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Kapitel 11
ОглавлениеSeit Jonathan Crane an diesem Morgen die Augen geöffnet hatte, war alles schiefgelaufen.
Kurz vor sechs war er aus einem schrecklichen Albtraum hochgeschreckt, und als er jetzt so dalag und darauf wartete, dass der Wecker klingelte, während er die Laken vollschwitzte, versuchte er sich daran zu erinnern, was in diesem Traum eigentlich schiefgelaufen war. Da war ein See gewesen, groß, still und vollkommen frei von menschlichen Sorgen. An diesem See hatten einige verlassene Häuser gestanden, in denen Jonathan jemanden suchte, der nicht da war, und die ganze Zeit hatte im Hintergrund Musik gespielt, ein Song, die er seit Jahren in seinen Träumen gehört hatte, obwohl er sich nicht mehr daran erinnern konnte, welcher Song es war.
Auf dem Weg zur Schule, auf dem Southwest Parkway, schaute sich Jonathan noch einmal um, und war sich plötzlich darüber klar, dass er in seinem Traum diese Straße gesehen hatte. Kurz vor der Ampel am Kemp Boulevard sah er den Eingang eines Hauses, das er ebenfalls aus seinem Traum in der Nacht wiedererkannte. Er hatte nach jemandem gesucht, aber er war sich nicht sicher, wen er gesucht hatte, und kaum eine Meile weiter war bereits das nördliche Ufer des Lake Wichita gewesen.
Empty lake, empty streets, the sun goes down alone. I‘m driving by your house, but I know you‘re not home …
Der Song war The Boys of Summer von Don Henley. Eigentlich hatte er den ganzen Songtext geträumt. Er wusste, dass der Grund dafür war, dass John und seine Freunde vor vielen Jahren zu einem Klub gehört hatten, den sie nach diesem Song benannt hatten. Das war das Jahr gewesen, in dem sie alle Todd Willis getroffen hatten, und in dem Jonathan sich in Alicia Ulbrecht verliebt hatte. Ein Sommer, der von einem Feuer, einem Verrat und dem Verschwinden eines elfjährigen Jungen namens Joe Henreid bestimmt gewesen war.
Jetzt war Jonathan achtunddreißig Jahre alt und unterrichte Sozialwissenschaften an der McNiel, einer Junior-Highschool in der südwestlichen Ecke der Stadt. 1979 hatte McNiel traurige Berühmtheit erlangt. Die Schule war das erste Gebäude gewesen, das von dem schrecklichen Tornado getroffen worden war, der die Stadt (und sein eigenes Leben) verändert hatte. Die Schule war von dem Sturm vollständig zerstört worden. Man hatte sie danach wieder neu aufgebaut, aber keiner von Jonathans Schülern schien das zu wissen oder sich auch nur dafür zu interessieren. Sie waren jetzt in der achten Klasse und es näherte sich das Ende ihrer Schulzeit. Jonathan hoffte, ihnen noch ein wenig Interesse für Geschichte vermitteln zu können, aber bis jetzt hatte er nur wenig Erfolg damit gehabt. Schließlich waren sie erst vierzehn Jahre alt. George W. Bush war der einzige Präsident, den sie kannten, und selbst die Anschläge auf das World Trade Center waren für sie bereits Altertumsgeschichte. Jedes Jahr, das mit einer »1« begann, lag für sie schon sehr lange zurück.
Ihnen Geschichte durch persönliche Erlebnisse vermitteln zu wollen, war auch keine große Hilfe. Als Jonathan seinen Schülern erzählt hatte, dass sein eigener Vater während des Tornados umgekommen war, dass er praktisch aus seinem Haus in die Luft gerissen und drei Meilen weiter auf einer Straße aufgeschlagen war, schienen sie irgendwie erstaunt gewesen, zu sein, dass er überhaupt einen Vater gehabt hatte. Anscheinend hatten sie geglaubt, dass Jonathan schon als Erwachsener auf die Welt gekommen war, als ein Mann ohne jede Vorgeschichte, und mit der einzigen Mission, sie ihrer Freizeit zu berauben.
