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Was für eine Nacht!

Carla fühlte sich wie gerädert, als sie am frühen Nachmittag die Treppe hinunterging. Sie war erst um acht am Morgen, nachdem sie eine kleine Runde mit dem Hund gedreht hatte, todmüde ins Bett gefallen und hatte so gut wie kein Auge zugetan. Der Anblick der gefesselten und verkohlten Leiche ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Auffindesituation wirkte wie ein Rache- oder Ritualmord, und Carla hatte sich die ganze Zeit gefragt, wer so etwas tat und warum. Vor etwa einer halben Stunde, als es ihr endlich gelungen war einzuschlafen, hatte jemand vom Labor angerufen. Der Ermordete schien tatsächlich Nico Römer zu sein. Eine benutzte Tasse aus seinem Geschäft hatte einen DNA-Abgleich ermöglicht.

Sie ging zum Frühstückstisch, der mit allerhand leckeren Sachen gedeckt war, obwohl Wurst, Käse und Quark vom langen Herumstehen etwas mitgenommen aussahen. Weil die Kaffeekanne leer war, warf sie die Espressomaschine an, die auf der Arbeitsplatte in der offenen Küche stand. Durch die Terrassentür sah sie ihre Familie im Garten werkeln. Der Himmel war wolkenverhangen, und es blies noch immer ein kräftiger Wind, obwohl der Sturm zum Glück vorüber war.

Kathrin war am Rande des Gartens damit beschäftigt, Sträucher zu stutzen. Sie trug Gummistiefel und eine Fleecejacke und hatte ihr lockiges dunkles Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Was für eine schöne Frau! Sie hatten geheiratet, kurz nachdem die Eheschließung auch für homosexuelle Paare möglich geworden war, nach mehr als zehnjähriger Beziehung. Ihr Kennenlernen war stürmisch verlaufen, mit leidenschaftlichen Gefühlen und dem raschen Entschluss, für immer zusammenzubleiben. In Carlas Erinnerung war es die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie waren nach Linum gezogen, wo sie ein altes Bauernhaus gekauft und vollständig saniert hatten. Das wunderschöne Rhinluch, ein Moorgebiet, in dem zahlreiche Störche Nahrung fanden und im Frühjahr und Herbst Hunderttausende Kraniche Rast machten, sowie ein kleiner Hafen hatten zu der Entscheidung geführt, sich hier niederzulassen. Bald darauf hatte Kathrin in einer ehemaligen Tischlerwerkstatt einen Bioladen eröffnet mit einem Weinangebot, das Kunden aus ganz Brandenburg anzog. Es war eine Ehe, die nichts vermissen ließ. Nicht einmal die Erotik fehlte.

Doch manchmal sehnte sich Carla nach Sex mit einem Mann. Weil sie nicht untreu werden und Kathrin nicht verletzen wollte, verzichtete sie darauf, aber es fehlte ihr. Bereits in ihrer Jugend hatte sie gemerkt, dass sie bisexuell war, und seitdem war sie Beziehungen zu Menschen beiderlei Geschlechts eingegangen – bis sie Kathrin begegnet war.

Auf der Wiese jagte Bruno Blättern hinterher, die der Wind aufwirbelte. Leonie harkte Laub und packte die Häufchen in eine Schubkarre. Sie war erst vor wenigen Tagen zwölf Jahre alt geworden. Obwohl sie Kathrins leibliche Tochter war, hatte Carla manchmal das Gefühl, dass Leonie zu ihr eine wesentlich engere Bindung hatte als zu ihrer Mutter. Toni, Leonies Bruder, war ein Jahr älter und kam gerade in die Pubertät. Beide Kinder ähnelten Kathrin. Sie hatten die gleichen feinen Gesichtszüge, die gleiche sportliche Figur, obwohl Kathrin in den letzten Jahren an Gewicht zugelegt hatte. Carla mochte es, denn es betonte die weiblichen Rundungen ihrer Frau.

