Читать книгу THE BOYS OF SUMMER - Richard Cox H. - Страница 19
Kapitel 9
ОглавлениеMit seinen neununddreißig Jahren konnte sich Bob Steele nicht länger als Sportler bezeichnen, oder auch nur als gesund, und das war eine echte Schande, wenn man bedachte, dass er im Sport einst nach Größe gestrebt hatte. Wenn es jemals einen Zeitpunkt gegeben hatte, an dem man sich an diesen längst vergangenen Ruhm erinnern sollte, um ihn in etwas Produktives zu verwandeln, dann war es heute Abend. Stattdessen fühlte sich Bob, als ob alle Zellen in seinem Körper, von den Strähnen seines schütteren Haares bis zu den Spitzen seiner arthritischen Zehen vor Erschöpfung stöhnten. Als er in den Rückspiegel schaute, starrten ihn gelbe Augen an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Die Halluzinationen, die ihn jetzt fast täglich quälten, verwirrten sein Bewusstsein so gründlich, dass er inzwischen nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Verzweiflung war nicht ungewöhnlich in diesem vergessenen Teil der Welt, aber manchmal hatte Bob das Gefühl, dass sein persönliches Versagen und seine ständigen Enttäuschungen, ihm von einer äußeren Kraft aufgezwungen wurden. Sein größter Ehrgeiz – den er schon seit frühester Kindheit hatte – war, dass er ein besseres Leben führen würde als sein Arschloch von Vater, und dort Erfolg haben würde, wo diese Niete kläglich versagt hatte. Aber in fast jeder Beziehung war Bob noch schlechter dran. Seine Karriere als Footballspieler hatte sich als kompletter Fehlschlag erwiesen. Sein erbärmlicher Job als Autoverkäufer bewahrte ihn und seine Frau gerade mal vor dem Sozialamt, was ihn auch noch zu einem schlechten Ehemann machte, und obwohl Steele Senior ein Alkoholiker gewesen war, der sein ganzes Leben lang in der brutalen Hitze von Texas gearbeitet hatte, würde er wahrscheinlich seinen eigenen Sohn noch überleben.
»Was Letzteres betrifft, bin ich da gar nicht so sicher«, sagte Todd Willis vom Beifahrersitz aus. »Das Wort überleben beinhaltet nämlich, dass man lebt, und wir beide wissen, dass das für dich gar nicht gilt.«
Durch die mit Dreck verschmierte Windschutzscheibe starrte Bob misstrauisch auf das Gebäude vor ihm. Es war ein niedriges hellbraunes Haus mit einem umzäunten Grillplatz, der an die westliche Mauer angrenzte. Zwei Stunden nachdem das Restaurant für die Nacht geschlossen hatte, stieg immer noch Rauch vom Grillplatz auf, der nach Fleisch und Mesquite stank.