Den ganzen Tag über dachte er an den Traum. Alles war irgendwie mit einem Gefühl verbunden, dass etwas nicht stimmte. Ein Gefühl, das er einfach nicht abschütteln konnte. In der sechsten Stunde, der letzten des Tages, war Jonathan geistig vollkommen erschöpft. Er sehnte sich nach einem Abendessen und einigen Drinks. Normalerweise verbrachte er den Rest des Abends damit, an seinem neuesten Roman zu arbeiten (dieser trug den Titel Das Ende der Welt), aber er bezweifelte, dass er heute noch genügend Energie dafür aufbringen würde.
»Im Buch werdet ihr ein Zitat über die Geschichte finden, das man allgemein dem Philosophen George Santayana zuschreibt. Kann mir jemand sagen, um welches Zitat es sich dabei handelt?«
Die Schüler der sechsten Klasse waren die lebendigsten aber auch die am wenigsten engagierten Schüler des Tages. Sie wussten, dass der Unterricht bald vorbei sein würde, und handelten dementsprechend. Von den siebenundzwanzig Augenpaaren, die er vor sich sah, schauten nur etwa die Hälfte überhaupt in seine Richtung. Die anderen starrten auf das Buch oder auf jemand anderes in der Klasse oder blickten einfach aus dem Fenster. Und zu diesem Zeitpunkt, weniger als zehn Minuten bevor es läuten würde, konnte Jonathan ihnen noch nicht einmal einen Vorwurf daraus machen.
»Kann ich darauf hoffen, dass irgendjemand das Kapitel gelesen hat, das ich euch gestern zu lesen aufgegeben habe? Irgendjemand?«
Zahlreiche Hände hoben sich.
»Dann kann sich sicher auch einer an das Zitat erinnern. Oder es vielleicht eben schnell mal nachlesen?«
»Ich weiß es«, sagte jetzt Brooklyn Keely. Sie war beim Weitem die engagierteste Schülerin in der sechsten Klasse. Sie beantwortete etwa die Hälfte aller Fragen, die Jonathan der Klasse stellte.
»Brooklyn. Natürlich. Lass mal hören.«
»Wenn man sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist man dazu verurteilt, sie zu wiederholen«, sagte sie mit einer kindlichen Autorität.
»Sehr gut. Kannst du uns auch sagen, was Santayana damit meinte?«
»Er meinte«, sagte eine Stimme ganz hinten, eine Stimme, die zu Blake Cannon gehörte, »wenn du in Geschichte durchfällst, dann darfst du nicht mehr Football spielen!«
Blake war ein kräftiger Tailback, auf den bereits die Trainer der Highschool-Mannschaft ein Auge geworfen hatten. Er war in der Klasse sehr beliebt und brachte alle häufig zum Lachen, auch Jonathan.
»George Santayana war kein besonders guter Sportler«, erklärte Jonathan. »Aber vielen Dank für deinen Beitrag, Blake.«
»Gern geschehen.«
Während das Lachen weiterging, hob sich eine weitere Hand. Sie gehörte zu Jonathans neuestem Schüler, Thomas Phillips. Thomas war einige Wochen zuvor auf die McNiel gekommen, und das war ein wenig seltsam, denn vom Schuljahr war schließlich nur noch wenig übrig. Er kam ihm außerdem irgendwie bekannt vor, und deshalb hatte er einige Versuche unternommen, Thomas in ein Gespräch zu verwickeln, um zu erfahren, was ihn so plötzlich zur McNiel verschlagen hatte, aber der Junge war offenbar ebenso intelligent, wie er verschlossen war.
