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Kapitel 12

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Bis vor zwei Tagen war eine Antenne auf seinem schwarzen Gettoblaster gewesen. Es handelte sich dabei um ein Modell mit doppeltem Tapedeck und zwei Reihen LEDs, die wie ein Metronom flackerten, wenn man eine Kassette abspielte. Er nahm gern Musik aus dem Radio auf und spielte sich diese Songs sporadisch selbst vor, während er lernte, ihre Melodien auf seinem Casio-Keyboard zu spielen. Er hatte überhaupt keine Vorkenntnisse in Bezug auf Musik, wenn man von einigen wenigen Lektionen absah, die ihm sein Großvater Willis mal erteilt hatte. Er hatte nie in einer Schulkapelle gespielt. Aber er konnte trotzdem Songs imitieren, die er im Radio gehört hatte, und er würde das auch jetzt tun, wenn er vor ein paar Tagen nicht versehentlich die Antenne abgebrochen hätte. Denn ohne die Antenne konnte man nicht allzu viele Sender empfangen. Tatsächlich war der einzige Sender, den er empfangen konnte, ausschließlich Country-Music, die in seinen Ohren aber gar keine Musik war.

Todd Willis war jetzt bereits seit fast sechs Wochen wieder wach … wach in dem Sinne, dass er wieder in der realen Welt lebte. Das Problem war nur, dass er, während er geschlafen hatte, von Dingen geträumt hatte, die viel zu real zu sein schienen, als dass er sie nur geträumt haben könnte. Für eine Weile hatte er wirklich geglaubt, dass er ein Junge namens Thomas wäre. Während einiger Sommermonate schien er ein paar Tage mit Jeff und Greg Stillson verbracht zu haben, zwei Brüder, die seltsame futuristische Videogames spielten, in ihrem Swimmingpool im Garten schwammen und ständig nach Chlor rochen. Die Stillsons waren sehr nett zu ihm, und es schien ihnen nichts auszumachen, dass er niemals laut sprach. Es schien sie nicht einmal zu stören, dass er sie bei ihren eigenen Videogames haushoch besiegte. Doch dann, eines Tages, ohne jede Vorwarnung, waren Jeff und Greg auf einmal verschwunden, und Todd hatte sich wieder in diese weiße Leere zurückgezogen, wo es weder Geräusche noch Farben noch Geschmack gab. In dieser Leere gab es nichts anderes als Angst, die von allen Seiten auf ihn einzudringen schien. Kurze Zeit später träumte er wieder etwas ganz anderes, zum Beispiel, dass er der erste Mensch wäre, der eine neue Maschine zum Teleportieren ausprobierte, oder ein berühmter Wissenschaftler, oder ein Mann, dessen ganzes Leben nur ein Film war, den andere anschauten. Statt visuelle Träume zu haben, hörte er zu anderen Zeiten Musik. Erstaunliche Songs, die berühmt gewesen wären, hätte irgendjemand sie gekannt. Aber ganz egal was er träumte, und gleichgültig, was er hörte – schließlich befand er sich doch wieder in dieser endlosen weißen Leere. Es war ein Bereich, in dem die Isolation einen von innen her verzehrte, und wo man die Bedeutungslosigkeit allen Lebens im Universum einfach nicht ignorieren konnte, und davor hatte Todd letzten Endes mehr Angst als vor irgendetwas sonst.

Es war also kein Wunder, dass Todd irgendwann argwöhnte, dass er vielleicht immer noch schlief, obwohl er schon seit einiger Zeit angeblich wach war. Wie konnte er denn mit Sicherheit wissen, dass die vergangenen sechs Wochen nicht auch nur ein Traum gewesen waren, und dass seine Eltern schließlich zusammen mit der Nachbarschaft, in der sie lebten, verschwinden würden? Wenn er ehrlich war, war ihm das auch ziemlich gleichgültig. Todd würde jede Realität akzeptieren, wenn diese nur endlich dieses weiße Nichts verdrängen würde.

Sein Arzt war schon etwas älter, aber sehr schlank und sportlich für sein Alter. Sein Name war Robbins. Er trug glänzende spitze Schuhe und schaute Todd immer so an, als ob dieser ein wissenschaftliches Projekt wäre. Dr. Robbins behandelte ihn schon seit mehr als vier Jahren, und nach Todds (wundersamen) Erwachen hatte er ihm seinen Zustand in sehr einfachen Worten zu erklären versucht.