Toni schoss auf ein Tor, das er auf der Wiese aufgebaut hatte. Als männlicher Teenager wusste er nicht mehr so viel mit seinen Müttern anzufangen – verständlicherweise. Es tat ihr manchmal leid, wie sehr er sich abmühen musste, um sich in einem Frauenhaushalt zu behaupten. Dennoch ärgerte es sie, dass er sämtliche Pflichten dem weiblichen Familienanteil überließ. So wie in diesem Moment, als er seinen Spaß hatte, während Kathrin und Leonie im Garten schufteten.

Sie balancierte ihre randvoll gefüllte Espressotasse zum Tisch und setzte sich, als die Terrassentür aufging und Kathrin auf dicken Socken hereinkam. Die Stiefel hatte sie draußen ausgezogen.

»Dieser verdammte Wind!«, sagte sie und gab Carla einen Kuss, der sich wetterbedingt kalt anfühlte. Dann ging sie zur Küchenzeile und setzte die Espressomaschine erneut in Gang. »Wie war die Ermittlung letzte Nacht?«

Carla seufzte, denn sie war unschlüssig, ob sie überhaupt über den Fall sprechen wollte. Die Grausamkeit, mit der Nico Römer zu Tode gekommen war, belastete sie, und sie war froh, sich eben noch gedanklich abgelenkt zu haben.

Kathrin setzte sich mit ihrem Espresso an den Tisch, und Carla hatte beschlossen, die Frage zu beantworten.

»In Kappe wurde ein Mann bei lebendigem Leibe verbrannt«, sagte sie.

Kathrin, die gerade von ihrem Espresso trank, stellte die Tasse abrupt ab und hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie sich fast verschluckt hätte. »Das ist ja furchtbar!«, platzte es aus ihr heraus.

»Der Täter drang in das Haus ein, fesselte den Mann und zündete alles an. Ein Mordbrand vermutlich. Ich gehe davon aus, dass mit dem Feuer Spuren vernichtet werden sollten. Auch wenn das nicht die ganze Wahrheit ist.«

Den letzten Satz sagte sie mehr zu sich selbst, denn es war noch zu früh für Spekulationen. Sie hatte nicht im Geringsten eine Vorstellung davon, wer was warum getan haben könnte.

»Wieso nicht die ganze Wahrheit?«, fragte Kathrin.

»Normalerweise ist es bei einem Mordbrand so, dass das Opfer erschossen, erdrosselt oder auf andere Art getötet wird, bevor der Täter alles in Brand setzt. Doch in diesem Fall war die Spurenvernichtung nicht der alleinige Grund für das Feuer.«

»Wer macht so was?«, fragte Kathrin, der noch immer das Entsetzen im Gesicht stand. »Das kann doch nur eine Beziehungstat sein.«

Das Gleiche vermutete Carla auch. Opfer und Täter mussten in irgendeiner Art von Beziehung zueinander gestanden haben. Vielleicht hatten sie eine gemeinsame, womöglich tragische Geschichte voller Hass- und Rachegefühle. Eine Geschichte, die Carla aufzudecken hatte, und davor scheute sie im Moment noch zurück. Bei Mordermittlungen ging sie eine Bindung zum Opfer ein, indem sie in dessen Alltag, seine Sozialkontakte und seine Biografie eintauchte. Je mehr sie erfuhr, desto intensiver identifizierte sie sich mit ihm, und das konnte, wie in diesem Fall, bei dem jemand so grausam zu Tode gekommen war, belastend sein.

Es war der Piepton ihres Smartphones, der sie aus ihren Gedanken riss. Sie hatte eine Textnachricht von Maik bekommen. Er schrieb: »Beschissen geschlafen. Ich weiß jetzt, wer die Nazis sind.«

***

Beisdorf lag ein paar Kilometer südlich von Zehdenick. Am Ortsschild drosselte Maik das Tempo. Die Hauptstraße schlängelte sich durch das finstere, menschenleere Städtchen. Carla erspähte eine digitale Uhr unter einem Apothekenschild. Es war achtzehn Uhr vier.

