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Kapitel 4
ОглавлениеAlicia Ulbrecht war erst neun Jahre alt, und es gab viele Dinge, die sie verwirrten. Aber einer Sache war sie sich hundertprozentig sicher: Ihr Daddy konnte sie vor allem beschützen, besonders vor Gewittern. Ihrer Einschätzung nach wusste er mehr über das Wetter als irgendjemand sonst auf der ganzen Welt.
Das Problem war jedoch, dass ihr Vater jedes Mal, wenn ein Sturm kam, seine Kamera ergriff und mit dem Wagen wegfuhr, um ihn sich aus der Nähe anzusehen. Alicia und ihre Mutter mussten immer daheimbleiben und auf sich selbst aufpassen. Später kam er dann wieder nach Hause und erzählte Geschichten über erstaunliche und schreckliche Dinge, die er gesehen hatte, wie zum Beispiel Bäume und Autos, die wie Spielzeuge herumgewirbelt wurden, und Häuser, die aus ihren Fundamenten herausgerissen worden waren. Manchmal zeigte er ihr sogar Fotos. Es waren Bilder, die ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken trieben. Ihre Lieblings-Tornados waren die, die schlank, dunkel und unheimlich waren und sich gegen den gelben Himmel abzeichneten.
Doch heute waren die Stürme nicht irgendwo dort draußen. Sie kamen direkt in die Stadt, so nahe, dass der Mann im Fernsehen erklärt hatte, dass eine LEBENSBEDROHENDE GEFAHR FÜR WICHITA FALLS BESTAND. Und ihr Vater war nirgendwo zu finden.
In ihrem späteren Leben fragte sie sich immer wieder, ob ihre Unfähigkeit, Beziehungen aufrechtzuerhalten, auf das Gefühl des Verlassenseins zurückzuführen war, das sie in diesem Augenblick empfunden hatte. Vielleicht war sie zu der Überzeugung gelangt, dass selbst in Männern mit sehr guten Charaktereigenschaften ein instinktiver Drang zum Nomadentum steckte, der sie dazu zwang, sie irgendwann zu verlassen und sich woanders umzusehen. Dieses Gefühl sollte sich später noch verstärken, als ihre Mutter krank wurde und zu einem Pflegefall wurde. Selbst dann konnte ihr Vater es nicht über sich bringen, mit dem Reisen aufzuhören oder jemanden zu engagieren, der sich um sie kümmerte. Er erwartete einfach von Alicia, dass sie half, und natürlich tat sie das auch. Sie hätte ihm schließlich niemals etwas abschlagen können.
Im Augenblick war ihre Mutter ziemlich von der Rolle. Sie rannte ständig in den Hof, um nach ihrem Gatten Ausschau zu halten, und kam dann wieder rein, um nach Alicia zu sehen. Es wäre komisch gewesen, ihr dabei zuzuschauen, wenn es draußen nicht so dunkel gewesen wäre, wenn der Wind nicht so geheult hätte und die Tornado-Sirenen nicht wie gigantische Geister gejault hätten.
»Wo ist er denn nur?«, schrie seine Mutter. »Er sagte, dass er zurückkommen würde, wenn der Sturm zu nahe käme. Wo ist er jetzt nur?«
Alicia wusste, dass sie und ihre Mutter in die Badewanne steigen und sich mit Matratzen schützen mussten, sobald ein Tornado auf sie zukam, aber da jetzt anscheinend niemand daran dachte, stand sie stattdessen auf ihrem Bett und schaute aus dem Fenster. Von hieraus konnte sie sehen, wie sich der Sturm immer mehr näherte. So würde sie auch ihren Daddy sehen können, sobald er mit seinem Wagen in ihre Straße einbog.
Der Himmel sah aus, als ob er auf die Erde gefallen wäre. Schwarze Wolken tanzten dort mit einer Geschwindigkeit, die fast irreal war. Es war fast so, als ob man sich einen Film im Zeitraffer anschauen würde. Müll landete in ihrem Garten, Silberpapier und Pappkartons und Papier – überall lag Papier. Plötzlich war da ein seltsames Geräusch um sie herum, so wie ein mächtiger Zug, der auf ein unbekanntes, aber vorherbestimmtes Ziel zuraste. Sie stellte sich einen oder mehrere Jungen vor, die Schutz vor dem Sturm gesucht hatten. Einer der Jungen dachte, dass er vielleicht tot sei, aber sie wusste, dass er es nicht war, denn eines Tages würde sie sich in ihn verlieben. Über den Dächern der Häuser, vielleicht zwei Straßen weiter, konnte sie das gewaltige wirbelnde Monster sehen. Der Tornado ähnelte keinem der Stürme auf den Bildern, die ihr Vater ihr gezeigt hatte. Es war keine Röhre oder Trichter. Es war ein Ungeheuer mit vielen Armen; eine gewaltige Spinne, die Pirouetten drehte. Ein Auto wirbelte jetzt in der Luft herum. Blaugrünes Licht blitzte am Boden auf … schnelle Impulse … eins, zwei, drei. Das Dach eines Hauses wurde nun in die Luft gerissen und verschwand einfach. Jetzt war der Vater des Jungen tot.
»Alicia!«, schrie ihre Mutter. Ihre Stimme klang verzweifelt und so rau, als ob sie gleich sterben würde. Aber sie würden nicht sterben. Wenn man den Tornado ganz genau beobachtete, sah man, dass er sich jetzt in eine andere Richtung bewegte.
»Alicia! Wo bist du?«
»In meinem Zimmer, Mom.«
Ihre Mutter erschien und riss sie vom Fenster weg.
»Mom, was machst du denn da?«
»Wir steigen jetzt in die Badewanne!«
»Aber der Tornado ist doch schon an uns vorbeigezogen! Der kommt bestimmt nicht mehr zurück!«
Aber ihre Mutter hörte gar nicht zu. Sie trieb Alicia ins Badezimmer und setzte sie in die Badewanne.
»Mom, das ist doch blöd! Der Tornado kommt nicht hierher!«
Ihre Mutter stieg in die Wanne und zog sie in eine sitzende Position, dann schlang sie ihre Arme um sie und weinte.
»Mom, alles wird gut. Daddy sagt immer …«
»Dein Daddy ist nicht hier! Er hat uns alleingelassen.«
»Aber …«
»Sei jetzt still. Dein Daddy denkt wahrscheinlich, dass er alles über das Wetter wüsste, aber ich weiß, dass er das nicht tut. Dieses Mal tun wir das, was ich will. Niemand fragt mich jemals, was ich will!«
Später sollten sie erfahren, dass Vater irgendwo weit draußen, in der Nähe von Seymour, auf einen anderen Tornado gestoßen war, dem er mit seinem Wagen hinterhergejagt war. Dieser hatte seinen Wagen so schwer beschädigt, dass er nicht mehr fahren konnte. In dem ganzen Durcheinander, das dem Ausbruch der Tornados folgte, dauerte es Stunden, bis er von der Highway Patrol aufgelesen wurde, und Tage, bis sein Wagen geborgen wurde. Bis dahin hatte man in Wichita Falls begriffen, welche Anstrengungen notwendig sein würden, um sich von dieser Katastrophe zu erholen, und Alicia verstand zum ersten Mal in ihrem Leben, dass auch die Beziehungen von Erwachsenen – wie die Ehe ihrer Eltern – durchaus zerbrechen konnten.