»Ja, Thomas?«
»Das Zitat bedeutet, dass, wenn man nicht versteht, warum bestimmte Dinge in der Vergangenheit passiert sind, man dazu verurteilt ist, ähnliche Fehler in der Zukunft zu machen.«
»Ausgezeichnet«, meinte Jonathan. »Es ist schön, zu wissen, dass wenigstens einer von euch das Kapitel gelesen und auch verstanden hat.«
»Vielen Dank. Aber ich glaube nicht, dass ich mit diesem Zitat einverstanden bin.«
»Nicht? Was meinst du damit?«
»Nun, jeder muss doch das Fach Geschichte belegen, um aufs College zu kommen, nicht wahr? Warum werden also dieselben Fehler immer und immer wieder gemacht? Wir sind jetzt im Irakkrieg. Nachdem wir die Erfahrung in Vietnam gemacht haben, machen wir denselben blöden Fehler doch jetzt gerade noch einmal! Anscheinend spielt es überhaupt keine Rolle, wie viel wir über Geschichte wissen. Wir machen trotzdem immer wieder denselben Mist, auch wenn wir genau wissen, wie dumm das ist.«
»Das ist sehr gut, was du da sagst«, antwortete Jonathan beeindruckt. »Haben dir deine Eltern etwas über Vietnam erzählt? Dieses Thema wird hier an der McNiel leider nicht behandelt.«
»Das spielt überhaupt keine Rolle«, erklärte Thomas. »Der Wahnsinn geschieht auch bei uns in Wichita Falls. Kennen Sie das Restaurant, das letzte Nacht hier abgefackelt wurde? Es ist anscheinend dasselbe Gebäude, das schon vor fünfundzwanzig Jahren abgebrannt ist, und in beiden Fällen war es Brandstiftung. Es ist fast so, als ob die Welt in einer Art Schleife stecken würde. Verstehen Sie, was ich meine?«
Jonathan verstand überhaupt nicht, was Thomas damit meinte. Er konnte überhaupt nichts mehr sehen, weil die Unruhe, die er den ganzen Tag über gefühlt hatte, und der Schrecken, der irgendwo außerhalb seiner Sicht lauerte, jetzt plötzlich sein gesamtes Blickfeld einnahmen.
»Welches Restaurant?«, fragte er, obwohl er das Gefühl hatte, dass er es bereits wusste.
»Lone Star Barbecue«, antwortete Thomas. »Es kam heute Morgen in den Nachrichten. Irgendein Typ namens Bobby Steele hat es getan. Er war wohl so eine Art Football-Star, und jetzt ist er tot.«
Jonathan fragte sich, ob jemand die Heizung aufgedreht hatte. Das Klassenzimmer schien auf einmal dreißig Grad wärmer zu sein als noch vor wenigen Minuten. Als er zur Uhr schaute, sah er, dass nur noch drei Minuten bis zum Ende der Stunde übrig waren. Aber er wusste nicht, ob er die nächsten drei Sekunden überstehen würde, geschweige denn die nächsten drei Minuten. Wie hatte Bobby auf diese Art und Weise enden können? Und warum hatte er das Restaurant niedergebrannt – schon wieder?
»Mr. Crane«, sagte Thomas. »In den Nachrichten hieß es, dass der Mann neununddreißig Jahre alt war. Sind Sie nicht etwa in demselben Alter?«
»Ziemlich nah dran, ja.«
Jetzt waren es nur noch zwei Minuten bis zum Ende er Stunde.
»Sie kannten ihn also? Sind Sie zusammen aufgewachsen?«
Jonathan sah keinen Grund, warum er diesen Schüler (und damit auch die gesamte Klasse) belügen sollte. Aber er log trotzdem, und er war sich sicher, dass jeder Schüler das sofort erkennen würde.
»Ich kannte ihn irgendwie. Jeder kannte ihn. Wie du schon gerade sagtest, er war Quarterback, der Star der Mannschaft als wir in der Highschool waren.«
Jonathan sah vor seinem inneren Auge, wie das Feuer aufstieg, ein tosender Wirbel. Er konnte den Rauch riechen. Die fünf Freunde bildeten einen Kreis, während Todd ihnen über das Ende der Welt erzählte.
»Waren Sie nicht befreundet?«, fragte Thomas jetzt. »Meine Mutter hat mir einmal von diesem Jungen erzählt, der aus einem langen Koma erwacht ist …«
»Das ist schon lange her. Ich bin mir nicht ganz sicher.«
Noch eine Minute bis zum Ende der Stunde. Siebenundzwanzig Augenpaare starrten ihn jetzt an. In der Klasse war es so still, dass Jonathan meinte, hören zu können, wie die Uhr die letzten verbleibenden Sekunden der Stunde tickte.
»Hat der nicht damals das Restaurant niedergebrannt? Ich meine dieser Todd Willis.«
»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst, Thomas.«
Obwohl niemand mehr etwas sagte, war der Klang der Glocke, die die Stunde beendete, so leise, dass Jonathan sie beinahe überhört hätte.