Als sie am Rand des Marktplatzes ankamen, fuhr Maik rechts ran und schaltete den Motor aus. Von hier aus hatte man eine gute Sicht zum »Goldenen Löwen«, der sich in einiger Entfernung am anderen Ende des Platzes befand. Zahlreiche Männer hatten sich vor der Tür versammelt. Die meisten trugen Lederjacken zu Stoppelfrisuren oder Glatzen. Aus der Kneipe erklang dumpf Rockmusik.

»Ruf die Leitstelle an«, sagte Carla. »Wir brauchen Verstärkung.«

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis ein Trupp mit Mercedes-Sprinter-Fahrzeugen und Streifenwagen in einer Seitenstraße des Marktplatzes eintraf. Carla und Maik stiegen aus und begaben sich zu den Kollegen, um sie einzuweisen. Hier konnten sie von den Kneipengästen nicht gesehen werden.

»Ich will die Personalien aller«, sagte Carla zu der Gruppe, die sich vor den Fahrzeugen in einem lockeren Haufen aufgestellt hatte. »Wenn euch jemand komisch kommt, mitnehmen!«

Maik gab zwei Passfotos, die er auf DIN A4 vergrößert hatte, in die Runde. Er hatte sie sich aus dem System des Einwohnermeldeamtes geholt. Als Polizist hatte er direkten Zugriff darauf.

»Das hier sind die Leute, die wir suchen«, sagte er. »Angelika Woitha und Steven Koch. Die Frau hat eine Tätowierung auf der Stirn. Irgendwas in Englisch, Frakturschrift.«

Eine blonde Polizistin mit Pagenschnitt nahm die Fotos entgegen und reichte sie herum.

»Wie habt ihr sie aufgespürt?«, fragte sie.

»Der Verkäufer eines Tank-Shops hat sie identifiziert. Denen gehört der Schuppen hier.«

Von nun an ging alles sehr schnell. Die Beamten sprangen in ihre Fahrzeuge, rasten auf den Marktplatz und bremsten dicht vor dem »Goldenen Löwen« ab.

Zwei Polizisten sicherten den Eingang, während die Kollegen damit begannen, die Personalien aufzunehmen.

Carla und Maik arbeiteten sich im Gastraum durch das Gewusel. Die Musik wurde ausgeschaltet.

»Bullerei!«, rief eine Männerstimme.

In diesem Moment flog eine volle Bierflasche auf Maik zu.

»Achtung!«, schrie Carla, und Maik konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, sodass die Flasche an der Wand zersplitterte und das schaumige Bier zu Boden lief.

»Verdammt!«, fluchte Maik.

Im Augenwinkel bemerkte Carla, wie ein schmächtiger junger Mann, der eben noch hinter dem Tresen gezapft hatte, in Windeseile durch eine Seitentür verschwand.

»Den schnapp ich mir!«, zischte Maik, noch immer wütend und geschockt darüber, dass ihn die Flasche fast am Kopf getroffen hätte. Er drängelte sich zwischen den Kneipengästen hindurch und rannte hinterher.

Mittlerweile hatte sich auch Carla durch die Menge gewühlt und einen kleinen Flur erreicht, von dem mehrere Türen abgingen. Ein Fenster stand weit offen. Vermutlich war der junge Mann hierdurch geflüchtet. Kalter Wind wehte herein.

Carla stieß eine der Türen auf.

An einem Schreibtisch saß eine kräftige Frau mit blonden Stoppelhaaren und einem Trägershirt. Sie hatte einen aufgeklappten Laptop vor sich und ließ blitzschnell etwas in der Schublade verschwinden.

