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ОглавлениеCarla war abgekämpft, als sie mit Bruno im Gefolge ins Büro kam. Die Leichenschau am frühen Morgen hatte mit erheblicher Verzögerung begonnen, weil Rechtsmediziner Berkemann zu spät erschienen war; außerdem war sie in einen Stau geraten, der die einstündige Fahrtzeit von Potsdam nach Neuruppin fast verdoppelt hatte. Anschließend hatte sie zu Hause noch schnell was gekocht, weil Kathrin außerplanmäßig ins Geschäft gemusst hatte – eine Mitarbeiterin war krank geworden – und die Kinder nach der Schule etwas zu essen brauchten. Sie waren zwar alt genug, um sich selbst versorgen zu können, doch da Carla leidenschaftlich gerne kochte, hatte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen.
Maik saß am Besprechungstisch, stierte auf seinen Laptop und grüßte mit einer knappen Handbewegung, ohne aufzuschauen.
»Ich hab uns was Leckeres mitgebracht«, sagte sie und holte eine gefüllte Tupperdose aus einer Stofftasche. »Linsensuppe süß-sauer. Wie es meine Mutter immer gemacht hat. Ein Gedicht, sag ich dir. Noch warm.«
Maik rümpfte die Nase. »Ich weiß nicht … Hunger hab ich eigentlich nicht.«
Carla überhörte den sanften Protest, denn sie fand, dass Maik ein paar Kalorien mehr am Tag ganz gut gebrauchen konnte. Was sie zu viel an Gewicht hatte, hatte er zu wenig. Es konnte nicht schaden, wenn er mal etwas Vernünftiges bekam. Seine Frau war Vegetarierin und mochte es nicht, dass er Fleisch aß. Maik passte sich ihren Wünschen an – obwohl ihn Carla schon ein paarmal im Vorbeifahren an einer Imbissbude hatte stehen sehen.
»Papperlapapp. Mit Speck und Wiener Würstchen, alles bio!«
Aus einem Schrank holte sie zwei Teller und Besteck, dann öffnete sie die Tupperdose. Der Geruch von Linsensuppe stieg auf.
»Wir haben zwei wichtige Punkte zu besprechen«, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt und die Suppe verteilt hatte. »Ergebnis der Leichenschau und unsere beiden Naziverdächtigen, die sich als Fehlspur erwiesen haben. Letzteres zuerst, weil das hoffentlich schnell abgehandelt ist.« Den gesamten Montag über waren sie mit den beiden Verdächtigen beschäftigt gewesen.
Maik begann so genüsslich zu essen, dass Carla beschloss, mit der Sitzung zu warten, bis er fertig war. Von wegen kein Hunger! Bruno saß bettelnd neben ihr, obwohl er noch eben zu Hause eine Portion Hundefutter verdrückt hatte. Sie hielt es nicht aus, selbst zu essen, während der arme Bruno zusehen musste. Also gab sie ihm ein Stück Wurst, das er gierig verschlang. Kathrin hätte jetzt lauthals protestiert.
»Ich fasse den Stand kurz zusammen«, sagte Maik, der seine Mahlzeit in Windeseile beendet hatte. Carla hatte in derselben Zeit gerade mal die Hälfte geschafft. »Der Ermordete nahm den Computer der beiden Rechtsextremen Angelika Woitha und Steven Koch zu Reparaturzwecken mit zu sich nach Hause. Doch er reparierte das Ding nicht, vermutlich weil er krank war. Das veranlasste die beiden, sich ihren Rechner auf eigene Faust zurückzuholen. Vermutlich sind sie nervös geworden, weil sie belastendes Material da draufhatten. Jedenfalls versuchten sie mehrmals vergeblich, Römer telefonisch zu erreichen. Weil sie auch im Geschäft niemanden antrafen, brachen sie mitten in der Nacht ein und schlugen alles kurz und klein.«
Carla dachte, dass auch der Geschäftspartner Leo Rapp nicht erreichbar gewesen war, weil er den Betrieb allein hatte aufrechterhalten müssen und wahrscheinlich wegen Vor-Ort-Reparaturen bei Kunden und nicht im Laden gewesen war. Außerdem hatte die Spurensicherung im Haus des Ermordeten den Computer von Woitha und Koch sichergestellt. Dies war ein starkes Indiz dafür, dass die Rechten nicht bei Römer gewesen waren, sonst hätten sie ihren Computer mitgenommen. Der Mörder musste ein völlig anderes Motiv gehabt haben. Um Spuren zu verwischen, hatte er den Laptop des Ermordeten und dessen Handy verschwinden lassen, außerdem das Navi zerstört. Er hätte niemals seinen Computer am Tatort zurückgelassen.