An diesem Ort hatte Bob zwanzig Jahre zuvor ein seltsames Geheimnis von der Welt erfahren. Damals war er jung und naiv gewesen und kaum in der Lage, den Sinn von Todds Bemerkung zu begreifen. Er war außerdem abgelenkt gewesen, denn nur wenige Minuten später hatten die fünf das Restaurant bis auf die Grundmauern abgefackelt. In den darauffolgenden Jahren hatte Bob alles getan, um diesen speziellen Sommer nach Möglichkeit zu vergessen und ein halbwegs anständiges Leben zu führen, aber jetzt sah er ein, dass seine Bemühungen von Anfang an vergeblich gewesen waren. Das hier war kein Leben. Seine gesamte Existenz war nur ein Vorspiel für diesen Augenblick gewesen; den Abend, an dem er endlich gezwungen war, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Sechzehn Jahre lang war Bob mit einer fetten Frau verheiratet gewesen, die früher einmal, auf der Highschool, sehr attraktiv gewesen war. Darlenes einziger Ehrgeiz hatte darin bestanden, Kinder zu bekommen, und als sich herausstellte, dass das aus medizinischen Gründen nicht möglich war, hatte sie sich auf die Couch zurückgezogen, wo sie nichts anderes mehr tat als sich Seifenopern und Realityshows im Fernsehen reinzuziehen. Bob hatte ihr Verhalten als Rechtfertigung für seine Seitensprünge genommen. Sein letzter war diese rothaarige Empfangsdame in der Verkaufsniederlassung gewesen, eine dreiundzwanzigjährige Frau mit weißer sommersprossiger Haut und einem riesigen Hintern. Sie hieß Sherilyn. Vor zwei Stunden war er in ihrem Apartment gewesen. Er hatte das Rattern der Fensterscheiben in den Rahmen gehört und versucht, die Kollektion von Teddybären zu ignorieren, die sie auf drei weißen Regalen über ihrem Bett aufgereiht hatte. Aber es war nicht so leicht, sie zu ignorieren, da sie die Regale mit auffälligen Girlanden aus Spitze versehen hatte, die wie Wimpel aussahen. Als Sherilyn auf Zehenspitzen zum Badezimmer gelaufen war, hatte Bob fast erwartet, dass die Bären kleine Blechinstrumente hervorholten, die amerikanische Nationalhymne spielten und dann wie Lemminge von den Regalen heruntermarschierten. Er wusste nicht, ob er allmählich den Verstand verlor oder ob er sich schuldig fühlte, weil er wieder einmal seine Frau betrogen hatte. Wahrscheinlich von beiden ein bisschen. Er hasste diese verdammten Bären.
»Diese Bären sind wie wir«, sagte Todd jetzt zu ihm. »Sie sitzen auf ihrem Hintern und tun absolut nichts, während das Leben an ihnen vorüberzieht.«
Bob wandte sich vom Restaurant ab und schaute auf den Beifahrersitz, wo Todd Willis ihn anstarrte.
»Du warst mal ein richtiger Held«, meinte Todd. »Der Quarterback, der die Old High ins Viertelfinale gebracht hat. Alle Jungs wollte so sein wie du, und alle Mädchen wollten mit dir ins Bett steigen. Warum hast du deine Träume bloß für das hier aufgegeben?«
Bob konnte sich nicht daran erinnern, wie das passiert war. Irgendwann hatte er mit Meth angefangen und seitdem waren seine Erinnerungen irgendwie sehr verschwommen. Aber schlimmer als diese verlorenen Erinnerungen war der Gedanke an seine Mutter, die jetzt irgendwo vom Himmel aus zu sehen musste, was für einen Mist er aus seinem Leben gemacht hatte. Sie hatte ihr Leben im Tornado verloren, und sein eigenes Leben hatte er praktisch verschwendet. Es war diese Ungerechtigkeit, die Bob dazu brachte, sich jeden Tag ein wenig mehr zu hassen.
»Warum bist du überhaupt hierher zurückgekommen?«, fragte er Todd nun.
Für einen langen Augenblick war das Echo seiner Stimme die einzige Antwort, und Bob fürchtete, dass er wusste warum: Er sprach mit sich selbst. In den letzten Tagen hatte er Todd an den unwahrscheinlichsten Orten gesehen … in der Verkaufsniederlassung, auf der Straße vor seinem Haus und einmal auch in einem weißen Ford Focus auf dem Southwest Parkway. Das war wohl nicht ungewöhnlich. Die Sache war nur die, dass Bob in den letzten fünfundzwanzig Jahren von Todd weder etwas gesehen noch gehört hatte. Wenn man diese Tatsache in Betracht zog, dann fragte man sich doch, wo er so plötzlich hergekommen war und warum er ihm nun praktisch überallhin zu folgen schien.
Die Erinnerung tauchte immer wieder auf, wie eine aufgezeichnete Musikschleife. Das erinnerte ihn daran, dass Todd als Kind Songs geschrieben hatte, und dass er sein Casio-Keyboard überall mit sich herumgetragen und damit ständig irgendwelche neuen und erstaunlich guten Melodien für sie gespielt hatte.
