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Als Nora Bentheim am Sonntagmittag die Tür zu ihrem Häuschen in Schönermark bei Gransee aufschloss, war sie abgehetzt. Sie hätte längst zu Hause sein müssen, doch wegen des Sturms, der Sonnabendnacht über Brandenburg hinweggefegt war, hatte sich der ICE aus Hamburg verspätet, woraufhin sie ihren Regionalzug verpasst hatte. Nun drohte ihr gesamter Tagesplan durcheinanderzugeraten. Als wäre das bisherige Wochenende nicht schon anstrengend genug gewesen!

Sie stellte ihren Koffer im Flur ab, hängte ihren Mantel an die Garderobe und holte ihr Handy aus der Hosentasche. Kein Anruf, keine SMS, nichts. Sie scrollte noch einmal zu der Nachricht, die sie in der Früh verschickt hatte. »Guten Morgen, mein Schatz. Mama kommt zum Bus. Freue mich!!«

Es war seltsam, dass Emma nicht wenigstens ein Smiley gesendet hatte.

Sie schleppte ihren Koffer in den ersten Stock ins Schlafzimmer, warf ihn aufs Bett und begann, ihn auszupacken. Vermutlich hatte sich Emma über die Nachricht geärgert.

»Das ist voll uncool, Mama«, hatte sie vor der Abreise geschimpft. »Du brauchst mich nicht abzuholen. Ich fahre mit dem Fahrrad!«

Doch Nora wollte Emma am Bus wenigstens begrüßen. Sie konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen, und das sollte auch mit einem persönlichen Empfang gewürdigt werden.

Sie nahm ihre Seminarunterlagen aus dem Koffer und stapelte sie auf dem Bett, um sie später zu ihrem Schreibtisch zu bringen. Dann legte sie die noch sauberen Kleidungsstücke sorgfältig in den Schrank und begab sich ins Bad, um die Schmutzwäsche in einen Korb zu werfen. Es blieben ihr noch weniger als zwei Stunden, um den Hund abzuholen, eine Runde im Wald zu joggen und das Essen vorzubereiten. Thailändische Gemüsepfanne mit Tofu, Emmas Lieblingsgericht, alles frisch zubereitet selbstverständlich. Seit ihre Tochter Vegetarierin geworden war, hatte sich auch Nora umgestellt. Am Anfang war es ihr zwar schwergefallen, doch sie hatte sich an die neue Kost gewöhnt und fühlte sich seitdem wesentlich fitter.

Sie schlüpfte in ihre Sportklamotten und band ihre Laufschuhe zu. Bevor sie das Haus verließ, sah sie noch einmal auf ihr Handy. Keine Nachricht auf dem Display.

Als sie eine Stunde später vom Joggen zurückkam, perlte Schweiß auf ihrer Haut.

Max drängelte sich vor ihr in den Flur. Die freundliche ältere Nachbarin, die ihn zwei Tage lang beaufsichtigt hatte, hatte ihn bestimmt wieder so gemästet, dass er den Waldlauf vermutlich nötiger gehabt hatte als Nora, die sich einfach nur ein strapaziöses Wochenende von der Seele hatte rennen müssen.

Bevor sie dem Hund einen randvoll gefüllten Wassernapf hinstellte, schaute sie ein weiteres Mal auf ihr Handy. Kein Anruf, keine Nachricht, nichts.

Sie musste schmunzeln. Vermutlich war Emma überhaupt nicht in der Lage, eine SMS zu schreiben, weil ihr Akku leer war und es im Bus keine Möglichkeit gab, ihn aufzuladen. Sicher, Nora hätte das mit einem Anruf überprüfen können, aber die nette Dame von der Erziehungsberatung hatte ihr empfohlen, loszulassen.

»Ihre Tochter will ihre eigenen Wege gehen«, hatte sie gesagt. »Das ist auch völlig normal bei einer Fünfzehnjährigen!«

Nora beruhigte sich damit, dass Emma nichts passiert sein konnte, denn schließlich war sie auf einer Klassenfahrt in Brandenburg und nicht in Somalia. Im Falle eines Unfalls hätte irgendjemand angerufen; die Lehrerin oder jemand von den Eltern, die als Begleitpersonal mitgefahren waren. Ihre Sorgen waren also völlig unbegründet. Sie waren Ausdruck einer klammernden Mutter und einfach lächerlich.

Sie streifte ihre Sportklamotten ab, ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel, der über dem Waschbecken hing.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen!«, sagte sie zu sich selbst. »Lerne loszulassen! Irgendjemand hätte dich angerufen, wenn etwas passiert wäre. Emma geht es ausgezeichnet.«

Sie fühlte sich augenblicklich besser, stieg unter die Dusche und stellte das warme Wasser an. Es kribbelte am ganzen Körper. Wie gut, dass sie gelaufen war. So hatte sich die Anspannung des Wochenendes gelöst.

Nachdem sie sich angezogen und das Gemüse für das Abendessen geschnippelt hatte, stieg sie in ihren weißen Renault Twingo. Im Rückspiegel sah sie Max, der auf dem Polster saß und vor Aufregung hechelte. Er würde im Auto bleiben müssen, denn er war ein Golden Retriever und zu groß für Emma. Wenn er an ihr hochsprang, schaffte sie es kaum, das Gleichgewicht zu halten.

Bevor sie den Motor startete, schaute sie noch einmal auf ihr Handy, aber es war noch immer keine Nachricht gekommen.

Sie überlegte einen Moment, dann entschied sie sich, anzurufen. Mit Klammern hatte das nichts zu tun. Sie wollte Emma nur mitteilen, dass sie in wenigen Minuten am Bus sein würde. Nachdem sie ihre Nummer gewählt hatte, schaltete sich sofort die Mailbox an.

