Читать книгу Tod in der Schorfheide - Richard Brandes - Страница 20

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Das Dorf Sonnenberg, wo Amy mit ihren Eltern lebte, lag etwa vier Kilometer Landstraße vom Haus der vermissten Emma entfernt.

Die Familie wohnte in einem gepflegten alten Bauernhaus mit liebevoll restaurierten Sprossenfenstern und Gesimsen an der Fassade.

Es war bereits Nachmittag, als Steuerberater Dr. Köhler Rösler und Julia in ein elegantes Wohnzimmer mit antiken Möbeln, glänzendem Dielenboden und einer Sitzgarnitur aus schwarzem Leder führte. Eine angespannte Stimmung lag in der Luft.

»Ich muss mich für Amy entschuldigen«, sagte er mit einem bitteren Unterton. »Sie ist normalerweise zuverlässig. Aber was plötzlich in sie gefahren ist, entzieht sich meiner Kenntnis.«

Amy war für einen Tag untergetaucht, vielleicht weil sie den Verlust von Emma verarbeiten musste. Ihrem Vater hatte sie vorgegaukelt, dass sie bei ihrem Opa übernachtete, war jedoch in Wirklichkeit bei einer Freundin geblieben. Dies hatte insofern Auswirkungen auf die Ermittlungen, als man Amy nicht hatte auffinden können und sie erst jetzt befragt werden konnte. Schließlich war sie eine wichtige Zeugin.

Amy saß stocksteif und mit angezogenen Schultern auf dem Sofa und starrte zu Boden. Sie war ein blasses Mädchen mit dunkelblonden, strähnigen Haaren und unreiner Haut. Uli Rösler und Dr. Köhler nahmen in den Sesseln Platz, während Julia es vorzog, der Befragung im Stehen zu folgen. Sie hatte einen Block in der Hand, um zu protokollieren.

»Haben Sie Emma gefunden?«, fragte das Mädchen mit piepsiger Stimme und ohne den Blick vom Boden abzuwenden.

»Leider nicht«, sagte Rösler. »Aber vielleicht kannst du uns weiterhelfen. Wann hast du das letzte Mal Kontakt zu Emma gehabt?«

Das Mädchen schwieg.

»Antworte!«, blaffte ihr Vater. »Oder willst du uns schon wieder zum Narren halten?«

Amy druckste rum.

Julia spähte zu einem Schreibtisch mit einem Laptop und einem Drucker, in dem Dr. Köhlers Briefbögen steckten. Sie hatte plötzlich eine Idee und lugte in einen Papierkorb mit allerhand Schnipseln und einem abgetrennten Briefkopf; außerdem war ein Zettel darunter, auf dem mehrere Male die Unterschrift Nora Bentheims geschrieben worden war, so als habe jemand geübt. Julia zog Schnipsel und Zettel heraus. Ihr Ermittlungsversuch schien doch nicht so albern zu sein, wie sie zunächst geglaubt hatte.

»Amy«, sagte Julia. »Kann es sein, dass Emma die gefälschte Entschuldigung hier geschrieben und ausgedruckt hat?«

Dr. Köhler sah sie irritiert an, während Julia den abgetrennten Briefkopf wie ein Puzzleteil an das Entschuldigungsschreiben hielt. Es passte.

Amy errötete, und Julia hoffte, dass Rösler ihre gelungene Schlussfolgerung wohlwollend zur Kenntnis nahm.

»Emma war am Morgen der Klassenfahrt hier«, piepste Amy. »Ihr Drucker ging nicht. Die Tinte war alle.«

Julia dachte, dass es vermutlich Amy gewesen war, die die Unterschrift unter dem Schreiben gefälscht hatte, und ließ den Zettel mit den Schriftproben unauffällig in ihrem Schreibblock verschwinden. Es half niemandem, das Mädchen bloßzustellen. Viel wichtiger war, dass sie nun wussten, wo und um welche Uhrzeit Emma kurz vor ihrem Verschwinden gewesen war.

»Wo ist Emma dann hin?«, fragte Rösler.

»Sie wollte sich mit jemandem treffen. Aber wo und mit wem, weiß ich nicht. Angeblich hatte sie jemanden kennengelernt und wollte ein paar Tage wegfahren mit ihm.«

»Wer ist dieser Jemand?«, fragte Rösler.

»Ich weiß es nicht, wirklich!«

»Das glaub ich nicht«, sagte Julia. »Ihr seid beste Freundinnen. Die erzählen sich alles. Deshalb sind sie ja auch beste und nicht irgendwelche Freundinnen.«

Amy druckste herum. »Emma und ich haben nicht miteinander geredet in den letzten Wochen«, sagte sie mit einem scheuen Blick zu ihrem Vater. »Weil sie mit Ben gegangen ist, der aber eigentlich mein Freund war. An dem Morgen der Klassenfahrt meinte sie, dass es aus sei mit Ben. Und dass wir wieder Freunde sein könnten. Also hab ich sie reingelassen. Aber wir hatten es total eilig. Papa war nur Brötchen holen und konnte jeden Moment zurückkommen. Ich wollte, dass Emma schnell wieder abhaut.«

Klar, dachte Julia. Weil ihr die Unterschrift fälschen wolltet.

Dr. Köhler machte eine ungeduldige Handbewegung. »Und weiter! Was ist dann passiert? Wo ist Emma hin?«

»Sie ist zurück Richtung Schönermark geradelt, wo sie wohnt. Mehr weiß ich nicht, ehrlich!«

»Hast du gesehen, dass sie auch wirklich in diese Richtung gefahren ist?«, fragte Rösler.