»Ich werde dir die Geschichte noch einmal erzählen«, sagte Todd schließlich.
»Was meinst du? Welche Geschichte?«
Todd lachte, und der Klang seiner Stimme im Lastwagen war irgendwie flach; ohne jede Schwingung, als ob sie in einer Art endlosen Raum erklang. In diesem Augenblick wurde Bob von einer starken Angst ergriffen, so wie er früher vor Albträumen Angst gehabt hatte.
»Wir waren The Boys of Summer«, meinte Todd. »Erinnerst du dich noch daran?«
»Das ist aber schon lange her.«
»Du bist ein Idiot oder ein Feigling.«
»Ein ziemlich starker Spruch für ein kleines Kind. Pass auf, was du sagst!«
»Ist es das, was du siehst, wenn du mich anschaust? Ein Kind? Du bist echt ein verrückter Prolet. Ist dir das klar?«
»Ich bin nicht verrückt«, erwiderte Bob automatisch. Aber Todd hatte schon irgendwie recht. Wenn die Person in diesem Laster vor fünfundzwanzig Jahren ein Kind gewesen war, wie könnte sie jetzt noch immer eines sein?
»Wenn du nicht verrückt bist«, sagte Todd, »dann verrate mir mal, was du mit dem 20-Liter-Benzinkanister hinten in deinem Wagen anfangen willst, und mit den Streichhölzern zwischen deinen Beinen.«
Bob konnte von seinem Platz aus, die Ladefläche seines Lasters nicht sehen, weil die Werkzeugkiste im Weg stand, aber als er mit der rechten Hand zwischen seine Beine tastete, war da tatsächlich eine Streichholzschachtel. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, sie dort hingelegt zu haben.
»Wir waren The Boys of Summer«, erklärte Todd, »und jetzt ist es an der Zeit, mit unserer Geschichte fortzufahren.«
»Welche Geschichte soll das denn bitteschön sein?«
Todd zeigte aus dem Fenster auf das Restaurant, aber Bob glaubte, dass er etwas anderes meinte.
»Diese Stadt hat ihr Haltbarkeitsdatum überschritten. Was könnte hier schon noch Besonderes entstehen? Irgendein zukünftiger Nobelpreisträger, ein intelligenter Schüler, der eines Tages Präsident werden wird? Nein, das Einzige, was wir hier bejubeln können, sind Sportler, die einigermaßen gut sind, wenn man sie miteinander vergleicht, aber nicht mit denen besserer Städte. Du bist das perfekte Beispiel, Bobby. Jeder wollte, dass du in die Fußstapfen deines legendären Vaters trittst, aber du hattest einfach nicht das Talent dafür.«
»Das ist doch Schwachsinn. Diese Schiedsrichter an der L.D. Bell waren total unfair. Sie haben uns überhaupt keine Chance gegeben.«
»Bobby, bitte. Du musst endlich kapieren, dass die größte Gabe, mit der du zur Welt gekommen bist, dein Name ist. Der einzige Grund, warum du für die Old High antreten durftest, war, dass dein Vater Trainer Tyler dazu überredet hat.«
Von allen Beleidigungen, die er sich jemals von Todd hatte anhören müssen, war diese die Schlimmste.
»Ich würde deinem Vater aber keine Vorwürfe deswegen machen«, fügte Todd hinzu. »Er wollte eben genauso an dich glauben wie alle anderen.«
Bob wollte einfach nicht wahrhaben, dass die wenigen ruhmreichen Tage seines Lebens, so unspektakulär sie auch gewesen waren, nicht sein eigener Verdienst waren. Wut stieg in ihm auf.
