Читать книгу Tod in der Schorfheide - Richard Brandes - Страница 21
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ОглавлениеMittwoch, Woche eins
Die Luft war feucht und kalt, als Carla aus dem Wagen stieg und den Kragen ihrer Jacke hochschlug. Eine dichte Frühnebelschicht hatte sich über die herbstbunten Laubbäume gelegt. Es war gespenstisch still im Wald. Carla war jedes Mal fasziniert von der Naturschönheit der Schorfheide. Wälder, Wiesen, Sümpfe und Seen prägten die Landschaft. Hier bei Kappe, in der Nähe der Havelniederung, dominierten Stieleichen, Linden und Birken den Baumbestand. Es war der Weite und Einsamkeit geschuldet, dass bedrohte Tierarten wie Seeadler, Schwarzstörche und Wölfe in der Großen Heide, wie die Schorfheide auch genannt wurde, leben konnten. Früher hatten Kaiser Wilhelm II., NS-Reichsmarschall Hermann Göring und einige DDR-Größen die Landschaft zu ihrem Jagdgebiet erkoren. Deshalb waren die Wälder auch von Rodungen verschont geblieben. Um ungestört jagen zu können, hatten die Sozialisten sogar Teile der Schorfheide für das gemeine Volk gesperrt. Glücklicherweise waren solche Zeiten vorbei.
Sie schloss die Fahrertür mit einem lauten »Klack«, das die Waldesruhe für einen kurzen Moment störte. Normalerweise wurde der Tatort von einem Polizisten bewacht, um Schaulustige fernzuhalten, die zuhauf angereist kamen. Doch sein Dienst begann erst um acht Uhr.
Das Haus des Ermordeten lag an einem Kopfsteinpflasterweg, der sich hinter dem Grundstück zwischen den Bäumen verlor. Bruno hatte sich am Lenkrad aufgerichtet und sah Carla enttäuscht hinterher, als sie auf das Haus zuging, ohne ihn mitgenommen zu haben. Seitdem sie die Schorfheide erreicht hatten, hatte er wie verrückt gebellt, weil er auf einen Spaziergang gehofft hatte. Aber Carla wollte ihn noch immer nicht am Tatort herumlaufen lassen. Er könnte Spuren verwischen.
Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Die E-Mail, die der Ermordete seinem Bruder geschrieben hatte, irritierte sie. »Es sind schlimme Dinge geschehen, von denen du nichts weißt«. Was hatte er damit gemeint? Carla fragte sich, ob diese »Dinge« mit seiner Ermordung in Verbindung standen. Auch beschäftigte sie die Aussage des Kompagnons Leo Rapp, dass der Ermordete eine Freundin gehabt haben sollte. Eine Freundin, die niemand zu Gesicht bekommen hatte. Wer war diese Frau? Und warum hatte Nico Römer sie vor seinem Kumpel geheim gehalten?
Carla hoffte, am Tatort den einen oder anderen Hinweis zu finden, auch wenn die meisten Spuren vom Feuer vernichtet sein dürften.
Die ausgebrannten Fensterhöhlen waren mit einer dicken Plane abgedeckt, die sich an einigen Stellen bereits gelöst hatte. Carla zückte eine Taschenlampe, nahm die Plane an einer losen Stelle beiseite und stieg ins Haus. Es roch noch immer nach verbranntem Holz.
Der Raum, in dem sie sich befand, schien das ehemalige Wohnzimmer zu sein. Als sie sich umsah, verflog ihr Eifer, den sie noch auf der Herfahrt verspürt hatte, und sie fragte sich, ob es wirklich sinnig war, in diesem Chaos nach einer Spur zu suchen. Wo sollte sie anfangen?
Das Zimmer war übersät von verbrannten Möbelresten und Schutt. Vor einem umgekippten Schrankregal türmten sich brandvergilbte Bücher. Carla leuchtete mit der Taschenlampe darauf und versuchte, Buchtitel zu entziffern. Bei einigen schien es sich um Fachliteratur zu Computern und Informatik zu handeln, andere waren Splatter-Romane, darunter »Das Hotel des Todes« oder »Der Mörder mit dem Kruzifix«.
Auch in der Küche, die sich ans Wohnzimmer anschloss, sah es verheerend aus. Hängeschränke waren von der Wand gekracht, der Boden war bedeckt mit Töpfen, Pfannen und zerbrochenem Geschirr.