Carla hielt ihre Marke hoch. »Kriminalpolizei!«

Das Gesicht der Frau ähnelte dem Passbild. Kein Zweifel, es handelte sich um Angelika Woitha. Sie hatte »Blood and Honour« auf der Stirn tätowiert. Für das deutsche »Blut und Ehre« hätte man sie strafrechtlich belangen können, aber in Englisch waren die Termini legal. Auch ihre Arme waren mit Tattoos übersät. Carla vermutete, dass es unter ihrem T-Shirt nicht anders aussah.

Angelika Woitha stand sachte auf und hob verteidigend die Hände. »Hey, hey, kein Stress! Schon mal was von Anklopfen gehört?«

Ehe Carla sich’s versah, stieß Woitha ein Fenster auf und sprang hinaus.

Carla folgte blitzschnell. Sie war zwar übergewichtig, aber nicht unsportlich, sonst hätte man sie gar nicht bei der Polizei genommen. In ihrer Kindheit hatte sie oft Fußball gespielt, und auch heute noch bolzte sie leidenschaftlich gerne mit Toni. Außerdem ging sie einmal wöchentlich zum Badminton.

Ihr Sprung endete in einem Hinterhof, wo Angelika Woitha gerade durch eine Tür verschwand. Carla rannte hinterher und landete in einer menschenleeren kopfsteinbepflasterten Straße. Woitha hastete davon. Ihre Schritte hallten durch die abendliche Stille.

Carla nahm die Verfolgung auf und hatte das Gefühl, nicht mithalten zu können. Woitha war zwar bullig, aber schnell. Doch nach einer Weile merkte Carla, dass sie aufholte.

Als sie Woitha erreicht hatte, packte sie sie am Kragen und brachte sie mit einem gezielten Griff zu Boden.

»Netter Versuch«, keuchte sie völlig außer Atem und legte Woitha Handschellen an. »Aber leider erfolglos.«

Zurück am Büro des »Goldenen Löwen« versetzte sie Woitha einen Stoß, sodass sie in den Raum stolperte. Auf einem Stuhl saß ein schmächtiger junger Mann, ebenfalls in Handschellen. Dem Aussehen nach handelte es sich um den zweiten Gesuchten, Steven Koch. Maik stand neben ihm.

»Kennen Sie einen Mann namens Nico Römer?«, fragte Carla schnaufend die beiden Verdächtigen, die sich unwillkürlich einen Blick zuwarfen und Carla damit signalisierten, dass sie die Richtigen geschnappt hatten.

»Nie gehört«, sagte Woitha.

»Das glaube ich nicht«, sagte Carla und ging zum Schreibtisch, wo sie die Schublade öffnete.

»Hey! Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, oder was?«, brüllte Woitha.

»Das heißt Durchsuchungsbeschluss«, murmelte Carla mehr zu sich selbst und holte ein weißes iPhone aus der Schublade.

»Ist das Ihr Handy?«

»Nee. Das gehört dem Bundespräsidenten!«

Carla nahm Woitha die Handschellen ab und hielt ihr das Telefon vor die Nase. »Entsperren Sie es!«

Woitha nahm das iPhone zögerlich in die Hand und fuchtelte unschlüssig damit herum.

»Wessen Handy ist das?«, fragte Carla.

»Das geht Sie gar nichts an!«

»Seit wann ist es verboten, ein Smartphone zu haben?«, motzte Steven Koch.

»Sie können so viele Smartphones besitzen, wie Sie lustig sind«, mischte sich Maik ein. »Aber das hier ist nicht Ihres. Das gehört jemandem, der Sie dabei gefilmt hat, wie Sie ein Computergeschäft kurz und klein geschlagen haben.«

Die Verdächtigen warfen sich noch einmal einen verräterischen Blick zu, sodass Carla Gewissheit hatte, auf der richtigen Spur zu sein. Sie würde beide im Kommissariat getrennt befragen. Vielleicht konnte der Fall schneller gelöst werden als gedacht.

Tod in der Schorfheide

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