»Ihr könnt gehen«, sagte er hastig. Seine Stimme war leise und unsicher. »Ich wünsche euch noch einen schönen Nachmittag.«
Die meisten seiner Kollegen an der McNiel standen mit ihren Schülern praktisch im Krieg, aber Jonathan war immer stolz darauf gewesen, dass er trotz ihrer tobenden Hormone und der Rebellion irgendwie ihr Vertrauen hatte erwerben können. Doch während die Sechstklässler den Raum jetzt verließen, konnte er eine Distanz und ein gewisses Unwohlsein spüren, das ihm überhaupt nicht gefiel. Wie zum Teufel konnte Thomas etwas über Jonathans Verhältnis zu Bobby wissen? Oder über den ersten Brand im Restaurant, der zwölf Jahre vor seiner Geburt passiert war?
Als Erwachsene hatten sich Bobby und Jonathan aus den Augen verloren, wahrscheinlich weil sie niemals sehr viel gemeinsam gehabt hatten, oder vielleicht auch, weil sie beide über die Beziehung ihrer verbleibenden Elternteile verblüfft gewesen waren. Carolyn Crane und Kenny Steele hatten nämlich fünfundzwanzig Jahre lang immer mal wieder zusammengelebt. Das hieß, dass ihre beiden Söhne unter etwas außergewöhnlichen Umständen aufgewachsen waren. Sie waren keine Brüder gewesen und eigentlich auch noch nicht einmal Freunde. Sie hatten nur mehr oder weniger unfreiwillig ihr Leben in demselben Haus verbracht, bis sie die Highschool hinter sich gehabt hatten, und dann hatten sie immer weniger voneinander gesehen, bis ihr Kontakt vor zwei Jahren endgültig abgebrochen war. Jetzt war Bobby tot (wenn er denn wirklich tot war). Jonathan war sich nicht sicher, wie er sich jetzt fühlen sollte.
Und der Zeitpunkt war für ihn noch verwirrender als alles andere. Er hatte das von Bobby erst vor wenigen Minuten erfahren, aber diesen seltsamen Traum hatte er doch schon Stunden vor dem Geschehen gehabt. Und doch war es schier unmöglich, keinen Zusammenhang zwischen den beiden Geschehnissen zu sehen. Vielleicht hatte er die Nachrichten über Bobby irgendwie unbewusst mitbekommen, aber andererseits war er sich vollkommen sicher, dass er eine solche Nachricht nicht einfach überhört hätte, und da er ziemlich pragmatisch war, jemand, der alles Fantastische mit einer gewissen Skepsis betrachtete, konnte er nur schlecht einen Traum akzeptieren, den er gehabt hatte, bevor das mit Bobby passiert war.
Als er daheim war, ging Jonathan als Erstes zum Briefkasten und fand darin einen großen Briefumschlag, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Die Empfängeradresse war in seiner eigenen Handschrift geschrieben und auch das Porto hatte er bezahlt. An einem Tag, der schon so schlecht verlaufen war, war es keine große Überraschung, dass jetzt noch mehr schlechte Nachrichten kamen. Ein weiterer Literaturagent hatte sein Manuskript abgelehnt.
Bevor er in der Küche eine Flasche Whiskey aufmachte, las Jonathan den Brief, der dem Manuskript beilag:
Sehr geehrter Mr. Crane,
ich habe die Probekapitel Ihres Buches DAS ENDE DER WELT mit Interesse gelesen. Nach sorgfältiger Überlegung bin ich jedoch zu dem Schluss gelangt, dass es sehr schwierig wäre, dieses Buch auf dem ziemlich anspruchsvollen Markt anzubieten. Es tut mir deshalb sehr leid, dass ich Ihr freundliches Angebot ablehnen muss.
Weiter unten in dem Schreiben teilte der Agent ihm noch einige persönliche Gedanken über Jonathans Werk mit, Kommentare wie: Normale Menschen, die plötzlich in außergewöhnliche Umstände gezwungen werden – Ihre Geschichte bringt nichts Neues in diese etwas banale und langweilige Handlung, und vielleicht haben Sie den Grundsatz »Schreib über das, was du kennst« etwas zu wörtlich genommen. An einem normalen Tag hätte ihn diese Ablehnung aus der Bahn geworfen, denn DAS ENDE DER WELT war sein mittlerweile dritter (und bester) Roman, und er war von den New Yorker Verlagen ebenso abgelehnt worden wie von Literaturagenten. Aber heute hatte er ganz andere Sorgen.
