Читать книгу Die Schmidts. Ein Jahrhundertpaar - Reiner Lehberger - Страница 17
4. »Ein Vorschuss auf die Ehe« Die ersten Jahre des Zusammenlebens
ОглавлениеDie Jahre von 1942 bis zum Kriegsende im Mai 1945 hat Helmut Schmidt in der Kriegsgefangenschaft als »Vorschuss« auf die im Frieden erst beginnende bürgerliche Ehe bezeichnet. Dieser »Vorschuss« beginnt genau genommen aber nicht mit der Heirat 1942, sondern erst 1943, als die beiden in Bernau zum ersten Mal in ehelicher Gemeinschaft zusammenleben. Bis dahin hatte sich das Ehepaar nur am Wochenende sehen können, und das auch nur ein- bis zweimal im Monat. Das erste Jahr ihrer Ehe unterschied sich also nicht wesentlich von der Zeit, in der sie verlobt waren. 1943 fanden sie schließlich eine Wohnung auf dem Gut Schmetzdorf, etwa vier Kilometer entfernt von seiner Kaserne im kleinstädtischen Bernau. Hier erst begann das tägliche Zusammensein der beiden Schmidts, hier bekamen sie ihr erstes Kind, das sie nach nur einem halben Jahr Lebenszeit auch hier wieder verloren.
Bis zu den Sommerferien 1943 arbeitete Loki Schmidt als Lehrerin der Hamburger Schulbehörde, Helmut Schmidt war im Stab in Berlin stationiert und hatte sich zu dem benannten Experten für die leichte Flak entwickelt. Zu seinen Aufgaben gehörte es inzwischen auch, auf Truppenübungsplätzen seine Kenntnisse in der Praxis weiterzugeben. Als er im Sommer 1943 für einige Wochen auf dem Truppenübungsplatz Rerik auf der Ostseehalbinsel Wustrow eingesetzt war, nutzte Loki Schmidt ihre Sommerferien, um ihn dort zu besuchen und verbrachte offenkundig unbeschwerte Ferientage im nahe gelegenen Kühlungsborn. Erst in der letzten Juliwoche, als Briten und Amerikaner mit den bis dahin schwersten Luftangriffen auf ihre Heimatstadt Hamburg begannen, stellten sich Sorge und Angst um die in Hamburg verbliebenen Familien ein.
Als »Operation Gomorrha« sind diese über mehrere Tage und Nächte andauernden Bombardierungen der Hansestadt in die Kriegsgeschichte eingegangen. Mehr als 35000 Menschen verloren ihr Leben. In der Nacht flog die britische Royal Air Force ihre Angriffe, am Tage griffen amerikanische Verbände Hamburg an. Beim zweiten Großangriff der Briten in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli entwickelte sich aus den Flächenbränden ein Feuersturm unermesslichen Ausmaßes. Es ist der Angriff mit den weitaus höchsten Opferzahlen. Die riesigen schwarzen Wolken der Brände konnte man selbst im weit entfernten Kühlungsborn noch sehen. Mit Hilfe der Eintragungen im Taschenkalender von Helmut Schmidt lassen sich dieses Geschehen und die Sorgen des Paars in diesen Tagen recht gut rekonstruieren. Kurz vor den ersten Angriffen auf Hamburg war Schmidt allein nach Berlin zu seiner Einheit zurückgefahren, Bombardierungen und Fliegerangriffe hatten seine Fahrt begleitet.
»26. Juli: Sturz Mussolinis. Auf Hamburg waren schwere Angriffe. Ich fahnde unruhig nach Loki und den Hamburger Angehörigen.
27. Juli: Die Angriffe auf Hamburg wiederholen sich. Noch keine Nachrichten.
28. Juli: Karte und Lebenszeichen von Vati vom Sonntag (25. Juli), Verabredung mit Loki [zwecks Nachreise nach Berlin].
29. Juli: Loki kommt nachts an, demoralisiert und erschöpft. Unterwegs wieder Fliegerangriffe. Ich rechne nicht mehr mit unserer Hamburger Wohnung.
30. Juli: Wir sind vergnügt und freuen uns, daß wir leben.
31. Juli: Ich fahre nach Hamburg. Die Katastrophe ist unvorstellbar. Wiedersehen mit meinen Eltern … 5 Stunden durch die Trümmerstätten. Die noch angetroffene Bevölkerung zeigt einen guten Geist.« [78]
Wie sich in den nächsten Tagen und Wochen herausstellt, sind zwei nähere Verwandte aus der Großfamilie der Glasers bei den Bombardierungen ums Leben gekommen, alle anderen haben die Katastrophe überlebt. In beiden Familien haben jedoch alle ihre Wohnungen verloren, auch das junge Ehepaar Schmidt. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juli hatte die Royal Air Force Barmbek in Schutt und Asche gelegt, auch in der Gluckstraße. Alles, was Loki und Helmut Schmidt lieb und teuer war, ist vernichtet: die selbst gemalten Bilder des Vaters und die von Loki, Fotos, Briefe, Dokumente, Bücher und die gesamte Wohnungsausstattung. Mit all dem verloren sie – wie so viele Hamburger – auch einen Teil ihrer eigenen Geschichte und ihrer Identität.