Читать книгу Tod in der Schorfheide - Richard Brandes - Страница 15

8

Оглавление

Montag, Woche eins

Julia erinnerte sich nicht, jemals so aufgeregt gewesen zu sein, als sie das riesige Backsteingebäude in der Fehrbelliner Straße 4c in Neuruppin betrat. Vielleicht vor der Führerscheinprüfung oder der ein oder anderen Klassenarbeit. Doch im Vergleich zu diesem Morgen verblasste alles andere.

Sie stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo das Vermisstendezernat seine Räume hatte. Man hatte ihr gesagt, dass sie sich bei Kriminaloberkommissar Ulrich Rösler melden sollte. Normalerweise wäre sie zunächst in die Umkleide gegangen, hätte ihre Alltagskleidung gegen eine Polizeiuniform getauscht und eine dunkelblaue Strickmütze aufgesetzt, die sie lieber mochte als Schirmkappen oder Caps. Doch beim Vermisstendezernat würde sie in Zivil ermitteln. So wie alle anderen Kommissare auch.

Es war schon immer ihr Wunsch gewesen, kriminalistisch zu arbeiten, aber mit ihrem Schulabschluss hatte es nur für die Laufbahn des mittleren Dienstes gereicht. Daher hatte sie beschlossen zu hospitieren, zwei Wochen lang. Manchmal wurden Hospitanten übernommen, vorausgesetzt natürlich, dass sie sich geschickt anstellten. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, vom Revier in der Alfred-Wegener-Straße zur Polizeidirektion Nord zu wechseln. Sie wollte weg von Streife fahren, Gebäudeschutz und Verkehrsdelikten. Sie wollte als Kriminalkommissarin arbeiten.

Ihre Kollegen im Revier hatten ihr Mut gemacht, es zu probieren. Sie glaubten fest an Julias kriminalistisches Können und dass sie über Menschenkenntnis, Empathie und die Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern verfügte. Hannes, ihr Chef, hatte sie sogar bei diesem Ulrich Rösler empfohlen. Nur sie selbst glaubte nicht so recht an sich. Trotz ihrer siebenunddreißig Jahre war sie noch immer voller Unsicherheiten und Selbstzweifel. Sonst wäre sie nicht so fürchterlich nervös.

»Herein«, tönte es durch die Tür, nachdem sie geklopft hatte.

Ulrich Rösler war untersetzt und trug eine Brille, hinter der kleine Äuglein hervorlugten. Sein Schreibtisch war bedeckt mit aufgeschlagenen Tageszeitungen, die über den Brandmord in Kappe berichteten. Er streckte ihr die Hand entgegen, und Julia glaubte, ein Zucken in seinen Augen gesehen zu haben. Vermutlich hatte er eine Weiße erwartet.

»Wir ersticken in Arbeit. Schön, dass Sie da sind! Ulrich Rösler.«

Sie versuchte ein Lächeln. »Julia. Julia Engel.«

»Kaffee?«

Noch ehe sie antworten konnte, ging der Kommissar zu einer Kaffeemaschine und goss eine abgestandene schwarze Brühe in eine Tasse. Eigentlich hatte sie schon genügend Kaffee getrunken an diesem Morgen, aber weil sie nicht unhöflich sein wollte, verkniff sie sich ein »Nein danke«.

Der Kaffee schmeckte grauslich.

Ulrich Rösler nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, während sich Julia auf einen Besucherstuhl setzte und die warme Tasse mit ihren kalten Händen umklammerte. Wenigstens dafür war der Kaffee gut.

»Bei meinen Kollegen von der Mordkommission ist gerade Land unter«, sagte er. »Wegen diesem Mord in Kappe. Die Zeitungen sind voll davon. Nervös?«

Julia spürte, dass sie ein verspanntes Gesicht hatte.

»Irgendwie schon.«

»Brauchen Sie nicht. Sie laufen einfach nur mit mir mit.«

Der Kommissar kramte eine ausgedruckte Mail hervor, die zwischen all den Zeitungen steckte.

