bald hatte er sich den Ruf eines anerkannten Experten geschaffen, einigen seiner Kameraden galt er gar als »König der leichten Flak«.[65]

Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar

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