»Ja. Ich hab ihr hinterhergeschaut. Drüben an der Kirche hat sie die Entschuldigung in den Briefkasten geworfen. Dann ist sie an der Kreuzung, wo es nach Rönnebeck geht, weiter geradeaus. Ich hab noch überlegt, was ich Papa sage, wenn er zurückkommt. Er hätte ihr auf dem Rückweg begegnen müssen.«

Amys Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Emma auf dem Rad, das wäre mir aufgefallen.«

Julia und Rösler warfen sich einen verdutzten Blick zu.

»Das ist aber seltsam«, sagte Rösler. »Die Sonnenberger Landstraße ist bestimmt zwei Kilometer lang. Wann sind Sie denn vom Brötchenholen zurückgekommen?«

»Um Viertel vor neun warst du hier«, sagte Amy zu ihrem Vater, und Julia dachte angestrengt nach. Wenn Dr. Köhler um diese Uhrzeit zurückgekommen war, dann hätte er Emma begegnen müssen. Definitiv!

***

Uli Rösler lenkte den Wagen im Schritttempo durch Sonnenberg, vorbei an hübschen Bauernhäusern. Ein Schwarm Kraniche zog am trüben Himmel Richtung Süden. Julia dachte, dass die Lehrerin vermutlich recht hatte. Emma war weggelaufen. Zuvor hatte sie jemanden kennengelernt. Vielleicht war sie mit ihm zusammen ausgebüxt, oder sie war bei ihm untergetaucht.

»Ich mache einen Vorschlag«, sagte Julia. »Eine Jugendliche fährt mit ihrem Rad vielleicht fünfzehn, höchstens zwanzig Stundenkilometer. Zwischen Emmas Abfahrt vom Haus der Köhlers und dem Einbiegen Dr. Köhlers auf die Sonnenberger Landstraße liegen etwa zehn Minuten. Das heißt, dass Emma in diesen zehn Minuten hier irgendwo abgebogen sein muss.«

»Das Problem ist aber, dass es keine Abzweigung mehr gibt«, sagte Rösler nachdenklich. »Lass uns die Strecke mal abfahren, mit Fahrradgeschwindigkeit. Dann wissen wir, bis wohin man in zehn Minuten kommt.«

Julia sah auf ihre Armbanduhr. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, zu suchen, weil es bald dunkel werden würde. »Und los!«, sagte sie.

Rösler schlich im Schneckentempo die Dorfstraße entlang, die sich schon bald hinter dem Ort in die Sonnenberger Landstraße verwandelte. Zu beiden Seiten erstreckten sich Felder, von denen einige gelb leuchteten, weil der Senf blühte. Reihen von Pappeln mit ihrem rötlichen Laub säumten den Straßenrand.

Julia hoffte, dass Rösler ihre Schlussfolgerung mit dem Briefkopf anerkennend zur Kenntnis genommen hatte. Wenn sie auch den Fall damit nicht gelöst hatte, so hatte sie doch bewiesen, dass sie zu logischem Denken fähig war. Obwohl sie eine Frau war. Nur leider äußerte er sich nicht dazu, und Julia fragte sich, ob sie die Hospitanz unter diesen Umständen überhaupt zwei Wochen durchstünde. Schließlich war es ihr zweiter Tag, und sie war unsicher. Der aus der Zeit gefallene Rösler verstärkte ihre Selbstzweifel nur noch, und das frustrierte sie. Eigentlich brauchte sie einen Vorgesetzten, der ihr Mut machte und sie motivierte. Jemanden wie Hannes, ihren Revier-Chef, der an sie glaubte und sie mit Respekt und Wertschätzung behandelte. Aber neben Rösler fühlte sie sich verloren und fehl am Platz.

Nach etwa sechs Minuten Fahrt mündete die Straße in ein herbstbuntes Waldgebiet. An einigen Stellen regnete es Laub. Nicht mehr lange, und der Frost würde einkehren.

»Anhalten!«, schrie Julia, und Rösler bremste so abrupt, dass beide mit einem Ruck nach vorne katapultiert wurden.

Rösler guckte erschrocken drein.

»Da war ein Weg«, sagte Julia.

Rösler legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit heulendem Motor zurück. Tatsächlich. Linker Hand führte ein Weg in den Wald. Wegen der einsetzenden Dämmerung hätte Julia ihn fast übersehen.

»Was hätte sie da zu suchen gehabt?«, fragte Rösler.

»Ich weiß es nicht. Aber es ist der einzige Abzweig nach sechs Minuten Fahrt.«

Sie stiegen aus, überquerten die Straße und beschritten einen laubbedeckten, matschigen Pfad, der schnurgerade durch ein Waldstück führte und in der Ferne an einem Feld zu enden schien. Ein umgestürzter Baum verhinderte ein problemloses Weiterkommen.

»Hier kann sie nicht langgefahren sein«, sagte Julia und blieb resigniert stehen. »Sie hätte höchstens zu Fuß bis zu dem Feld dahinten gehen können. Doch warum hätte sie das tun sollen?«

Rösler sah sich um. Die Dämmerung hatte eingesetzt. »Was ist das?«, fragte er, und Julias Blick folgte seinem Finger, der in den Wald zeigte. Abseits des Wegs ragte etwas Stangenartiges aus dem Laub. Möglicherweise hatte jemand seinen Müll im Wald abgeladen.

Sie liefen zu der Stelle, wobei das Laub unter ihren Füßen raschelte. Als sie näher kamen, erkannte Julia den Lenker eines Fahrrades.

Rösler holte Einmalhandschuhe aus seiner Jackentasche, packte den Rahmen und zog ein rosafarbenes Damenfahrrad aus der Blätterschicht. Auf dem Unterrohr konnte man deutlich einen verschnörkelten Schriftzug erkennen: »Miss Grace«.

Tod in der Schorfheide

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