»Letzte Nacht ist eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen. Eine Fünfzehnjährige ist nicht von einer Klassenfahrt zurückgekommen. Hab eben noch mit dem Schupo telefoniert, der den Fall aufgenommen hat. Die Mutter des Mädchens ist völlig aus dem Häuschen. Wir werden hinfahren und mit ihr sprechen, dann können Sie gleich in einen neuen Fall einsteigen.«

»Liegt ein Verbrechen vor?«

»Nicht auszuschließen. Darf ich was Persönliches fragen?«

Julia nickte. Sie ahnte, was folgen würde.

»Woher kommen Ihre Eltern?«

Julia atmete tief durch. Die Frage wurde früher oder später immer gestellt. Das Gegenüber wollte wissen, ob sie in Deutschland geboren war, traute sich aber nicht zu fragen, um nicht diskriminierend zu erscheinen.

»Meine Mutter kommt vom Dorf im Löwenberger Land. Mein Vater stammt aus Angola. Er ist in den achtziger Jahren als Vertragsarbeiter nach Brandenburg gekommen.«

Ulrich Rösler nickte nachdenklich. »Das war bestimmt schwierig für Ihre Eltern. Die DDR untersagte Kontakte zwischen Fremdarbeitern und Einheimischen.«

Julia senkte den Blick. Mit Menschen, die sie nicht kannte, wollte sie nicht darüber sprechen, was ihre Eltern zu DDR-Zeiten hatten erleben müssen.

»Ich habe kein Problem mit Ihrer Hautfarbe«, sagte Rösler, der zu merken schien, dass Julia nicht antworten wollte, und sie versuchte, seinem Blick mit einem freundlichen Lächeln standzuhalten.

Normalerweise hätte sie unterkühlt dreingeschaut, denn es störte sie, dass ihre Hautfarbe ständig thematisiert wurde. Manche reagierten übertrieben freundlich im Sinne von: »Keine Angst, ich bin keiner von diesen Rassisten!«, andere idealisierten sie und gaben ihr das Gefühl, als Schwarze der bessere Mensch zu sein, und wieder andere behandelten sie wie eine Aussätzige. Ein normaler, unbefangener Umgang schien den meisten schwerzufallen.

»Das hatte ich auch nicht erwartet«, sagte Julia in der Hoffnung, das Thema rasch beenden zu können.

»Aber ich habe ein Problem mit Frauen!«, fuhr Rösler fort, und Julia spürte, wie ihre Kinnlade sackte. »Nicht mit Frauen generell, aber in unserem Beruf. Eine glatte Fehlbesetzung. Waffen gehören in Männerhände. Haben Sie Kinder?«

»Einen Sohn.«

»Wie alt?

»Zwölf.«

»Name?«

»Nehemie.«

»Schöner Name. Glauben Sie nicht, es wäre besser, Sie würden sich um ihn kümmern, statt Ihr Leben tagtäglich aufs Spiel zu setzen? Stellen Sie sich mal vor, Ihnen passiert etwas. Unverantwortlich! Meine Meinung.«

Julia war sprachlos. Am liebsten hätte sie auf der Stelle den Raum verlassen.

»Wissen Sie, unsere Gesellschaft entwickelt sich in eine Richtung, die nicht gut für uns ist«, fuhr Rösler in seinem Vortrag fort. »Ich halte nichts von Frauen in Führungspositionen, Quoten und all dem Quatsch. Es ist eine Tatsache, dass Frauen für manche Berufe viel zu emotional sind. Bauchgefühl schön und gut, aber damit kriegt man keine Rakete zum Mond, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Julia schwieg. Was sollte sie diesem Blödsinn auch entgegnen! Jedenfalls hatte ihr noch niemand derart offenherzig seine Einschätzung weiblicher Fähigkeiten an den Kopf geknallt. Es verdiente fast schon Anerkennung.

Der Kommissar stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Sie merken, dass ich ein Mann der klaren Worte bin. Aber ansonsten beiße ich nicht. Ich heiße Uli!«

Julia erhob sich ebenfalls und erwiderte die Geste. Ihre Hände waren feucht.

Tod in der Schorfheide

Подняться наверх