»Dein Gehirn ist in ein langsameres Wellenmuster eingetreten, das für den Schlaf charakteristisch ist. Normalerweise dauert das immer nur einige Stunden. Dieses Phänomen ist passiert, weil du eine sehr schwere Kopfverletzung erlitten hast, als du beim Tornado von den Trümmern getroffen worden bist. Leider hat der Heilungsprozess sehr viel länger gedauert, als wir gehofft hatten.«

Todd konnte sich an diesen Tornado nicht mehr erinnern, und auch nicht an die Jahre, die vergangen waren, seit dieser die Stadt heimgesucht hatte. Dadurch erschien ihm die Welt manchmal als sehr seltsam. Eine seiner letzten Erinnerungen war zum Beispiel ein Gespräch mit seinem Freund Matt über den neuesten Star-Wars-Film, der, wie Matt gehört hatte, gerade in Europa gedreht wurde. Sie hatten lebhafte Spekulationen darüber angestellt, was in diesem neuen Film wohl gezeigt werden würde. Luke hatte ja bereits den Todesstern vernichtet. Aber dann war der Tornado gekommen, und während Todd im Koma lag, war der zweite Film bereits wieder aus den Kinos verschwunden gewesen, und jetzt gab es sogar schon einen dritten Teil. Darth Vader hatte sich schließlich als Lukes Vater herausgestellt, und Prinzessin Leia war seine Schwester. Die ganze Welt schien den Verstand verloren zu haben.

Die Veränderungen, die sein Körper durchgemacht hatte, waren allerdings noch seltsamer. Sein Körper hatte Muskeln angesetzt und über Nacht Schamhaare bekommen, und alles in seiner Welt war jetzt neun Zoll niedriger, als er erwartet hatte. Das Tollste war: Wenn er sprach, dann klang es so, als ob er einen Frosch im Hals hätte. Dr. Robbins war sich nicht sicher, ob das ein Zeichen für die Pubertät war oder ob es einfach daran lag, dass er in den vergangenen vier Jahren so gut wie gar nicht gesprochen hatte.

Sein Arzt war sich offenbar vieler Dinge nicht sehr sicher. Zum Beispiel wusste er nicht, warum Todd so lange geschlafen hatte. Anscheinend blieben nicht sehr viele Menschen länger als einige Wochen in einem solchen Zustand, und schon gar nicht Monate. Der offizielle Titel seiner Diagnose lautete Katatone Schizophrenie. Seine Mutter mochte das zweite Wort nicht besonders, denn es klang ein wenig so, als ob er verrückt wäre. Der Arzt war sich auch nicht sicher, welche langfristigen Folgen die Verletzung und der Schlaf für Todd haben würden, und er konnte einen Rückfall in diesen katatonen Zustand nicht ausschließen. Das war letzten Endes nur eine andere Art zu erklären, dass er jederzeit wieder in die weiße Leere eintauchen könnte.

Eine weitere Sache, die sein Arzt überhaupt nicht verstand, waren Todds Träume. Dr. Robbins akzeptierte zwar, dass Todd Träume gehabt hatte, aber er wollte ihm einfach nicht glauben, dass diese Episoden irgendetwas mit der realen Welt um ihn herum zu tun gehabt haben sollten. Als Todd ihm erklärte, dass er in seinen Träumen Dinge gesehen hatte, die er vorher überhaupt nicht gekannt hatte, und die auch kein anderer kannte, lächelte der alte Mann nur auf eine so leutselige und herablassende Art und Weise, dass Todd ihm am liebsten eine reingehauen hätte.

Man machte sich auch einige Sorgen, was seine Bildung betraf. Vor Kurzem hatten sich seine Eltern mit einem Berater vom Schulbezirk unterhalten, um zu entscheiden, in welche Klasse man ihn jetzt unterbringen sollte. Sein Vater weigerte sich, ihn wieder in die vierte Klasse zu setzen, doch seine Mutter fürchtete, dass er hinter den anderen Schülern seines Jahrgangs so weit zurückgeblieben war, dass er die Schule hassen und deshalb letzten Endes total versagen würde. Sie schien irgendwie zu glauben, dass jede Art von Schule sein ganzes Leben ruinieren würde. Deshalb wollte sie ihn am liebsten zu Hause unterrichten. Aber Todds vierjähriger Schlaf hatte ihn mit einer Einsamkeit erfüllt, die so intensiv war, dass er sich keinen weiteren Tag vorstellen konnte, den er ausschließlich mit seinem Vater und seiner Mutter verbrachte.