Nachdem sie auch Schlaf- und Arbeitszimmer inspiziert hatte, stieg sie wieder ins Freie. Bruno bellte noch immer. Er musste etwas gesehen haben, ein Reh vielleicht oder ein Wildschwein, die gewöhnlich um diese Uhrzeit aktiv waren. Sie spähte zum Auto, das etwa fünfzig Meter weit weg stand, konnte aber nichts entdecken.
Frust stieg in ihr auf. Sie hatte sich die Suche einfacher vorgestellt. Nun hatte sie zwei Möglichkeiten. Entweder brach sie die Aktion ab und wartete, bis das Haus geräumt und die persönlichen Sachen des Opfers geordnet waren. Oder sie mobilisierte ihre Energiereserven und arbeitete sich durch den Schutt hindurch. Aber es gab noch eine dritte Option. Möglicherweise war der Keller vom Brand verschont geblieben.
Sie begab sich hinter das Haus, wo sich ein großer Garten bis zum Waldrand erstreckte. Der größte Teil bestand aus Rasen, auf dem vereinzelt Obstbäume wuchsen. Astern, deren rote und lilafarbene Blüten allmählich verwelkten, bildeten die einzigen Farbtupfer in einer ansonsten spätherbstlichen Tristesse.
An der Rückwand des Hauses führte eine Treppe mit einem rostigen Geländer zu einer Kellertür hinab. Die Stufen waren durch den Einsturz des oberen Stockwerkes unter Schutt und Balken vergraben. An einigen weniger verschütteten Stellen lugten rote Backsteinstufen hervor. Carla hielt sich am Geländer fest, während sie vorsichtig über das Geröll nach unten stieg. Die grüne hölzerne Kellertür war noch fast vollständig erhalten. Sie ließ sich durch einen leichten Druck auf die Klinke öffnen.
Weil das Licht nicht funktionierte, knipste sie ihre Taschenlampe an. Es roch vermodert.
Sie leuchtete in einen Gang, von dem mehrere Räume abgingen. Gleich vorne links befand sich ein Heizkessel, in einem weiteren Raum stapelten sich alte Möbel, Hausrat und ein CD-Player. Auf dem Boden stand eine große Truhe, die komplett aus Eisen bestand. Carla versuchte, den Deckel zu öffnen, aber die Truhe war verschlossen. Was war so wertvoll, dass es sogar im Keller hatte verschlossen werden müssen?
Sie suchte das Gerümpel nach einem Schlüssel ab. Es standen mehrere Dosen und Kistchen herum, die Carla allesamt aufmachte. In einem asiatisch verzierten Holzkästchen fand sie schließlich einen Schlüssel, der tatsächlich in das Truhenschloss passte.
Der Eisendeckel ließ sich nur schwer anheben.
Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie ins Innere der Truhe und fand allerhand Zeugnisse, Klassenarbeiten und Studienunterlagen.
Sie ging in die Hocke und blätterte durch die Zeugnisse. Nico Römers Stärken konzentrierten sich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. In Mathematik hatte er fortlaufend eine Eins bekommen.
Unter den Zeugnissen lagen ein Diktiergerät und die dazugehörigen kleinen Kassetten, die in nummerierter Reihenfolge und mit »Uni« beschriftet waren. Carla besaß ein ähnliches Gerät, und sie fragte sich, ob man heutzutage überhaupt noch solche analogen Rekorder, geschweige denn die Kassetten dafür kaufen konnte.
In einer Ecke der Truhe steckte ein Stofflöwe, an dessen Pfote ein Schwarz-Weiß-Foto klemmte. Es zeigte zwei Jungen im Alter von etwa zwölf und fünf Jahren, vermutlich Jan und Nico Römer. Sie fassten sich an den Händen und schauten mit starrer Mimik in die Kamera. Der Kleinere hielt den Löwen, der schlaff bis zum Boden herabhing. Das Foto berührte Carla, weil es eine unbeschreibliche Einsamkeit und Traurigkeit ausstrahlte. Den Betrachter konnte das Gefühl beschleichen, als seien die beiden Jungen ohne Eltern aufgewachsen.
