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Dienstag, Woche eins

Maik tastete auf dem Nachttisch nach dem Smartphone, dessen Klingeln ihn gerade aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Er war erst gegen vier Uhr in der Früh ins Bett gekommen. Auf dem Display erschien eine Nummer aus dem Kommissariat. Er wartete einige Sekunden, bis er sich einigermaßen gefangen hatte, dann nahm er das Gespräch an.

»Maik Frosch?«

»Oje, klingst du scheiße. Ich bin’s, Stefan. Hast du noch gepennt?«

Stefan Reuter war ein Kollege vom Branddezernat. Maik und er hatten zusammen ihren Bachelor of Arts im Polizeivollzugsdienst absolviert.

»Hi, Kumpel«, krächzte Maik und schielte zur Seite. Der Platz neben ihm war leer. Lydia musste schon aufgestanden sein. »Was gibt’s so früh?«

»Es geht um den Mord in Kappe. Bin im Abschnitt ›Auswertung‹.«

Maik konnte Stefans Stimmlage entnehmen, dass er nicht allzu glücklich über seinen Einsatz war. Vermutlich wäre er lieber im Ermittlungsteam gelandet.

»Hast du schon die Zeitung gelesen?«, fuhr Stefan fort. »Klasse Pressearbeit, die ihr da gestartet habt! Bei uns tanzen die Telefone Hip-Hop. Da ist ein Hinweis, den ich nicht einschätzen kann. Ich dachte, dass du am frühen Morgen bestimmt Bock hast, da mal hinzufahren. So wie du dich anhörst, hab ich ins Schwarze getroffen, stimmt’s?«

»Nu sag schon!«

»Eine Frau aus Wesendorf. Will in der Tatnacht ein Auto beobachtet haben. Wenn du mich fragst: Die hat zwei an der Waffel. Fragte, ob wir ihr einen hübschen Polizisten vorbeischicken würden. Sie bräuchte mal was fürs Auge. Da dachte ich natürlich gleich an dich, mein Schnuckelhase.«

Maik stöhnte und nahm das gerahmte Foto von Lydia, das auf seinem Nachttisch stand, in die Hand.

»Gab’s noch andere Anrufe?«, sagte er und betrachtete seine Frau. Das Bild zeigte sie an der Playa de La Concha – in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub. Knackige Bikinifigur, Sommersprossen, dichtes, lockiges Haar. Er würde gerne mit ihr schlafen. Hier und jetzt. Aber leider hatte Lydia in letzter Zeit kaum Lust.

»Nichts krass Wichtiges«, sagte Stefan gelangweilt. »Dass man Nico Römer letzte Woche im Supermarkt gesehen hat. Der übliche Schwachsinn, die Leute wollen sich interessant machen.«

»Okay«, sagte Maik und stellte das Bild zurück. »Ich rede mal mit der Zeugin.«

Nachdem er aufgelegt hatte, hörte er, dass in der Küche die Kaffeemaschine brodelte und Geschirr klapperte. Er wollte gerade aufstehen, da kam Anna ins Zimmer. Sie trug noch ihren Schlafanzug, hatte ihren Stoffaffen in der Hand und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Lydias Brille.

»Jetzt sehe ich aus wie Mama«, sagte sie und krabbelte auf seine nackte Brust.

»Das ist nicht gut für deine Augen, schöne Frau! Ich wette, du kannst kaum was sehen.«

»Kann denn Mama was sehen?«

»Die Gläser sind extra für sie gemacht worden.« Maik verschränkte die Arme hinter dem Kopf und bewegte seinen Körper. »Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben, fällt er in den Sumpf …«

Anna kreischte vor Vergnügen.

»Könntest du bitte eine geschlechtergerechte Sprache benutzen?«, sagte Lydia, die mit einem Stapel gefalteter Handtücher ins Schlafzimmer geeilt kam. Vermutlich war sie wieder spät dran. Sie studierte Sozialarbeit und machte zurzeit ein Praktikum beim Jugendamt, wo sie hoffte, später mal übernommen zu werden. Seitdem war sie ständig unter Druck und gereizt.

Maik verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte, und beendete das Spiel. Dann begriff er es.

»Aber wie hört sich das denn an? Hoppe, hoppe, Reiter:in, wenn sie fällt, dann … Das reimt sich doch überhaupt nicht.«

Lydia öffnete die Kleiderschranktür und drehte sich zu ihm um. »Mein Gott, Maik, dann denk dir was aus! Studien belegen, dass Frauen aufgrund der sprachlichen Benachteiligung weniger Selbstvertrauen haben als Männer. Das müsste doch selbst dir einleuchten! Und transidente und nonbinäre Menschen wollen auch wahrgenommen werden.«

Maik stieß einen gewaltigen Seufzer aus. Transident und non-binär. Was man heutzutage bei »Hoppe, hoppe, Reiter« alles bedenken musste.