Heute war das erste Mal, dass man ihm erlaubt hatte, allein vor die Tür zu gehen. Bisher hatte er erst einige Male im Hinterhof verbracht und dort ein wenig Football mit seinem Vater gespielt oder auf der hinteren Veranda mit seinen Eltern zu Abend gegessen. So wie ihn seine Mutter dabei anschaute, fühlte er sich wie ein Insekt, das unter einem Mikroskop betrachtet wurde, und jedes Mal, wenn sie seinem Vater etwas zuflüsterte, wollte er schreien: »Ich sitze genau vor dir, Mom! Und ich weiß, dass du über mich redest!« Gestern Abend hatten ihn seine Eltern auf einen Spaziergang durch die Nachbarschaft mitgenommen. Sie gingen rüber zur Shady Lane und um den Craigmont herum und dann wieder nach Hause. Sein Vater erklärte ihm, dass er in nächster Zeit nicht über diese Schleife, die die zwei Straßen machten, hinausgehen sollte. Er bezeichnete diese beiden Straßen als Perimeter … als die äußerste Grenze. Er betonte das Wort so, als ob Todd noch neun Jahre alt wäre und nicht wüsste, was dieser Ausdruck bedeutete.

An diesem Morgen war seine Mutter in sein Zimmer gekommen und hatte mit aufgesetzter Fröhlichkeit in der Stimme geflötet: »Aufstehen, Schlafmütze.« Dann hatte sie ihm erklärt, dass heute der erste Tag vom Rest seines Lebens wäre. Sie könnte es gar nicht erwarten, dass er sich nach draußen wagte, und sie erzählte ihm von zwei Jungs, von denen sie glaubte, dass sie auf der Shady Lane wohnten. Aber Todd war nicht dumm. Er konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme hören, und das machte seine eigene Angst nur noch stärker.

Es war aber so, dass er überhaupt keine Angst haben musste. Erst gestern hatte Todd gesehen, wie es draußen aussah. Häuser, Bäume und Straßen, so wie in jedem anderen Viertel der Stadt auch. Aber als er sich an diesem Morgen der Tür näherte, brachte er es nicht über sich, sie zu öffnen, und wenn er jetzt schon ein schlechtes Gefühl dabei hatte, selbstständig nach draußen zu gehen, dann machte es seine Mutter, die ihn vom Wohnzimmer aus beobachtete, nur noch viel schlimmer. Es war schon verstörend genug, eine so banale Handlung nicht durchführen zu können, aber es war noch viel schlimmer, wenn jemand ihn dabei beobachtete. Es gab ein bestimmtes Wort für dieses Gefühl, eines das er gelernt hatte, während er schlief: inkompetent. Ein schreckliches Wort für ein schreckliches Gefühl.

Nach seinem fehlgeschlagenen Versuch zog er sich in sein Zimmer zurück, und einige Minuten später stand seine Mutter auf der Schwelle, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt zum Supermarkt gehen würde, um einige Lebensmittel einzukaufen.

»Willst du, dass ich hierbleibe, bis du zurückkommst?«

»Nein, überhaupt nicht!«, erwiderte sie. »Ich hoffe, du amüsierst dich gut. Denk an die Jungs, von denen ich dir erzählt habe. Tu aber bitte nichts Verrücktes. Der Arzt hat zwar gesagt, dass dein Kopf in Ordnung ist, aber ich möchte trotzdem nicht, dass du dich noch einmal verletzt.«

Sie umarmte ihn und ging fort. Das war jetzt zehn bis fünfzehn Minuten her, aber er saß immer noch da, mit seinem Casio und seinem Radio, das nicht funktionierte. Er drehte den Senderknopf immer langsamer hin und her, und schließlich fand er einen Sender, der gerade den sanften Rhythmus von Billy Jean spielte. Aber da waren einfach zu viel statisches Rauschen und unangenehme Störgeräusche, so als würde man eine Radiostation vom Mars empfangen. Deshalb schaltete er das Radio aus.

