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Sonntag, Woche eins

Ein Herbststurm fegte durch die Nacht, als Herbert Kahlow aus dem Schlaf hochschreckte. Er glaubte, einen Schrei gehört zu haben.

Seine Frau lag neben ihm und schnarchte leise, während er kerzengerade im Bett saß und in die Dunkelheit starrte. Die Leuchtziffern des Weckers zeigten an, dass es wenige Minuten vor halb eins war. Möglicherweise hatte er sich den Schrei nur eingebildet, denn der Lärm, den der Sturm erzeugte, war außergewöhnlich. Böen pfiffen um sein Haus, und die Tür des Werkzeugschuppens donnerte pausenlos gegen den Rahmen. Trotz der Wetterwarnung hatte er vergessen, den Riegel vorzuschieben, und er überlegte, nach draußen zu gehen und die Schuppentür zu verschließen. Doch dann würde er erst recht wach sein.

Er ließ sich auf den Rücken fallen, schloss die Augen und lauschte. Da war noch ein weiteres Geräusch, etwas, das er nicht zuordnen konnte. Es klang wie ein Tosen oder Grollen und war so unterschwellig, dass er zunächst glaubte, sich zu täuschen. Aber er täuschte sich nicht. Etwas geschah dort draußen. Etwas, das ihn beunruhigte.

Er schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und stellte sich ans Fenster. Ein Windstoß ließ die Scheibe beben. Wolken zogen in rasantem Tempo an einem fast vollen Mond vorbei, der seinen Garten und die Felder in ein fahles Licht hüllte. Die Schuppentür wurde von einer Böe erfasst, aufgerissen und wieder zugeworfen, während sich der Weidenbaum im Sturm bog. Bis auf das Wetter war nichts ungewöhnlich dort draußen. Das Geräusch musste aus einer anderen Richtung kommen. Aber woher? Es fröstelte ihn.

»Kannst du wieder nicht pinkeln?«

Die Stimme seiner Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu ihr um. Sie saß aufrecht im Bett.

»Hörst du das?«, sagte er. »Dieses seltsame Grollen?«

Sie horchte.

»Ich weiß nicht. Du meinst den Wind.«

»Hör genau hin.«

Sie wandte sich ab und lauschte.

»Da ist nichts«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Du bildest dir das bestimmt bloß ein.«

Margots Worte beruhigten ihn nicht. Seit ihr Hörvermögen nachgelassen hatte, war ihrer Wahrnehmung nur noch bedingt zu trauen. »Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte er. »Ich fühle es.«

Sie legte sich wieder hin. »Wenn du meinst. Aber beschwer dich nicht, dass du dich wie gerädert fühlst morgen früh.«

Dann wälzte sie sich auf die Seite, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie erneut schnarchte.

Vielleicht hatte seine Frau recht. Vielleicht bildete er sich das Geräusch tatsächlich nur ein. Auch der Schrei war vermutlich nichts anderem als dem Heulen des Sturms geschuldet.

Er legte sich ins Bett, zog die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen in der Hoffnung, bald einschlafen zu können. Doch eine innere Unruhe hatte ihn gepackt. Ihm war, als zöge ein Unheil auf. Es gelang ihm nicht, sich zu entspannen. Er war zu aufgedreht.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Schreck. Er glaubte, schon wieder in der Ferne einen Schrei gehört zu haben.

»Da ist was passiert!«, platzte es aus ihm heraus, während er hochfuhr. Seine Frau reagierte nicht.

Er horchte. Kein Zweifel, da schrie ein Mann, wie unter Schmerzen oder in Todesangst.

Er sprang aus dem Bett, warf sich einen Bademantel über, trat in seine Hausschuhe und lief durch den Flur in die Wohnstube, die vom abendlichen Fernsehen noch gut geheizt war. Die Schreie und das Tosen wurden lauter.

Er riss das Fenster auf. Laub wirbelte über die Straße; in der Luft hing der Geruch von Rauch. Er schien der Einzige zu sein, der wach war, denn hinter den Fenstern der Landhäuschen, die die Straße säumten, war es stockfinster. Er lehnte sich hinaus und spähte zum Wald, der gleich hinter der Dorfstraße begann. Zwischen den Bäumen leuchtete es feuerrot. Er erschrak so sehr, dass er sich unwillkürlich ans Herz fassen musste. Das ehemalige Forsthaus brannte! Die Flammen fauchten in die Höhe, während es unentwegt knackte. Er kannte dieses Knacken. Er hatte es schon einmal gehört, vor vielen Jahren, als seine Scheune gebrannt hatte. Es stammte von dem Holz, das durch die Hitze riss.

Die Schreie wurden schriller, und ihn schauderte. Warum rettete sich der junge Mann, der in dem Haus lebte, nicht nach draußen?

Er wollte gerade zum Telefon eilen, um die Feuerwehr zu alarmieren, als das Dach des Forsthauses in sich zusammenkrachte und ein Funkenregen in den Nachthimmel schoss. Die Kirchturmglocke läutete ein einziges Mal, dann wurde es allmählich stiller. Das Tosen verwandelte sich in ein Knistern, die Schreie waren verstummt.

Es war ein Sonntag im Oktober, eine halbe Stunde nach Mitternacht.

Tod in der Schorfheide

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