»Im Übrigen stört es mich, dass du Anna mit meiner Sonnenbrille spielen lässt«, sagte sie, während sie die Handtücher energisch im Schrank verstaute. »Es ist nicht gut für ihre Augen, und das Ding war sauteuer.«

»Nun reg dich doch nicht gleich so auf. Deine Brille und Annas Augen werden das schon überleben.«

Nachdem Lydia verschwunden war, nahm er seiner Tochter die Sonnenbrille ab und legte sie neben Lydias Foto auf den Nachttisch. Dann hob er das Kind in die Luft. »So, meine kleine Prinzessin. Jetzt geht’s ab in die Kita.«

»Ich hab dich lieb«, sagte Anna, und Maik ließ sie ein Stück runter, sodass sich ihre Gesichter berührten. Sie küsste ihn auf den Mund.

»Ich hab dich auch lieb«, sagte er lächelnd.

»Mama hab ich auch lieb.«

»Du hast uns beide lieb.«

Anna beugte sich dicht zu seinem Ohr. »Aber dich hab ich ein bisschen mehr lieb«, flüsterte sie, und Maik musste laut auflachen.

***

Auf der Fahrt nach Wesendorf dachte er an die beiden Neonazis, die sich bedauerlicherweise als Fehlspur erwiesen hatten. Die Vernehmungen hatten bis tief in die Nacht gedauert, und es war Carla und Maik schließlich gelungen, die beiden Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen – zumindest, was den Einbruch und die Sachbeschädigung betraf. Sie hatten zugegeben, die Geschäftsräume des Ermordeten und seines Kompagnons verwüstet zu haben. Angeblich hatten sie ihren Computer zurückhaben wollen, den der Ermordete jedoch zu Reparaturzwecken mit nach Hause genommen hatte. Es würde Maik nicht wundern, wenn sie allerhand kriminelles Zeug darauf finden würden. Allerdings war es fraglich, ob der Computer überhaupt wiederhergestellt werden konnte. Die Flammen hatten alle technischen Geräte im Haus zerstört.

Was den Mord betraf, so hatten die Verdächtigen jegliche Beteiligung bestritten. Sie hatten ausgesagt, Nico Römers Haus nicht gefunden zu haben. Maik hatte das überprüft. Die Adresse des Ermordeten tauchte tatsächlich nirgends auf. Auch nicht im Impressum seiner Website.

Die eigentlich spannende Frage kreiste um Nico Römers Rückzug wenige Tage vor seinem Tod. Warum war er nicht mehr im Geschäft erschienen? Warum hatte er Computer weder repariert noch ausgeliefert? Warum hatte ihn sein Geschäftspartner nicht antreffen können, obwohl Römer angeblich krank gewesen war?

Maik parkte seinen Wagen vor einer schäbigen Mietskaserne aus den sechziger Jahren. Sollte die Zeugin tatsächlich ein verdächtiges Fahrzeug entdeckt haben, könnte ihre Aussage von Bedeutung sein, denn die Straße vor ihrem Haus führte direkt in das Waldgebiet, das Kappe umschloss.

Er warf noch schnell einen Blick in die Zeitungen, die er sich unterwegs gekauft hatte. Die Presse hatte gut mitgearbeitet. Es wurde nach Zeugen gesucht, die etwas Verdächtiges beobachtet hatten, aber der qualvolle Tod des Opfers wurde nicht erwähnt. Aus ermittlungstaktischen Gründen hatten sie diese Informationen noch nicht freigegeben. Sie wollten erst die Zusammenhänge und Hintergründe besser verstehen.

Maik legte die Zeitung auf den Beifahrersitz und stieg aus.

Weniger als zwei Minuten später stand er in einem Wohnzimmer, wo es nach einer Mischung aus Mittagessen und Penaten-Creme roch. Die Frau, die ihn hereingelassen hatte, ging an einem Stock und trug eine eierschalenweiße Strickjacke, die von ihrer Hautfarbe kaum zu unterscheiden war. Sie hieß Gerda Block. Ihre fettigen grauen Haare hingen nachlässig bis zu den Schultern herab.

»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. »In meinem Alter kriegt man nicht mehr so oft Besuch. Jedenfalls nicht von so einem hübschen Kommissar. Und wie jung er ist. Nicht älter als dreißig, habe ich recht?«

Er antwortete nicht, denn sein Alter tat hier nichts zur Sache. Stattdessen lächelte er gequält.