Nun saß er da in der Stille.

Schließlich stand er wieder auf und ging aus dem Zimmer. Die Vordertür war nur wenige Meter entfernt, und schon bald stand er davor. Seine Hand lag auf dem schweren Messinggriff. Alles, was er nun tun musste, war, dieses dämliche Ding zu drehen. Drehen und ziehen. Aber er konnte es nicht.

Er hatte Angst, dass er auf der anderen Seite der Tür nichts anderes finden würde, als die weiße Leere, die er immer gesehen hatte, als er noch geschlafen hatte, und dass diese ganze Episode des Wachseins auch nur ein weiterer Traum wäre.

Der Türgriff fühlte sich warm und lebendig an, so als wollte er vor seiner Berührung zurückschrecken. Aber das tat er natürlich nicht. Er drehte ihn jetzt millimeterweise. Der Griff quietschte leicht und der Riegel löste sich mit einem weichen Klicken.

Todd schloss die Augen, zog die Tür zurück und fühlte eine Welle von Hitze durch seinen Körper strömen.

Das Viertel draußen war immer noch da.

Er ging vorsichtig auf die vordere Veranda und schloss die Tür hinter sich. Der Himmel war klar und fast weiß vor Hitze. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand ein großes Haus, weiß mit grauem Dach, und überall um ihn herum hörte er das Zirpen von Zikaden, die sich in den Bäumen verbargen. Die Klimaanlagen kämpften brummend gegen die Hitze und die Feuchtigkeit an.

Doch Todd stand nur da und wartete darauf, dass dieser Traum enden würde, denn es erschien ihm unwahrscheinlich, dass er wirklich wach war.

Aber die Welt existierte immer noch. Ein roter Honda Accord näherte sich jetzt der Ecke und bog dann nach links ab. Einen Augenblick dachte er daran, dem Fahrer zuzuwinken, ließ es dann aber bleiben.

Da er absolut nichts zu tun hatte, machte er sich in Richtung Shady Lane auf, und fragte sich, ob er den Jungs wohl begegnen würde, von denen ihm seine Mutter erzählt hatte. Er erwartete eigentlich nicht wirklich, jemanden zu sehen, und er war sich auch gar nicht ganz sicher, was er tun sollte, falls er jemanden sah. Er schlenderte die Straße hinunter, vorbei an großen Ziegelhäusern und großen Rasenflächen mit bräunlich-grünem Gras, und hatte das Gefühl, dass er schon einmal hier gewesen war. Nicht erst gestern, sondern irgendwann davor, und zwar mehrmals. Vielleicht war er schon hundert Mal durch diese Gegend gelaufen, oder noch öfter.

Schließlich erreichte Todd die Shady Lane. Er erwartete eigentlich nichts, aber plötzlich hörte er laute Stimmen, während er an einem braunen zweistöckigen Haus vorbeikam. Es waren die Stimmen von Jungs. Anscheinend waren sie hinter dem Haus. Todd stand da und hörte hin, bis die Rufe allmählich leiser wurden und dann ganz aufhörten. Er wollte hingehen und sich vorstellen, aber man konnte doch nicht einfach so ein Grundstück betreten, oder?

Doch dann öffnete sich das Tor und es erschien ein nasser, muskulöser Junge mit roter Badehose und einem großen Badetuch über den Schultern.

»Ich wusste doch, dass ich jemanden durch den Zaun gesehen habe«, sagte er und ging auf Todd zu. »Bist du neu hier?«

»Ja, wir sind vor einigen Wochen hier eingezogen.«

»Ich bin Bobby.«

»Ich bin Todd.«

»Jonathan hat ein Schwimmbecken. Hast du Lust, zu schwimmen?«

Schweiß war Todds Rücken runtergelaufen und hatte beide Seiten seines Hemds durchtränkt. Die Sonne brannte auf ihn wie Feuer. Er hätte alles dafür gegeben, ins Wasser zu springen, aber seine Badehose war daheim und ihm behagte die Idee nicht, zurückzugehen, um sie zu holen. Wenn seine Mutter inzwischen vom Supermarkt zurückgekehrt war, dann dachte sie wahrscheinlich, dass er den Mut verloren hätte, und er wollte nicht, dass sie ihn für einen Feigling hielt.