»Die Nazis haben sogar ein Alibi«, sagte Maik. »Haben Bier gezapft im ›Goldenen Löwen‹. Vor zig Zeugen.«
Damit war das Thema endgültig abgehakt.
»Punkt zwei, Gerichtsmedizin«, sagte Carla und schob ihren Teller beiseite. Die Suppe war ihr wirklich ausgesprochen gut gelungen, und es wäre nicht verkehrt gewesen, noch etwas mehr mitzubringen. »Der Doc fand einen Einstich am Bauch des Toten. Etwa auf Höhe des Bauchnabels. Rührt von einem spitzen Gegenstand her, vermutlich ein Messer. Einschneidige Klinge, etwa zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter lang. Der Stich verletzte das Ileum, also den unteren Teil des Dünndarms. Es kam zu einer inneren Blutung, die aber nicht sofort tödlich verlief. Ich vermute, dass der Mörder sein Opfer nur außer Gefecht setzen wollte. Getötet hat er es damit nicht.«
Carla dachte mit Grausen an die Leichenschau. Der Rechtsmediziner hatte mehrere Anzeichen dafür gefunden, dass Nico Römer in den Flammen ums Leben gekommen war. Geschwollene und gerötete Atemwege sowie Rußpartikel in den Lungen deuteten darauf hin, dass er während der Verbrennung geatmet hatte. Berkemann hatte sie allerdings auch dahingehend aufgeklärt, dass sich das Schmerzempfinden bei Brandopfern relativ schnell verlor, weil durch das Feuer Nerven zerstört wurden. Dies beruhigte Carla ein wenig.
»Lass uns das Szenario durchgehen«, sagte sie. »Jemand klingelt an Römers Haustür, er öffnet.«
»Er hatte keine Klingel«, unterbrach Maik. »Der Mörder muss geklopft haben.«
Carla seufzte, denn Maik konnte manchmal pingelig sein.
»Also gut, jemand klopft, Römer öffnet. Der Mörder sticht ihm blitzschnell ein Messer in den Bauch. Römer presst die Hände vor die Wunde, Blut läuft, er sackt in die Knie, ist wehrlos vor Schreck und Schmerz. Nun hat sein Mörder leichtes Spiel, und er legt seinem Opfer Handschellen an. Der grässliche Rest ist bekannt.«
»Der Stich sollte das Opfer wehrlos machen, nicht töten«, sagte Maik. »Aber ein Messer wurde am Tatort nicht gefunden.«
Leider, dachte Carla. Außer der Zeugenaussage, dass ein schwarzer SUV in der Tatnacht gesichtet worden war, hatten sie noch überhaupt keine Spur. Daran hatten auch die Ergebnisse der Leichenschau nichts geändert.
»Da ist noch etwas«, sagte Maik und schob seinen Laptop zu Carla. »Ich habe den Mail-Account des Ermordeten überprüft. Er hat vor etwa zwei Monaten eine E-Mail an seinen Bruder geschickt, an dessen Büroadresse. Am besten, du liest das selbst.«
Carla war verblüfft. Die beiden hatten sich Mails geschrieben? Der Bruder hatte doch ausgesagt, seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu dem Ermordeten gehabt zu haben.
Sie las den Text der Mail laut vor.
»›Lieber Jan, ich muss dich dringend sprechen. Ist es möglich, dass wir uns treffen? Ich weiß, dass du noch immer wütend auf mich bist, weil ich nicht zu Mamas Beerdigung gekommen bin. Aber vielleicht kannst du das für einen Moment vergessen. Es gibt etwas, das du wissen solltest. Es sind schlimme Dinge geschehen, von denen du nichts weißt und über die ich mit dir sprechen muss. Bitte melde dich bei mir. In Liebe dein Bruder Nico‹.«
Carla blätterte in ihrem kleinen Block und fand die entsprechende Notiz sofort. Auf ihre Frage, ob sich der Bruder und der Ermordete in den letzten zwei Jahren gesehen hätten, hatte Jan Römer wörtlich geantwortet: »Nichts. Kein Telefonat, keine Mail, keine SMS.«
Jan Römer hatte also gelogen.