»Halt gefälligst die Klappe! Du lügst!«
»Dein Vater wollte glauben, dass sein Sohn ein Gewinner war, anstatt ein Verlierer, der seine Erwartungen nicht erfüllen konnte.«
Bob wollte Todd an die Kehle, aber seine Hände griffen einfach nur ins Leere. Als er begriff, was passiert war, war Todd schon aus dem Wagen ausgestiegen und zur Tür des Grillplatzes gegangen. Bob folgte ihm. Er humpelte und atmete schwer, doch er konnte nicht zu Todd aufholen, bevor dieser in der Dunkelheit des Grillplatzes verschwand.
In diesem Augenblick schien die Welt sich irgendwie zu verschieben. Die Realität schien sich neu zu ordnen, denn was Bob erwartet hatte, als er den dunklen Grillplatz betrat, war nicht das, was er jetzt sah. Und was er vorgehabt hatte, zu tun, war nicht das, was er jetzt tat.
Ein Mann stand vor einem der zylindrischen Barbecue-Gruben. Er hatte runde Schultern und war ziemlich übergewichtig. Sein zurückweichendes Haar war silbern, seine Haut bronzefarben und mit einem Spinnennetz aus Falten versehen. Er trug schwarze Ofenhandschuhe und enge Wrangler-Jeans mit einer gewaltigen Gürtelschnalle. Auf der Schnalle waren die Initialen KS eingraviert. Bob schien ihn offenbar dabei unterbrochen zu haben, Rinderbrüste in die Grube zu laden.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte der Mann.
»Er erkennt dich nicht einmal mehr«, flüsterte Todd in der Dunkelheit des Grillplatzes. »Na, wenn das keine Beleidigung ist, was dann?«
Bob konnte nicht verstehen, wieso sein Vater in diesem Restaurant arbeitete, und wie er in den drei Wochen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, so fett hatte werden können. Aber da stand er nun, gerade mal drei Meter entfernt.
»Ich sage Ihnen das nur einmal, Mister«, rief sein Vater. »Verlassen Sie mein Grundstück. Und zwar jetzt!«
Todd sagte mit leiser Stimme: »Ich glaube nicht, dass ein Vater so mit seinem Sohn sprechen sollte, oder? Besonders keiner, der seinen Sohn dazu gezwungen hat, Football zu spielen, wenn dieser nicht besonders begabt dafür war.«
»Du hast recht«, antwortete Bob. »Er sollte nicht so mit mir reden.«
»Vielleicht solltest du ihm das Maul stopfen«, schlug Todd vor. »Vielleicht solltest du ihm heute Abend mal klarmachen, wie du dich fühlst.«
Trotz des lebenslangen Grolls, den er gegen seinen Vater hegte, konnte Bob sich nur schwer vorstellen, ihm etwas anzutun. Als Kind waren Bob und seine Freunde fasziniert von Todd gewesen, gleichzeitig aber auch ängstlich wegen seines Schlafwandelns. Am Ende jenes Sommers war es leicht gewesen, ihn als geistesgestört abzutun … wie eine Infektion, die sozusagen auf sie abgefärbt hatte. Aber jetzt, wo Bob an jene heißen und schwülen Monate des Jahres 1983 zurückdachte, spürte er, dass etwas daran nicht stimmte. Etwas stimmte ganz gewaltig nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das, woran er sich aus jener Zeit erinnern konnte, während dieser Zeit überhaupt nicht geschehen war.
I can see you, your brown skin shining in the sun. You got your hair slicked back and those Wayfarers on, baby…
Er hörte die Musik so, wie er sie in einem Albtraum hören würde – als fernes und verzerrtes Echo. Die Musik zu verstehen, war der Schlüssel zum Verständnis dafür, warum sich sein Leben so entwickelt hatte.
»Dein Leben hat sich wegen dieses Mannes so entwickelt«, erinnerte ihn Todd jetzt. »Also worauf wartest du noch?«
Bob sah, dass sein Vater mittlerweile hinter sich gegriffen und etwas aufgehoben hatte, das wie eine große Fleischgabel aussah.