»Meine Badehose ist noch in einer Kiste«, log er, »aber ich könnte ja trotzdem bleiben, wenn ihr nichts dagegen habt.«

»Das ist cool«, sagte Bobby. »Komm mit.«

Todd folgte dem gut gebauten Bobby in respektvollem Abstand in den Hintergarten. Der Pool war ein nierenförmiges Loch in einer nierenförmigen Betonplatte. Das Wasser schimmerte in der Sonne. Ein viel schlankerer Junge lag auf einer Luftmatratze. Seine Augen waren geschlossen und die Sonne brannte auf seine unbehaarte Brust wie Feuer. Irgendwo außer Sicht spielte ein Radio Every Breath You Take.

Bobby lächelte und warf sein Handtuch ab. Er lief mit drei großen Schritten auf den Pool zu, griff nach seinen Knien und flog durch die Luft. Dann presste er die Knie gegen die Brust und fiel wie eine Wasserbombe in den Pool. Der schlanke Junge brüllte, als ob ihn eine Kugel getroffen hätte. Er griff nach der Betonkante des Pools.

»Bobby!«, schrie er. »Verdammt! Ich hasse dich.«

»Nein, tust du nicht«, rief Bobby lachend, während er durch das Wasser watete. »Ich bin doch dein bester Freund auf der ganzen Welt. Gib es zu.«

»Na, wenn schon.«

Bobby ergriff ihn. »Sag, dass ich toll bin, oder ich tauche dich noch einmal unter.«

»Nein!«

Bobby, der immer noch lachte, zog den schlanken Jungen vom Beckenrand weg und drückte seinen Kopf unter Wasser.

»Das ist viel zu leicht«, meinte er. »Todd, das ist Jonathan. Jonathan, das ist Todd.«

Jonathan schlug mit seinen Armen wild um sich und versuchte vergeblich nach Bobbys Gesicht zu greifen.

»Du bist bedeutend stärker als er«, warf Todd ein.

»Kann ich leider nicht ändern.«

Da Todd nicht wusste, was er jetzt tun sollte, stand er nur da, und sah, wie Bobby seinen Freund für eine gefühlte Ewigkeit unter Wasser hielt. War das alles, was sie hier taten? Dieser David-und-Goliath-Scheiß? Dann war Todd nicht an ihnen interessiert. Das war doch derselbe Mist, der in jeder Stadt in den USA ablief.

Als er gerade gehen wollte, ließ Bobby los. Jonathan schoss wie ein Torpedo aus dem Wasser. Er hustete und keuchte.

»Klingt wie meine Tante Jesse«, sagte Bobby lachend. »Die hat Krebs oder ein Emphysem oder was auch immer. Weihnachten, als wir die Geschenke auspacken wollten, hat sie die ganze Zeit gehustet wie verrückt.«

Todd zeigte auf Jonathan, dessen Gesicht immer dunkler wurde. »Ich glaube, er kriegt wirklich keine Luft.«

Jonathans Gesicht war inzwischen purpurrot angelaufen und er keuchte auch nicht mehr länger. Stattdessen versuchte er in flachen Atemzügen, die kaum noch Atemzüge waren, ein wenig Luft zu bekommen. Aus seinem Mund drangen Geräusche, die wie Wasser klangen, das versuchte, aus einem Rohr herauszukommen, das viel zu klein war.

»Oh, verdammt«, schrie Bobby erschrocken. Er drehte Jonathan um und schlug ihm fest auf den Rücken. »Atme schon, atme!«

Jonathans Augen schienen sich zu verdrehen. Sie waren nun weit offen und glasig. Er atmete gar nicht mehr.

»Verdammt, Johnny«, schrie Bobby panisch und schlug ihm weiter auf den Rücken. »Atme endlich!«

»Vielleicht solltest du die Heimlich-Methode anwenden«, schlug Todd vor.

»Was? Was ist das denn?«

»Die Heimlich-Methode. Ich weiß nicht, ob das auch bei Wasser klappt, aber man schlingt dabei von hinten die Arme um den Körper des anderen und drückt fest unterhalb des Brustkorbs. Etwa so.« Todd simulierte die Methode an sich selbst, aber Bobby war noch nicht überzeugt.