***
Die Anwaltskanzlei befand sich im Erdgeschoss einer mehrstöckigen Jugendstilvilla in Eberswalde, nur wenige hundert Meter von der Innenstadt entfernt. Jan Römer hatte sich in seinem Drehsessel zurückgelehnt und starrte erschüttert vor sich hin. Carla hatte ihm soeben mitgeteilt, dass es sich bei dem Toten um seinen Bruder handelte. Ein Gebissabgleich hatte letzte Zweifel beseitigt. Auch die grausamen Details der Ermordung hatte sie offengelegt.
»Wir glauben, dass der Täter einen schwarzen SUV fährt«, sagte sie. »Vermutlich einen Tiguan mit Ostprignitz-Ruppiner Kennzeichen. Kennen Sie jemanden mit solch einem Auto?«
Römer schüttelte den Kopf.
»Was fahren Sie?«
»BMW, Coupé, blau. Kennzeichen OHV, Oberhavel. Meine Frau fährt einen Golf.«
Carla reichte dem Anwalt die E-Mail. »Das hier haben wir im Postfach Ihres Bruders gefunden.«
Römer faltete den Ausdruck auseinander und las den Text.
»Das soll Nico geschrieben haben?«
Carla nickte.
»Es tut mir leid, aber ich habe das nie erhalten.«
»Meines Wissens kommt es so gut wie nie vor, dass Mails nicht zugestellt werden.«
Römer nahm den Hörer vom Telefon und bat seine Frau ins Zimmer. Kurz darauf ging die Tür auf, und Ljudmila Römer kam herein. Ihre Absätze klackerten auf dem Parkett. Sie trug ein karminrotes Kleid und einen passenden Lippenstift dazu. Bei Carlas Anblick huschte ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht.
»Guten Tag, Frau Stach. Haben Sie schon eine Spur?« Als sie zu ihrem Mann hinübersah, verfinsterte sich ihre Miene schlagartig. »Jan! Du siehst grauslich aus. Du hast geweint!«
Der Anwalt kämpfte mit den Tränen und machte eine wegwerfende Handbewegung.
Carla nahm die Mail vom Schreibtisch und reichte sie der Ehefrau, die den Text rasch überflog.
»Das hat Ihnen der Ermordete gemailt. Vor zwei Monaten etwa.«
»Es tut mir leid«, sagte Ljudmila Römer, während sie Carla das Papier zurückgab. »Daran würde ich mich erinnern. Diese Mail ist nie bei uns angekommen.«
Carla wurde ungeduldig. Die beiden Brüder hatten seit über zwei Jahren keinen Kontakt mehr zueinander gehabt, und da sollte die E-Mail niemandem aufgefallen sein?
»Wer hat noch Zugang zu diesem Postfach?« Ihr Ton hatte sich verschärft.
»Nur mein Mann und ich.«
»Dann sagt einer von Ihnen die Unwahrheit. Oder Sie lügen mir alle beide was vor!«
»Ich kann das erklären«, sagte Ljudmila Römer hastig. »Ich kriege Dutzende Werbemails am Tag, dazwischen allerhand dienstliche Anfragen, die ich nach wichtig und unwichtig sortieren muss. Da kann es schon mal vorkommen, dass ich eine wichtige Mail lösche. Sehen Sie hier.« Die Zeugin zeigte auf die Absender-Mailadresse. »Ich habe bestimmt gedacht, das wäre eine Werbemail.«
Carla sah sich die Adresse an. Durch das englische »mobile-computer-service« konnte man die Mail tatsächlich für Werbung halten. Aber sollte sie die Erklärung glauben?
»Da ist noch etwas«, sagte sie. »Sie und Ihr Mann haben nicht, wie von Ihnen behauptet, in der Mordnacht gegen halb eins miteinander telefoniert. Sondern eine Stunde früher. Wir haben das überprüft. Das heißt, dass Sie für die Tatzeit kein Alibi haben.«
Die Eheleute schauten sich betreten an, und Carla war mehr als misstrauisch. Irgendetwas stimmte hier nicht.