»Ich habe Sie gebeten, zu verschwinden«, sagte er. »Jetzt sorge ich selbst dafür.«
Kenny Steele kam näher und fuchtelte wild mit der Gabel herum, aber seine Bewegungen waren unsicher und zögerlich, und Bob sah, wie er diese schwierige Lage leicht für sich ausnutzen konnte. Er verminderte den Abstand zwischen ihnen, und sofort wich sein Vater zurück. Dies gab Bob die Chance, nach Kennys Arm zu greifen … dem Arm, mit dem er die Gabel hielt und ihn gegen die Steinmauer des Restaurants zu schleudern.
»Na, was machst du jetzt, Alter?«
Bob drückte seinen Vater mit beiden Armen fest gegen die Wand. Der Atem des älteren Steele roch nach Barbecue und Angst.
»Was wollen Sie von mir?«, rief er ängstlich. »Ich habe Geld. Nehmen Sie meine Brieftasche und verschwinden Sie.«
»Ich will dein Geld aber nicht, du mörderisches Stück Dreck.«
Bobs Knie schoss mit gewaltiger Kraft nach oben. Kenny Steele gab einen gurgelnden Laut von sich und sackte zu Boden.
»Du hast meine Mutter getötet, ist dir das klar? Du hast deine eigene Frau umgebracht.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, krächzte Kenny.
»Du hast sie zu Jonathans Haus gefahren, damit du mit seinem Vater eine Schlägerei anfangen konntest, und wofür das alles? Nur um mich daran zu hindern, Schach zu spielen? Das war wirklich ganz clever von dir, denn unser Haus wurde von dem Tornado nicht einmal berührt. Hast du auch nur einmal in deinem Leben bereut, was du da getan hast? Hast du jemals gesagt: Hey, Sohn, tut mir leid, dass ich deine Mutter umgebracht habe. Ich war wirklich ein Schwein, so etwas Dummes zu tun? Nein, das hast du nicht. Du warst damals ein Egoist, und du bist heute immer noch ein Egoist. Ich wünschte, du wärst tot. Ich wünschte, ich könnte dich gegen meine Mutter austauschen. Sie war eine anständige Frau, du hingegen hast dich mit der ganzen Welt verkracht. Ich hasse dich wie die Pest.«
Bob weinte jetzt und konnte kaum noch durch den Schleier seiner Tränen blicken. Sein Vater krümmte sich am Boden. Es klang so, als ob er Schwierigkeiten hätte zu atmen. Bob kniete sich neben ihm nieder.
»Vielleicht wäre ich ja nicht so ein mittelmäßiger Football-Spieler gewesen, wenn du mir beigebracht hättest, ein wenig mein Gehirn zu benutzen. Man muss nämlich nicht ständig beweisen, wer den größeren Schwanz hat.«
Aus der Dunkelheit sagte Todd nun leise: »Warum bringst du ihn nicht einfach um?«
»Ihn umbringen?«
»Du hast doch gerade gesagt, du wünschst dir, dass er tot wäre.«
»Ja, schon. Aber ich kann ihn doch nicht einfach …«
»Warum nicht? Er hat es doch auch getan. Er hat deine Mutter umgebracht.«
»Ja, aber er hat es doch nicht absichtlich …«
»Außerdem hast du nichts mehr zu verlieren. Du lebst sowieso nur noch ein paar Wochen.«
»Wieso meinst du, dass ich bald sterbe?«
»Na, nun komm schon! Deine Augen sind gelb, weil deine Leber total im Eimer ist. Du trinkst viel zu viel und du nimmst zu viel Meth. Ich wäre überrascht, wenn du in einem Monat noch leben würdest.«
»Gelbe Augen bedeuten doch nicht gleich, dass ich sterben muss.«
»Mit deiner Haut ist es dasselbe. In letzter Zeit wird dir doch auch häufig schlecht, oder?«
Bob bemerkte, dass er die Fleischgabel immer noch in seiner rechten Hand hielt. Sie zitterte leicht, während er sie hoch über der Brust seines Vaters hielt. Es stimmte, dass er sich in den letzten beiden Wochen dreimal übergeben hatte und dass er sich seit mehr als einem Monat allgemein sehr schlecht fühlte. Selbst Sherilyn hatte sich an diesem Nachmittag darüber beklagt, dass er ziemlich seltsam roch.