Unter dem Stofflöwen kam eine weitere kleine Kassette zum Vorschein. Sie war mit »Leo« beschriftet. Carla stutzte, weil sie unweigerlich an Leo Rapp, den Geschäftspartner des Ermordeten, denken musste. Sie steckte die Kassette in das Diktiergerät und hoffte, dass die Batterien noch funktionierten. Sie hatte Glück. Das Band setzte sich in Bewegung, und ein Rauschen erklang. Kurz darauf war die Stimme eines Mannes zu hören.
»Ich habe ihn gefragt, ob er glaube, dass Jana ihn erkannt habe. Er antwortete, er sei sehr vorsichtig vorgegangen. Der Einfachheit halber gebe ich seine Schilderung in der Ich-Form wieder. Er sagte: ›Jana war mein erstes Opfer. Ich habe sie geliebt, aber sie hat meine Liebe nicht so erwidert, wie ich es mir erhofft hatte. Mein Problem ist, dass ich ausraste, wenn eine Frau mich zurückweist. Auch bei Jana bin ich ausgerastet. Sie hat mich stehen lassen, hat mich ignoriert, missachtet. Es macht mich rasend, wenn eine Frau mich so behandelt. Ich fühle mich erniedrigt, gedemütigt, nicht respektiert. Ich muss mich rächen dafür. Es ist wie ein Zwang. Ich kann nicht anders. Zugleich geilt es mich auf. Wie sie daliegt, wie sie vor Angst wimmert und zittert, wie sie um ihr Leben fleht, das befriedigt mich. Ich schäme mich, so zu fühlen, aber es ist die Wahrheit. Jana hatte Todesangst. Ich habe sie verschont. Nicht weil sie mir leidtat, sondern weil ich noch unsicher war. Mir fehlte der Mut, die Erfahrung, die Routine. Wie gesagt, sie war mein erstes Opfer.‹«
Carla stoppte. Was war das für eine Kassette? Wem gehörte diese Stimme? Leo Rapp war es nicht. Nico Römer?
Sie spulte das Band zum Anfang zurück und drückte erneut auf die Starttaste.
»Aufnahme Start. Ich habe heute überraschend Besuch von Leo bekommen. Wir hatten uns nach dem Studium aus den Augen verloren. Leo arbeitet bei der Brandenburger Firma ATI Software und Design, die Programme für Bürobedarf entwickelt. Er wollte mir einen Job besorgen, weil seine Firma nach guten Mitarbeitern suche. Aber das sei nicht der Grund für seinen Besuch. Er sei wegen etwas anderem hier. Es sei ihm unangenehm, darüber zu sprechen.«
Carla hielt das Band an und lauschte, weil sie glaubte, im Keller ein Geräusch gehört zu haben. Es hatte wie ein hohles Scharren oder Schleifen geklungen, als hätte jemand zwei Ziegelsteine aneinandergerieben. Da es jedoch still blieb, hatte sie sich vielleicht nur getäuscht. Das Geräusch könnte auch von der Aufnahme herrühren, also drückte sie erneut die Wiedergabetaste.
»Leo kündigte an, mir etwas anvertrauen zu wollen. Er sagte: ›Du musst mir zusichern, dass du mit niemandem darüber redest. Es soll unser Geheimnis bleiben. Versprichst du mir das?‹ Ich willigte ein, weil ich neugierig geworden war. Leo bat mich, ihm einfach nur zuzuhören. Er brauchte jemanden zum Reden. Er habe sich schuldig gemacht und könne mit der Schuld nicht mehr leben.«
Carla fuhr zusammen vor Schreck. Sie war nicht allein in diesem Keller! Zwei Tippelschritte auf Geröll, als habe jemand das Stillstehen nicht länger ausgehalten. Bruno hatte also nicht wegen eines Rehs oder Wildschweins gebellt. Er hatte gebellt, weil er jemanden gesehen hatte.
Instinktiv griff sie sich an die Seite, wo normalerweise ihre Waffe steckte. Doch die Pistole lag im Spind in der Dienststelle.
Plötzlich hörte sie Schritte. Es dauerte nur wenige Sekunden, da spürte sie, dass jemand im Raum stand. Er war direkt hinter ihr, und sie konnte seine Nähe fühlen. Sie schnellte aus der Hocke hoch und wollte sich umdrehen, aber es war zu spät. Ein gewaltiger Hieb traf sie am Hinterkopf.