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Kapitel 6

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Für Todd Willis war die weiße Leere nicht besonders beängstigend. Sie erzeugte keinerlei emotionale Reaktion bei ihm. Sie existierte einfach, und jetzt existierte er in ihr.

Kurz bevor er hier eintraf, hatte Todd versucht, die Unterschrift seiner Mutter unter einem Schulzeugnis zu fälschen, während sie am Telefon mit seinem Dad redete, der immer noch auf der Arbeit war. Anscheinend hatten die beiden sich über Fenster unterhalten, denn nachdem das Gespräch beendet war, war seine Mutter eilig von einem Zimmer ins andere gelaufen, um jedes Fenster im Haus zu öffnen. Dieses Verhalten seiner Mutter beunruhigte ihn noch mehr als der sich nähernde Tornado, denn er hatte noch nie zuvor erlebt, dass sie aus irgendeinem Grund so gerannt wäre.

Im Fernsehen gab der Mann von der Wetterkarte nun laute Geräusche von sich. Er schien selbst ziemliche Angst zu haben, und auch das erlebte Todd zum ersten Mal. Sobald sämtliche Fenster geöffnet waren, holte seine Mutter einige Decken aus dem Wäscheschrank und brachte sie ins Badezimmer. Sie legten sich kurz darauf zusammen in die Wanne. Sie zitterte wie Espenlaub, sagte ihm aber gleichzeitig, dass er sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Sie versicherte ihm, dass alles gut werden würde.

Aber dann kam der Sturm und das Brausen, und als seine Mutter anfing zu weinen, wusste er, dass sie genauso viel Angst hatte wie er. Er ergriff ihre Hand, als plötzlich alles wie wild zu beben begann.

Doch dann hörte der Lärm ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Es war so, als ob jemand ein Tonband abgespielt und es dann abgestellt hätte, so, als ob jemand eine gigantische STOP-Taste gedrückt hätte, mit der sämtliche Geräusche in der Welt abgestellt wurden.

Jetzt war da nur noch diese weiße Leere. Er konnte weder etwas sehen noch etwas hören, und er fragte sich, ob sie jetzt tot waren.

Nach einiger Zeit – er konnte nicht sagen, wie lange es gedauert hatte – kam es Todd so vor, als ob er doch wieder etwas hören könnte. Es war so, also ob jemand mit den Fingern auf einen Schreibtisch oder mit einem Stock auf den Boden klopfen würde. Zuerst dachte er, dass er sich das nur einbilden würde, aber später hörte er das Geräusch noch einmal, dieses Mal ein wenig lauter, und schließlich wusste er, dass das, was er da hörte, wirklich Musik war.

Irgendwo lauschte irgendjemand dieser Musik. Es war ein Rock-Song, etwas, das er noch nie zuvor gehört hatte. Als er sich in der weißen Leere umschaute, in der immer noch keine Formen, Farben oder Schatten irgendwelcher Art zu erkennen waren, konnte er sich nicht vorstellen, woher dieser Song kam oder wie er seine Quelle ausfindig machen konnte. Wenn jemand diesem Song zuhörte, dann folgte daraus doch, dass noch jemand anders hier sein musste … jemand, mit dem er sich unterhalten konnte … wenn er nur herausfinden könnte, wie er ihn oder sie fand.

Der schwermütige Text schien jedoch sämtliche Hoffnungen auf Gesellschaft zu zerstören.

Nobody on the road

Nobody on the beach

I feel it in the air

The summer‘s out of reach

Empty lake, empty streets

The sun goes down alone

I‘m driving by your house

Though I know you‘re not home.

Niemand auf der Straße

Niemand am Strand

Ich spüre es in der Luft.

Der Sommer ist außer Sicht.

Leerer See, leere Straßen.

Die Sonne geht einsam unter.

Ich fahre zu deinem Haus.

obwohl ich weiß, dass du nicht da bist.

Mit seinen gerade mal neun Jahren hatte sich Todd bisher nicht allzu viele Gedanken über seine Moral gemacht. Der Tod war etwas, das nur in Filmen vorkam, und selbst dann war er irgendwie unverständlich. Darth Vader hatte Obi-Wan Kenobi mit seinem roten Lichtschwert getötet. Damit hätte er den alten Mann eigentlich in zwei Hälften teilen müssen, aber es gab kein Blut und keine Leiche, und auch sonst nichts, was man mit dem Tod in Zusammenhang bringen könnte. Wo war Obi-Wan hingegangen? An einen solchen Ort wie diesen? War Todd jetzt auch tot?

Und immer noch hörte er diesen Song.

A little voice inside my head said

»Don‘t look back. You can never look back.«

I thought I knew what love was

What did I know?

These days are gone forever

I should just let them go, but …

Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte.

»Schau nicht zurück. Du solltest niemals zurückschauen.«

Ich dachte, ich wüsste, was Liebe ist.

Aber was wusste ich schon?

Diese Tage sind für immer vorüber.

Ich sollte sie einfach vergessen, aber …

Vielleicht war er ja ein Geist, der zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten gefangen war. Wenn er nur lange genug wartete, würde die weiße Leere vielleicht allmählich verschwinden und etwas ganz Wunderbares enthüllen. Vielleicht war sein Aufenthalt hier ja eine Art Willensprüfung, um festzustellen, ob er für das ewige Leben geeignet war. Er fragte sich, ob der Song im Hintergrund irgendeine Art Schlüssel war.

I can see you

Your brown skin shining in the sun

You got that top pulled down and that radio on, baby

And I can tell you my love for you will still be Strong.

After the boys of summer have gone

Ich kann dich sehen.

Deine braune Haut, die in der Sonne glänzt.

Du hast dein Oberteil heruntergezogen und das Radio an, Baby.

Und ich kann dir sagen, dass meine Liebe für dich immer noch stark sein wird.

nachdem die Boys of Summer schon lange weg sind.

Wenn dieser Ort wirklich eine Willensprüfung war, dann würde Todd sie bestehen. Unter den Neunjährigen war er einer der stärkeren. Er war sehr geduldig, und er konnte lange warten, wenn es notwendig war.

Aber schließlich dauerte die Wartezeit doch sehr viel länger, als es sich irgendjemand hätte vorstellen können.

THE BOYS OF SUMMER

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