»Du hast also überhaupt nichts zu verlieren, und dein Vater hat alles zu gewinnen. Lässt du es zu, dass er immer die besseren Karten hat? Lässt du ihn wirklich einfach so davonkommen?«
Am Boden wurden Kenny Steeles Augen nun wieder lebendig. Er schaute nervös auf Bob und dann auf die Fleischgabel.
»Warte mal«, sagte er jetzt. »Du warst doch einer der Freunde meines Sohnes. Der Football-Spieler.«
»Halt die Schnauze«, rief Bob. »Ich war niemals ein Football-Spieler! Jedenfalls kein richtiger.«
»Mach es einfach«, drängte ihn Todd. »Bring ihn um. Er respektiert dich nicht, und du bist lange tot, bevor sie dir den Prozess machen.«
»Warte!«, rief sein Vater jetzt. »Du bist Bobby Steele. Ich kenne deinen Vater! Er kommt ständig hier rein, und ich weiß, dass er seinen Sohn liebt. Bitte!«
»Wovon redet der eigentlich?«, stöhnte Bob. Er sah seinen Vater absichtlich nicht an. Er wollte die Angst nicht sehen, die sich jetzt zweifellos in seinem Gesicht spiegelte. »Warum erzählt er so einen Mist?«
»Er ist verzweifelt«, erklärte Todd. »Er würde alles erzählen, um mit heiler Haut hier raus zu kommen, aber dann geht er direkt zur Polizei. Also wird er erneut gewinnen, und du bist wieder der Dumme. So wie immer.«
»Bitte, Bobby«, rief sein Vater. »Du und mein Sohn, ihr seid zusammen aufgewachsen. Du bist ein guter Junge. Das weiß ich.«
»Er glaubt, er sei etwas Besseres als du, Bobby. Das wird er immer glauben.«
»Bitte«, schrie Kenny Steele.
»Bring ihn um!«
Schließlich ließ Bob die Gabel mit aller Kraft niederfahren, um die Stimme endlich zum Schweigen zu bringen. Sein rechter Arm (sein Wurfarm) schwang in einem weiten Bogen und die beiden Silberzinken stießen tief in Kennys Brust. Der Mund des alten Mannes öffnete sich unwillkürlich, aber statt eines Schreis kam nur Blut hervor und er stammelte etwas Unverständliches. Bob stieß sich von ihm ab und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.
Die verspätete Rache kam nach neunundzwanzig Jahren etwas verspätet, aber er hatte dennoch ein befriedigendes Gefühl. Jetzt brauchte er allerdings dringend eine Atempause.
Neben ihm auf dem Boden gab Kenny Steele gurgelnde Geräusche von sich. Er ergriff die Gabel, die in seiner Brust steckte, doch sie schien sich nicht zu bewegen. Sein blaues Hemd war mit Blut verschmiert, und Blut sammelte sich auch in seinem Mund und tröpfelte an seinen Wangen hinunter.
Die Barbecue-Grube war immer noch offen. Es war ein etwa drei Meter großer, auf der Spitze stehender Zylinder mit einem Durchmesser von ungefähr zwei Metern. Auf dem Boden brannte ein Feuer. Da sich niemand darum kümmerte und alle Türen offen waren, war das Feuer darin immer stärker geworden. Es brannte mittlerweile entlang des Zylinderrands und erinnerte Bob an den Abend vor fünfundzwanzig Jahren, als sie das gesamte Restaurant abgefackelt hatten.
Es erinnerte ihn auch daran, dass Todd Willis in der Barbecue-Grube geblieben war.