»Hey! Kann grad nicht ans Telefon gehen. Einfach losquatschen. Ich ruf zurück.«

Vermutlich war der Akku tatsächlich leer. Sie musste lachen. War es möglich zu pubertieren, ohne dass das Handy herunterfiel oder der Akku erschöpft war? Sie legte auf. Nein, das war es nicht. Aber es hatte gutgetan, Emmas Stimme zu hören.

Die Werner-von-Siemens-Schule in Gransee war ein moderner Flachbau mit einer großzügigen Fensterfront. Es hatte sich eine Schar wartender Eltern vor dem Gebäude versammelt. Einige hatten sich in Grüppchen zusammengefunden und unterhielten sich angeregt. Andere standen vereinzelt herum und sahen gespannt in Richtung Straße, wo der Bus jeden Moment ankommen musste.

Nora stellte sich etwas abseits. Die meisten Eltern von Emmas Mitschülern waren ihr fremd. Außer dass sie einigen an Elternabenden begegnete, hatte sie keinen Kontakt zu ihnen. Die Zurückgezogenheit entsprach ihrem Wesen. Zu viele Menschen verunsicherten sie.

Nicht weit von ihr standen die Eltern von Emmas bester Freundin Amy. Sie waren mit zwei anderen Paaren, die Nora nicht kannte, in ein Gespräch vertieft. Amys Vater, ein promovierter Steuerberater mit Jackett, Krawatte und einer dominanten, rot umrandeten Brille, nickte Nora freundlich zu.

Applaus brandete auf, als der erste Bus vorfuhr, einige Arme schnellten winkend in die Luft. Kurz darauf folgte ein zweiter. Die Motorengeräusche versiegten, und die vorderen Türen öffneten sich.

Nora stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Wartenden hinwegsehen zu können.

Die Schüler stiegen die Busstufen hinab, einer nach dem anderen. Viele hatten Handgepäck dabei. Es war ein einziges Herzen und Lachen um Nora herum. Als Amy von ihrem Vater umarmt wurde, warf sie Nora einen seltsamen Blick zu. Wie sich Nora später im Gespräch mit der Kriminalpolizei erinnern würde, hatte etwas Ängstliches in diesem Blick gelegen. So, als plage Amy ein schlechtes Gewissen.

In den Bussen befanden sich nur noch wenige Schüler und das Begleitpersonal, und Nora wurde unruhig. Durch eines der Fenster erkannte sie Frau Kessler, Emmas Klassenlehrerin. Von Emma war weit und breit nichts zu sehen. Mit Mühe arbeitete sich Nora durch die Menge bis zum Straßenrand vor, während ihr Blick suchend zwischen den Eltern und ihren pubertierenden Kindern hin- und herschweifte.

Wo war ihre Tochter?

»Emma«, sagte sie kaum hörbar. Sie würde bestimmt jeden Moment auf sie zugelaufen kommen; Nora spürte förmlich das Zupfen an ihrem Ärmel. »Hallo, Mama! Hier bin ich. Hab mich nur gerade von Amy verabschiedet.«

Sie spähte zu Amy hinüber, doch außer Mutter und Vater stand niemand bei ihr. Emma war nirgends zu sehen.

»Emma!«

Es musste eine einfache Erklärung geben. Vielleicht war Emma früher ausgestiegen, weil sie es hatte vermeiden wollen, von ihrer Mutter begrüßt zu werden. Dass Jugendliche ihre Eltern auch immer so peinlich finden mussten! Es war die einzige vernünftige Erklärung, die so plausibel schien, dass sich Nora augenblicklich wieder beruhigte und fast gelacht hätte. Wenn sie gleich heimkam, würde sich Emma auf dem Sofa vor dem Fernseher fläzen. Nora sollte nach Hause fahren. Schleunigst.

»Emma!«

Sie reckte ihren Hals nach der Klassenlehrerin, konnte aber auch sie nirgends entdecken.

Ein Gefühl von Panik stieg in ihr auf, als sie daran dachte, dass das letzte Lebenszeichen, das sie von Emma erhalten hatte, eine SMS vor drei Tagen gewesen war. Doch es war unmöglich, dass Emma verschwunden war. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte man Nora angerufen. Frau Kessler hätte sich gemeldet, hätte sich melden müssen! Emma musste hier irgendwo sein. Es gab gar keine andere Möglichkeit, als dass sie unter all den Schülern herumlief.

Sie reckte ihren Hals und suchte Amy, um sie nach Emma zu fragen, doch Amy und ihre Eltern waren verschwunden. Vermutlich hatten sie sich auf den Heimweg gemacht.

Ihr Blick wanderte durch die Menge, und zu ihrer großen Erleichterung entdeckte sie endlich Frau Kessler, die gerade im Gespräch mit einem Elternpaar war. Nora drängelte sich durch das Getümmel bis zur Lehrerin vor.

»Frau Kessler!«, rief sie, als sie noch einige Meter von der Lehrerin entfernt war. »Haben Sie meine Tochter gesehen? Ist sie vielleicht früher ausgestiegen?«

»Frau Bentheim!«, platzte es aus der Lehrerin heraus.

»Ich frage mich, wo meine Tochter ist«, sagte Nora.

Als die Lehrerin nicht antwortete, sondern erstaunt dreinschaute, wusste Nora, dass etwas geschehen war. Die Sorgen, die sie sich den ganzen Tag über gemacht hatte, waren nicht etwa Ausdruck einer Helikoptermutter. Sie waren berechtigt. Wo um Himmels willen war ihr Kind?

Tod in der Schorfheide

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