»Versuch es einfach. Versuch irgendwas!«

Bobby nickte, und nach einigen Sekunden war er tatsächlich erfolgreich. Wasser strömte aus Jonathans Mund. Dann atmete er einige Male tief ein und aus. Als er wieder richtig zu sich kam, wollte er sich sofort auf Bobby stürzen.

»Du Idiot. Ich hasse dich.«

Jonathan wirbelte wie wild mit den Armen herum. »Du bist so ein Idiot! Bildest du dir etwa ein, dass dir niemand etwas tun kann, weil du so stark bist?«

»Zumindest weiß ich, dass du es nicht kannst.«

Jonathan beruhigte sich nach einiger Zeit allmählich wieder. Er sah zuerst Todd und dann Bobby an.

»Mach das nicht noch einmal, Bobby. Was wäre, wenn ich ertrunken wäre?«

»Was wäre wenn … was wäre wenn! Hast du denn keinen Humor?«

»Für dich ist immer alles nur ein Witz, nicht wahr? Eines Tages machst du wirklich etwas Dummes, und dann wird dir das Lachen schon noch vergehen.«

»Wie auch immer. Das hier ist Todd. Er ist gerade in unsere Straße gezogen.«

Jonathans Lächeln schien ein wenig gezwungen, als er sich Todd zuwandte. »Ich bin Jonathan. Freut mich.«

»Gleichfalls.«

»Wo kommt ihr denn her?«

»Wir haben drüben in Weeks Park gewohnt.«

»Oh, ich dachte, ihr kommt von außerhalb der Stadt«, sagte Jonathan. »Warum seid ihr denn nach Tanglewood gezogen?«

Todd zuckte mit den Schultern und gab damit vor, dass es keinen besonderen Grund dafür gab. »Meine Eltern mochten die Gegend. Ich denke, dies ist der Ort, wo man heute leben sollte.«

»Es ist das beste Viertel in Wichita Falls«, stimmte ihm Bobby stolz zu. »Was machst du so? Treibst du Sport?«

»Schon länger nicht mehr. Ich mag aber Football und Baseball.«

»Bist du gut darin?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn du das nicht weißt«, sagte Bobby lachend, »dann heißt das, dass du nicht besonders gut darin bist. Mein Vater sagt immer: Die anderen werden deine Größe erst dann erkennen, wenn du das tust.

»Bobby ist der Quarterback in der Mannschaft der Junior High«, fügte Jonathan hinzu. »Die Trainer von Old High sind schon scharf auf ihn.«

So gern er auch in Gesellschaft von anderen Kindern sein wollte, hatte Todd von diesen beiden bereits genug. Jonathan schien keine Geduld mit Bobbys hirnlosen Scherzen zu haben, aber trotzdem betete er diesen Typ geradezu an. Und Bobby schien geradezu das Klischee einer Sportskanone zu sein. Diese ganze Szene hätte überhaupt nicht vorhersehbarer sein können, bis auf ein wichtiges Detail – Todds Fähigkeit, die Situation richtig einzuschätzen. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte er sich dieser Lage gewachsen, so als hätte er einen Revolver zu einem Messerkampf mitgebracht. Seine Eltern befürchteten, dass er immer noch auf dem Niveau eines Neunjährigen wäre, aber tatsächlich fühlte sich Todd eher wie ein Neunzehnjähriger, und von diesem Standpunkt aus gesehen war das einzig Interessante daran, dass er mit diesen Kindern sprach, dass er mit ihnen ein wenig seinen Spaß hatte.

Er sah Bobby an. »Die Trainer von der Highschool sind schon hinter dir her? Dann musst du ja ein Supersportler sein.«

Bobby grinste ein wenig dümmlich. Er schien etwas sagen zu wollen, verstummte dann aber.

»Was machst du denn sonst so?«, fragte ihn Jonathan jetzt. »Gab es eine Menge Kinder in deinem Viertel?«

»Ein paar. Die beiden Brüder, die ich kannte, hatten einen Pool. Also hing ich die meiste Zeit in ihrem Haus ab. Sie waren so ähnlich wie ihr.«

»Hattet ihr einen Klub?«

»Ich war in keinem Klub.«

»Wir haben einen«, erklärte Jonathan stolz. »Wir nennen uns The Dragons. Wir sind vier Mitglieder, und Bobby ist der Präsident.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

»Was soll das heißen?«, fragte Bobby argwöhnisch.