»Todd«, sagte er. »Es gibt da etwas, was ich dich fragen muss. Ich meine über die Nacht, als wir dieses Haus niedergebrannt haben. Irgendetwas hast du mir damals gesagt, an das ich mich aber nicht mehr erinnern kann.«
Neben ihm auf dem Boden öffnete sich der Mund seines Vaters, als ob er etwas sagen wollte, aber stattdessen erklang nur ein Röcheln. Er hustete noch etwas Blut, dann hörte er auf zu atmen. Das war also erledigt.
Vielleicht hätte ihm das Ganze leidtun sollen, aber stattdessen fragte sich Bob, wo die Silberschnalle hergekommen war. Er hatte noch nie zuvor gesehen, dass sein Vater etwas mit einem Monogramm getragen hatte.
Mit den Initialen stimmte außerdem etwas nicht. Statt KS sahen sie plötzlich aus wie FC.
Bob fragte sich wieder, wie es möglich war, dass sein Vater im letzten Monat so fett geworden war. Sein ganzes Leben lang war er stark und schlank gewesen. Jetzt sah er aus wie irgend so ein Prolet mit einem Bierbauch.
»Todd«, sagte Bob. »Kannst du mal rüberkommen und dir meinen Vater ansehen? Irgendwas stimmt nicht mit ihm.«
Wieder kam keine Antwort von Todd.
Doch Bob konnte nicht ewig hier sitzenbleiben. Er hatte etwas Schreckliches getan, und jetzt musste er sich überlegen, wie er unerkannt davonkommen könnte. Sein Laster stand schon seit geraumer Zeit auf dem Parkplatz des Restaurants. Inzwischen musste er doch jemandem aufgefallen sein.
Mit einiger Willenskraft richtete er seinen Blick von der Brust seines Vaters auf dessen Gesicht.
Aber das war gar nicht Kenny Steele, der da auf dem Boden lag! Es war Fred Clark, der Besitzer des Restaurants und Vater von David Clark, Bobbys Freund aus der Kindheit, der heute ein Internet-Milliardär war.
Er vermutete, dass er das insgeheim vielleicht schon die ganze Zeit über gewusst hatte. Es hätte für jeden offensichtlich sein müssen, der die Situation beobachtet hatte. Aber Bob hatte es trotzdem getan. Er hatte einen Mann umgebracht, der gar nicht sein Vater war.
Irgendwie war das überhaupt nicht überraschend. Irgendwie war dieses Ergebnis schon vor langer Zeit festgelegt worden.
In der Nacht, als das Restaurant niederbrannte und sie noch Kinder waren, hatte Bob etwas erfahren, an das er sich jetzt nicht mehr so richtig erinnern konnte. Woran er sich allerdings noch gut erinnern konnte, war, dass mit der Welt etwas nicht stimmte, und an diesem Ort war etwas ganz besonders falsch. Sein Vater war nicht in dieser Barbecue-Grube, und Bob war sich auch nicht mehr ganz sicher, ob er noch hier war, oder ob er es jemals gewesen war.
I will never forget these nights. I wonder if it was a dream …
Bob stand auf. Er verließ den Grillplatz und ging zurück zu seinem Wagen. Er holte den Benzinkanister von der Ladefläche und die Schachtel Streichhölzer vom Vordersitz. Als er den Grillplatz wieder erreichte, steckte er die Streichholzschachtel in seine Gesäßtasche und schraubte den Deckel des Kanisters auf. Mit weit ausholenden Bewegungen, als wäre er ein Maler, der Farbe auf eine Leinwand streicht, begann er, Benzin über dem Boden zu verteilen. Er schüttete eine große Menge über die Leiche von Fred Clark und dann gegen die Wände des Gebäudes. Die Tür war nicht verschlossen, also kippte er auch Benzin in den Geschirrspülraum, die Küche und den Essraum. Seine Füße waren inzwischen ebenfalls mit Benzin getränkt und eine Menge war auch auf seiner Kleidung. Trotzdem griff er in seine Tasche und holte die Streichholzschachtel heraus.
