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Drohende Gewitterwolken
ОглавлениеSelten zuvor und danach ist ein deutscher Botschafter unmittelbar nach Eintreffen an seinem Dienstort mit so dramatischen Entwicklungen konfrontiert worden wie Franz von Papen ab dem 27. April 1939 in Ankara. Lediglich 20 Tage zuvor hatte er sich von Ribbentrop endgültig überzeugen lassen, den Posten in der Türkei anzutreten. Die Zeit bis zur Abreise ließ ein vorbereitendes vertieftes Aktenstudium und intensive Gespräche mit Experten kaum zu. Gleich nach Ankunft erfuhr Papen vom türkischen Außenminister und auch vom Staatspräsidenten deren große Besorgnis über den kurz zuvor erfolgten Einmarsch der Wehrmacht in Prag sowie über die Besetzung Albaniens durch italienische Truppen.
Das Deutsche Reich hatte mit der Annexion des Sudetenlands und der ‚Rest-Tschechei‘ sein Interesse an einer Expansion Richtung Südosten, Italien mit dem Albanienschlag seine Mittelmeerambitionen eines mare nostrum unterstrichen. Die Interessen der Türkei waren aus Sicht ihrer Führung in hohem Maße bedroht. Nicht ohne Grund gab die Türkei im Mai 1939 eine Beistandserklärung mit England und einen Monat später mit Frankreich bekannt. Hitlers Reichstagsrede Anfang des Jahres hatte den Türken das enge Verhältnis des nationalsozialistischen Deutschland zum faschistischen Italien verdeutlicht. Sie mussten von Absprachen zwischen den Diktatoren ausgehen.
Der deutsche Botschafter in Ankara sah die Türkei dagegen nur einseitig durch Italien und dessen Albanienfeldzug bedroht. In Papens laufender Berichterstattung an das Auswärtige Amt über Gespräche mit der türkischen Führung sowie in späteren Zeugnissen in Nürnberg und in den Memoiren gibt er keine Hinweise auf türkische Besorgnisse als Folge der deutschen Okkupation der ‚Rest-Tschechei‘, geschweige denn des ‚Anschlusses‘ Österreichs. Im Außenpolitischen Jahresbericht der Botschaft für das Jahr 1939 wird andererseits bei maßgeblichen türkischen Politikern durchaus Beunruhigung festgestellt: „Auch in den bisher auf eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland eingestellten türkischen Kreisen glaubte man in der Angliederung Böhmens und Mährens eine Abkehr von der bisherigen ethnographisch begründeten deutschen Revisionspolitik und in der Proklamation des Grundsatzes vom ‚Lebensraum‘ einen Rückfall in den Vorkriegsimperialismus erblicken zu müssen.“37 Selbst wenn der Botschafter bis Jahresende 1939 dreimal bis zu mehreren Wochen fern der Türkei in Deutschland weilte, werden ihm die türkischen Besorgnisse nicht vorenthalten geblieben sein.
Vom Antrittsgespräch mit Außenminister Şükrü Saracoğlu berichtete der Botschafter seinem Amtschef Ribbentrop lediglich, dass die Türkei großes Misstrauen in die italienischen Mittelmeerpläne habe. Seinen Bericht über das Gespräch mit Staatspräsident İsmet İnönü konzentrierte er auf die ‚Führerrede‘ am Tag zuvor, also die Hitler-Rede über die europäische Monroe-Doktrin, die bei Inönü angeblich den „Eindruck selbstbewusster Stärke und entschiedener Friedensbereitschaft hinterlassen“ habe. Erst in seinen Memoiren billigt Papen dem Staatspräsidenten zu, dass „die Aggression in Albanien im Zusammenhang mit der Tatsache der jetzt so engen deutsch-italienischen Freundschaft die schwersten Besorgnisse ausgelöst“ habe.38 Gutgläubigen Memoirenlesern lässt er İnönü bekunden, dass dieser „meine Friedensversicherungen mit großer Befriedigung“ entgegengenommen habe, diese aber durch Taten Italiens bewiesen werden müssten.