»Nur so eine Beobachtung.«

»Was für eine Beobachtung?«

»Ich konnte mir denken, dass du es nicht zulassen würdest, wenn jemand anders der Präsident eures Klubs wäre.«

Bobby schaute nun zu Jonathan und dann wieder auf Todd. »Wir haben abgestimmt und ich habe fair gewonnen. Ich weiß nicht, was du damit sagen willst, aber ich denke, dass du dir allmählich Ärger einhandelst.«

»Komm schon, Bobby«, sagte Jonathan. »So macht man sich keine Freunde.«

»Ich glaube, dieser Typ will überhaupt keine Freundschaft«, knurrte Bobby. »Sieht eher so aus, als ob er Ärger sucht.«

»Ich bin hier nicht derjenige, der seinen eigenen Freund so lange unter Wasser drückt, bis der fast erstickt«, wandte Todd ein.

»Wir haben doch nur herumgealbert. Jonathan ist mein Kumpel.«

»Das ist schön.«

»Du bist neu hier«, fuhr Bobby fort. Er watete zu Todds Seite des Pools und kletterte dann hinaus. »Du bestimmst nicht, wie wir die Dinge hier regeln, und du hast uns auch nicht zu beurteilen.«

»Vielleicht sollte ich besser gehen, damit deine Autokratie hier nicht infrage gestellt wird.«

Bobby kam nun einen Schritt näher, bis nur noch ein Meter zwischen ihnen war. »Das wäre vielleicht besser, du Klugscheißer.«

Vom Standpunkt der Selbsterhaltung her, wäre es für Todd wirklich besser, seine Niederlage einzuräumen und sich zurückzuziehen oder sich zu entschuldigen und zu bleiben, denn wenn er gegen diesen Typ kämpfen würde, dann würde er haushoch unterliegen. Bobby war gut drei Zoll größer als er und vielleicht dreißig Pfund schwerer. Außerdem war er wahrscheinlich auch ein besserer Kämpfer. Doch Todd wusste, dass er Bobby wahrscheinlich wieder begegnen würde, entweder während des Sommers oder danach in der Schule, und er konnte sich in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken lassen, wenn er wusste, dass er vor diesem Schwachkopf gekniffen hatte. Die Leute würden doch denken, dass er entweder ein Feigling wäre oder dass er sich wegen seiner Kopfverletzung selbst isolieren würde, und beide Möglichkeiten waren nicht sehr angenehm.

Zu Bobby gewandt, sagte er deshalb: »Vielleicht sollte ich aber auch einfach hierbleiben und sehen, was du dagegen unternimmst.«

Überraschung zeichnete sich auf Bobbys Gesicht ab. »Was ich dagegen unternehme?«

»Ja«, sagte Todd. »Ich mag es nicht, wenn man mich herumschubst.«

Bobby kicherte. »Du hast wirklich Mut, das muss ich dir lassen.«

»Ja, das stimmt.«

»Den kannst du dir in den Hintern stecken.«

Bobby stieß ihn gegen die Brust, und Todd wich zurück. Er konnte nicht mehr stoppen, der Pool war direkt hinter ihm, aber er fiel nicht hinein.

»Fick dich ins Knie, du Schwachkopf!«, schrie er Bobby wütend an. Er drückte Bobby die Hände auf die Brust, aber ihn zurückschubsen zu wollen, war so, also ob man eine Eiche verschieben wollte.

Bobby lachte. »Du bist ja echt ein Weichei.«

»Wie du meinst, Schwachkopf.«

Bobbys Augen weiteten sich, als ob Jalousien hochgingen. »Das war‘s«, sagte er und stieß Todd fest gegen die Brust, um ihn in den Pool zu stoßen.

»Bobby, komm schon!«, versuchte Jonathan ihn zu besänftigen.