Am Tisch saß ein alter Mann, der vermutlich der Ehemann der Zeugin war und versuchte, etwas Breiartiges zu essen. Seine Hände zitterten, und er schaffte es kaum, den Löffel zum Mund zu führen. Der Brei lief seine Mundwinkel herunter.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte die Zeugin zu Maik, während sie ihrem Mann den Teller wegnahm. »Altes Schwein! Kannst du nicht vernünftig essen?«

Mit einem Taschentuch wischte sie ihm schroff den Mund sauber. Während sie den Teller in die Küche brachte, sah der Mann zu Maik rüber. Sein Kopf wackelte und seine Hände standen in einer seltsam starren Haltung in der Luft.

Maik nickte ihm einen Gruß zu.

»Wegen mir hätten Sie ihm das Essen nicht wegnehmen müssen«, sagte er, als die alte Frau aus der Küche zurückkam.

»Aber wegen mir! Parkinson. Sabbert mir die Bude voll. Der Vorteil ist nur, dass er mich nicht mehr vollplappern kann.«

Maik sah die Zeugin entsetzt an.

»Ach was, sparen Sie sich Ihr Mitleid! Sie wissen ja nicht, was er mit mir angestellt hat, als er noch dazu imstande war. Es geht eben doch gerecht zu im Leben. Möchten Sie was trinken?«

Um Gottes willen, dachte Maik.

»Sie haben uns angerufen, weil Sie ein Auto beobachtet haben?«

»Richtig.«

Gerda Block humpelte zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und öffnete es. Die frische Luft war eine Wohltat.

»Kommen Sie her«, kommandierte sie.

Sie schauten beide hinaus.

Linker Hand verlor sich die Straße im Wald, während zur anderen Seite der Ort lag.

Die Zeugin zeigte mit ihrem Stock auf die Straße. »Samstagnacht war ich noch kurz draußen. Plötzlich sehe ich einen Wagen, der auffällig langsam fährt. So, als sei der Fahrer nicht von hier. Als suche er etwas.«

»Um welche Uhrzeit war das?«

»So um halb zwölf. Dann drehe ich immer meine Gute-Nacht-Runde. Jedenfalls gehe ich zu dem Wagen, weil ich dem Fahrer helfen wollte. Ich klopfe an die Scheibe, und was macht der Kerl? Gibt Gas. Ich sag Ihnen, der wollte nicht erkannt werden. Nach etwa hundert Metern bremst er erneut. Und dann plötzlich braust er davon. Die ganze Situation war irgendwie unheimlich, wenn Sie mich fragen.«

»Haben Sie das Kennzeichen?«

»OPR, mehr nicht. Die Augen lassen nach im Alter. Wie der Rest eben auch.«

»Ostprignitz-Ruppin«, murmelte Maik. »Und die Automarke?«

»Ach, wissen Sie, von Autos habe ich überhaupt keine Ahnung.« Sie hinkte zu einem Tischchen, auf dem allerhand Krimskrams lag. »Auf jeden Fall war es so ein großer schwarzer Wagen.«

»Wie groß? Van, SUV, Kombi?«

Gerda Block zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Mein Sohn hat genauso eins.«

»Was für eine Marke fährt Ihr Sohn denn?«

»Woher soll ich das wissen? Ich sagte doch, ich kenne mich mit Autos nicht aus.«

Maik verlor die Geduld. »Würde es Ihnen was ausmachen, Ihren Sohn anzurufen und ihn nach seiner Automarke zu fragen – bitte?«

»Junger Mann. Wenn Sie sich aufregen, sind Sie nur halb so hübsch.« Sie reichte ihm einen Zettel, auf dem handgeschrieben »VW Tiguan« stand. »Natürlich hab ich meinen Sohn gefragt. Für wie blöd halten Sie mich?«

Maik nickte betreten. »Danke, das hilft uns weiter. Sagen Sie, Sie sprechen andauernd von einem Mann. Haben Sie den Fahrer erkannt?«

»Ach wo, dafür war es viel zu dunkel. Außerdem haben seine Scheinwerfer geblendet.«

»Aber wie kommen Sie darauf, dass es ein Er war?«

»Weil eine Frau einen solchen Mord nicht begehen würde.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na ja. Handschellen anlegen und bei lebendigem Leib verbrennen. Welche Frau macht denn so was!«

»Woher wissen Sie das? Die Zeitungen haben nichts darüber geschrieben.«

Gerda Block lachte schallend und ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Glauben Sie allen Ernstes, in einem Dorf könnte man so etwas verheimlichen? Fragen Sie Ihre Kollegen. Irgendjemand wird gesungen haben.«

Maik bedankte sich bei der Zeugin, verabschiedete sich und war froh, wieder frische Luft atmen zu können.

Tod in der Schorfheide

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