Das war es also. Sobald sich das Streichholz entzündete und das Feuer brannte, wäre alles vorbei. All seine Fehler und sein gesamtes Versagen würden durch diese Tat ausgelöscht werden. Alles, was er zu tun hatte, war, seine Rolle zu spielen.
Bob öffnete die Schachtel und entnahm ihr ein einzelnes Streichholz. Er hielt das Streichholz und fragte sich, ob er wirklich den Mut haben würde, diese ganze Sache durchzuziehen.
I can tell you my love for you will still be strong after the Boys of Summer have gone …
Er brachte den Mut schließlich auf, indem er sich vorstellte, dass er das Gesicht seiner Mutter sehen würde, wenn alles vorbei war. Er hoffte, dass sie es verstehen würde, und er hoffte, dass sie ihn trotz allem immer noch lieben würde.
»Hey, Sie da!«, rief jemand. »Was zum Teufel machen Sie da?«
Die Stimme kam von hinten, und er dachte, dass es seine Mutter wäre, die gekommen war, um ihn von dem abzubringen, was er jetzt vorhatte. Aber als er sich umdrehte, stand da plötzlich ein Mann. Es war ein Polizeibeamter, der im Eingang zur Barbecue-Grube stand, ein ziemlich korpulenter Typ, dessen unsicherer Blick nicht ganz zu seinem entschlossenen Auftreten passte.
Bob stellte sich noch einmal das Gesicht seiner Mutter vor … ihr ständig besorgtes sanftes Gesicht. Er konnte es gar nicht erwarten, sie zu sehen und zu fühlen, wie sie ihre Arme um ihn schlang.
Er hielt die Streichholzschachtel in die Höhe, damit der Beamte sie sehen konnte, und zeigte ihm das Streichholz.
»Lassen Sie das sofort fallen! Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann!«
Der Beamte griff zögernd nach seiner Waffe. An der Unsicherheit in seinen Augen konnte Bob erkennen, dass der Typ ihn so oder so nicht erschießen würde. Er hatte ebenso viel Angst wie jeder andere, aber er richtete dennoch eine Waffe auf ihn.
»Lassen Sie das sein!«, schrie der Beamte. Die Waffe zitterte deutlich in seiner Hand, als wäre sie ein Tier, das sich von ihm befreien wollte.
Dann, im allerletzten Moment, erinnerte sich Bob daran, was in der Barbecue-Grube passiert war, als sie noch Kinder gewesen waren. Er erinnerte sich wieder genau daran, was Todd ihnen gesagt hatte. Diese Erinnerung erfüllte ihn mit einem so unerwarteten Gefühl des Erfolgs und der Freude, dass er einen Lachkrampf bekam, der tief in ihm begann und so stark zur Oberfläche drängte und aus seinem Mund heraussprudelte, wie Erdöl, das tief aus der Erde kam und schon bald jemanden sehr reich machen würde.
»Es tut mir leid«, sagte Bob zu dem Beamten, und bevor er es verhindern konnte, brach er erneut in ein unkontrollierbares Lachen aus, ein mächtiger Sturm, der diesen ruhigen Ort vollkommen überwältigte. Der Beamte war zuerst verwirrt, doch dann verwandelte sich seine Unsicherheit in eine schreckliche Gewissheit. Doch Bob konnte sich an keinen glücklicheren Moment in seinem ganzen Leben erinnern. Nachdem er all die Jahre im Schatten seines Vaters verbracht hatte, war Bob Steele jetzt endlich dabei, ins Licht zu treten und als der Bessere der beiden erkannt zu werden.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Todd meinte schon, dass es so enden würde.«
Bob entzündete das Streichholz und warf es in die Luft. Das winzige Streichholz schien vor seine Augen zu schweben, dann drehte es sich in Zeitlupe in der Luft, und als die erste Kugel in seiner Brust einschlug, fühlte Bob so etwas wie Ekstase.
Flammen schossen aus dem Nichts empor und tanzten vor ihm wie ein Wirbel. Er fiel zu Boden und wurde sofort vom Feuer erfasst.
Doch er starb lächelnd.