Todd würde in den Pool fallen, er würde es nicht verhindern können. Aber während er in Richtung des Wassers gedrängt wurde, griff er nach Bobbys Armen, und durch die Wucht fielen sie beide über den Rand. Sie plumpsten ins Wasser wie ein Bulle, den man über Bord geworfen hatte. Arme flogen durch die Luft, dumpfe Schläge trafen auf Brüste, Arme und Gesichter. Und in einem kurzen unendlichen Moment spürte Todd eine enorme Energie durch seinen Körper fließen. Es wurde ihm plötzlich klar, dass es gar keine Rolle spielte, ob er blutete oder ob seine Nase zerschmettert wurde oder er einen Zahn verlieren würde. Er war bereits auf eine Art und Weise verletzt worden, auf die ihn kein Schlägertyp aus der Nachbarschaft verletzen könnte, und diese Verletzungen hätten ihn beinahe umgebracht. Aber er war nicht gestorben! Er hatte überlebt! Jetzt war er hier, zurück in der realen Welt. Was war da schon ein kleiner Schmerz gegen den Respekt, den er sich verdienen konnte, indem er sich verhielt wie ein richtiger Mann und diesem hirnlosen Schwachkopf eine anständige Lektion erteilte? Ihm wurde klar, dass jede Furcht, gegen diesen Typ zu kämpfen nicht durch Schmerz entstand, sondern lediglich durch die Vorstellung von Schmerz, und jeder Schmerz, der nicht durch eine lebensbedrohende Verletzung verursacht wurde, würde wieder verschwinden. Nichts, was dieser Junge ihm antun könnte, würde für immer andauern, nichts, außer wenn er Todd die Selbstachtung nahm.

Er watete gerade durch das Wasser, als Bobby seinen Kiefer traf. Der intensive Schmerz brachte Todd beinahe aus der Fassung. Aber dann landete er selbst einen rechten Haken und Bobby wich zurück. Todd konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er es nicht gewöhnt war, getroffen zu werden.

Hinter ihnen brüllte nun Jonathan etwas. Todd konnte ihn allerdings nicht verstehen, besonders, nachdem Bobby ihn so hart am Ohr getroffen hatte, dass es rauschte. Seine Hand fuhr an seinen Kopf, und die Welt wurde plötzlich grau. Angst überkam Todd, als er sich vorstellte, wie die weiße Leere wieder Besitz von ihm ergriff. Wenn er wieder dorthin zurückmusste, dann würde er ihr bestimmt kein zweites Mal entkommen können.

Aber er musste nicht zurück. Er war immer noch im Pool. Und als Bobby wieder auf ihn eindreschen wollte, konzentrierte er seine ganze Kraft in seinen rechten Arm und schlug Bobby mitten auf die Nase. Er hörte daraufhin ein Geräusch wie knackende Handknöchel, und Bobby wich zurück. Er hielt seine Nase, als ob er fürchtete, dass sie gleich abfallen könnte. Blut sickerte zwischen seinen Finger hervor. Es lief in einem gewundenen Strom an seinem nassen Arm hinunter und tropfte dann in den Pool. Dort bildete es kleine rote Explosionen im Wasser.

»So ein verdammter Mist«, schrie Bobby.

Jonathan watete auf ihn zu und platschte dabei wie ein kleines Kind. Seine Stimme klang ängstlich. »Geht es dir gut? Bobby, bist du okay?«

»Verdammt, das tut echt weh«, antwortete Bobby näselnd.

»Ist sie gebrochen?«

»Vielleicht.« Dann sagte er zu Todd: »Vielen Dank auch!«

»Danke, dass du mich taub gemacht hast. Ich dachte, mir fallen gleich die Ohren ab.«

Bobbys Blut tropfte immer noch in den Pool. Rote Blasen bildeten sich zwischen seinen Lippen und zerplatzten dann. Seine Augen waren schmal geworden, als ob er ihn drohend anblickte … oder als ob er lächelte.

»Kannst du vielleicht mal nach meinem Ohr sehen, Jonathan?«, fragte Todd. »Ich möchte nämlich nicht, dass es in den Filter gesaugt wird, falls es abgefallen ist.«

Jetzt ließ Bobby die Arme sinken und lachte laut los. Todd lachte ebenfalls, trotz seines Ohrs, in dem es immer noch laut dröhnte. Jonathan sah eindeutig verwirrt aus, so als würden die beiden Jungs im Pool gar nicht lachen, sondern wie Hyänen bellen. Dann schüttelte er den Kopf und fing ebenfalls an zu lachen.

THE BOYS OF SUMMER

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