Seine partielle Wahrnehmung der türkischen Besorgnisse veranlasste Papen der „Wahrheit“ gemäß sofort, Hitler und Ribbentrop telegrafisch aufzufordern, „starken Druck auf die Italiener auszuüben, um sie zu einer Verringerung der in Albanien stationierten Kräfte zu veranlassen.“39 Diesen Vorschlag kann man indessen nur in Unkenntnis des Papen-Memorandums von Mitte Mai 1939 als den Tatsachen entsprechend betrachten. Diesem ist mit Papens ‚Brückenkopf‘-Vorschlag eine denkbar andere Empfehlung zu entnehmen: „Die Besetzung und der militärische Ausbau Albaniens als ‚Brückenkopf‘ ist für beide Achsenmächte von großem Wert, da von hier aus die ‚Neutralität‘ der Balkanstaaten auf alle Fälle sichergestellt werden kann. Auch kann die Schaffung einer englischen Operationsbasis in Griechenland mit Gegenmaßnahmen beantwortet werden. Ferner kann die Schließung der Dardanellen durch eine schnelle Operation über Saloniki erzwungen und damit Russland aus dem Mittelmeer, wie England aus dem Schwarzen Meer ausgeschaltet werden.“40
Papen gab hiermit militärstrategische Empfehlungen zum Besten, die dreieinhalb Monate vor Beginn des 2. Weltkriegs bei den verantwortlichen Politikern und Militärs in Berlin Erstaunen hervorgerufen, aber auch Interesse gefunden haben mussten. Die Türkei ihrerseits hätte in Kenntnis dieses ‚Brückenkopf‘-Szenarios größte Besorgnisse haben müssen, hatte sie doch erst im Sommer 1936 im Meerengen-Abkommen von Montreux wieder volle Souveränität über den Bosporus, das Marmarameer und auch die Dardanellen erlangt.
Das zehnseitige Mai-Memorandum hatte in Ankara im Wesentlichen der gut ausgestattete Militärattachéstab der Botschaft verfasst. Papen hielt das Werk für so bedeutend, dass er mit ihm bereits Mitte Mai 1939, nicht einmal drei Wochen nach Ankunft in Ankara, nach Berlin reiste. Im Nürnberger Prozess hob er bedeutungsvoll hervor: „Ich bin zurückgekommen von der Türkei, habe Hitler gesagt in einem Bericht, was man tun muss, um den europäischen Frieden zu erhalten. Ich habe dieses Memorandum auch an Keitel, Brauchitsch und Halder gegeben.“41 Wilhelm Keitel war Chef des mit logistischen Aufgaben betrauten Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und Hitler direkt unterstellt, Walther von Brauchitsch Oberbefehlshaber des Heeres und später Leiter der militärischen Operationen des Heeres in Polen, Frankreich und in der Sowjetunion. Franz Halder war Generalstabschef und leitete sowohl den Balkanfeldzug wie den Überfall auf die Sowjetunion. Papen war mit Halder gut vertraut und traf ihn wiederholt. So auch vor dem Feldzug gegen die Sowjetunion.
Knapper noch als später den Memoirenlesern wollte Papen bereits den Nürnberger Anklägern sein Rechtfertigungsszenario zu Albanien vermitteln. Er behauptete, im Memorandum ausgeführt zu haben, „dass es notwendig sei, um die Lage im Südostraum zu halten, dass Italien sofort tatsächliche Versprechungen gibt, das heißt, Zurückziehen seiner militärischen Kräfte aus Albanien und eine Regelung seines Verhältnisses mit der Türkei, um dort jeden Zweifel an der Aufrichtigkeit der italienischen Politik zu beseitigen.“42 Papen gab an, „ein Original des Dokuments“, also seines Memorandums, nicht mehr zu besitzen und ging damit sicher von der Unkenntnis über seine ‚Brückenkopf‘-Empfehlung aus. Da der Gerichtshof ihn nicht mit seinen konträren Aussagen im Mai-Memorandum konfrontierte, traf seine Annahme offensichtlich zu.
Papens behauptete Bedeutung des Memorandums macht seine ‚Gedächtnislücken‘ beim Albanienüberfall wenig nachvollziehbar. Das Memorandum liegt in den Akten des Auswärtigen Amts vor. Am 20. Mai 1939 sandte Papen es aus der Berliner Lennéstraße 9 an Staatssekretär Ernst von Weizsäcker in der Wilhelmstraße mit den Worten: „Lieber Herr von Weizsäcker. Anliegend das Memorandum, das ich dem Herrn RAM für seine Unterhaltung mit dem Grafen Ciano übersandt habe. Mit herzlichem Gruß und Heil Hitler! Ihr aufrichtig ergebener Papen“.43 Reichsaußenminister (RAM) von Ribbentrop war Papen zufolge keineswegs über das Werk erfreut: „Dieses Memorandum führte zum ersten Krach mit dem Außenminister.“44
Grund hierfür war der Umstand, dass Papen dem in Berlin weilenden italienischen Außenminister Galeazzo Ciano, dem Grafen von Cortellazzo und Buccari, seine Erkenntnisse und Empfehlungen direkt vorgetragen hatte. So empfahl Papen dem Grafen laut „Wahrheit“ unter anderem, die von Italien gehaltenen Dodekanes-Inseln Castello Rosso und Castello Risma der Türkei zu überlassen, ein Vorschlag, der Ciano wenig begeistern konnte. Ribbentrop seinerseits habe Papen gefragt, wer eigentlich für die Außenpolitik zuständig sei – er oder der Botschafter. Dieser habe sein Gespräch mit Ciano verteidigt und Ribbentrop seinen Rücktritt angeboten. Es war das erste von mehreren Rücktrittsangeboten, die laut Papen noch folgen sollten.
Das nächste Mal war Papen im August 1939 in einem entscheidenden Moment wieder in Deutschland. Trauriger Hintergrund war der Tod seiner Mutter. Papen nahm die Beerdigung zum Anlass, um Hitler am 20. August in Berchtesgaden aufzusuchen. Unterwegs konnte er zahllose Marschkolonnen feststellen: „Die Mobilmachung schien in vollem Gange.“45 – allerdings noch nicht gegen die Sowjetunion. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit weihte Hitler Papen in den bevorstehenden Pakt mit Stalin ein: „Ich atmete auf und beglückwünschte Hitler zu diesem meisterhaften diplomatischen Erfolg“, stellt er sodann fest, bevor er Hitler Bismarcksches Format zugesprochen haben will: „Die Rückkehr zu dem Bismarckschen Rezept normaler Beziehungen zu Russland, sagte ich ihm, werde die mitteleuropäische Stellung des Reiches viel stärker machen, als es jemals durch einen Griff zu den Waffen möglich sei.“ Immer habe er es auch für falsch gehalten, „weltanschauliche Gegensätze mit dem mächtigen Nachbarn zu einer Todfeindschaft mit dem russischen Volk ausarten“ zu lassen.
Die offensichtlichen Planungen für die Mobilmachung werden ihm die Generäle Keitel oder Halder wenige Tage später in Berlin mitgeteilt haben. Sie waren am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg Teilnehmer an einem Treffen Hitlers mit hochrangigen Militärs. Historisch nicht eindeutig geklärt sind einzelne Formulierungen der damaligen Ansprache Hitlers angesichts unterschiedlicher schriftlicher bzw. mündlicher Aussagen von Teilnehmern. Gesichert scheint aber Hitlers Ankündigung, dass es früher oder später zu einer Auseinandersetzung mit Polen kommen müsse und dass er den Entschluss bereits im Frühjahr 1939 fasste. Alle bekannten Versionen bestätigen darüber hinaus Hitlers Ausspruch, er werde einen Kriegsanlass zum „Vernichten der lebendigen Kräfte Polens“ fabrizieren. Auch werde die Geschichte niemanden nach den Gründen fragen.46