Er schüttete sich noch etwas Whiskey mit Eis ins Glas und ging dann in sein Büro. Während er darauf wartete, dass sein Computer hochfuhr, versuchte Jonathan, sich angenehme Augenblicke vorzustellen, die Bobby und er zusammen verbracht hatten, aber die einzigen Erinnerungen, die ihm kamen, waren schrecklich. Sie stammten aus dem Sommer, in dem Todd ihrem Klub beigetreten war, und wie sie zu fünft in der Festung gewesen waren oder in dem Haus in Driftwood. Oder wie sie vor diesem Haus gestanden hatten, in der Nacht, als es total abbrannte. Als sie Joe Henreid einfach seinem Schicksal überlassen hatten.
In die Suchspalte von Google tippte er jetzt die Namen Bobby Steele und Lone Star Barbecue ein, und der erste Link von Channel 6 bestätigte, was Thomas ihm in der Klasse erzählt hatte. Aber da war etwas, das noch schrecklicher war: Bobby war von einem Polizeibeamten niedergeschossen worden, nachdem er angeblich den Besitzer des Restaurants, Fred Clark, ermordet hatte. Das Feuer, das Bobby gelegt hatte, hatte das Restaurant vollkommen zerstört und die beiden Leichen so stark verbrannt, dass man sie nicht mehr identifizieren konnte.
»Oh, Gott«, murmelte Jonathan. »Bobby, warum hast du das getan?«
Er schüttete den Rest vom Whiskey hinunter und wollte sich noch einen größeren Drink einschenken. Bis jetzt hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass Thomas sich vielleicht geirrt oder sich die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte. Aber jetzt war offensichtlich, dass die Sache noch viel schlimmer war, als Jonathan es befürchtet hatte. Es schien fast unmöglich zu sein, dass Bobby Davids Vater umgebracht hatte. Aber wer konnte schon wissen, was er sich dabei gedacht hatte? Etwas sehr Schlimmes war in diesem Restaurant geschehen, als sie Kinder gewesen waren, etwas, das Jonathan lange Zeit nur verschwommen hatte wahrnehmen können, und vielleicht war er da nicht der Einzige.
Ihm wurde plötzlich etwas schwindlig. Er nahm den Whiskey mit in sein Büro und setzte sich vor seinen Computer. Statt sich mit Das Ende der Welt zu beschäftigen, wozu er heute Abend nicht mehr die geringste Lust verspürte, öffnete Jonathan eine neue Datei und begann zu tippen.
Die fünf Jungen standen in einem lockeren Kreis zwischen drei Barbecue-Gruben. Es war kurz nach zwei Uhr am Morgen und die Stadt befand sich in tiefem Schlaf.
Todd lächelte verträumt. Sein Blick war abwesend, so als würde er einen Film verfolgen, den nur er allein sehen konnte.
»Sag mir noch einmal, warum du das Restaurant deines eigenen Vaters abfackeln willst«, meinte Adam.
Ja, warum genau hatten sie es eigentlich abgebrannt? David war wütend auf seinen Vater gewesen, aber das war doch noch lange kein Grund, um das Geschäft seines Vaters niederzubrennen! Nein, der wahre Grund hatte mit Todds Geheimnis zu tun, das er mit ihnen geteilt hatte, bevor er das erste Streichholz angerissen hatte. Jonathan konnte sich an das Geheimnis nicht mehr erinnern, jedenfalls nicht bewusst, aber er war sich sicher, dass er verstehen würde, was mit der Welt nicht stimmte, wenn er nur …
Dann hörte er plötzlich eine Sirene oder ein Klingeln, und ihm wurde klar, dass jemand an der Tür war. Es war selten, dass Besucher zu ihm kamen, und noch seltener war es, dass sie unangemeldet kamen. Er war neugierig, wer das sein konnte, und er merkte, dass er schon etwas angetrunken war.
Jonathan öffnete die Vordertür. Zwei Männer in Sportmänteln standen auf der Veranda. Er kannte die Männer nicht. Derjenige, der ihn jetzt ansprach, war athletisch gebaut, ein oder zwei Zoll größer als Jonathan, ein wenig über zwei Meter. Sein Haar war dunkel und kurz geschnitten. Der andere Mann war älter und etwas fülliger.
»Jonathan Crane?«
»Ja?«
Jetzt hielt der Mann ihm eine Polizeimarke vor die Nase, etwas, das Jonathan bisher nur im Kino oder im Fernsehen gesehen hatte, und für einen kurzen Moment dachte er, dass irgendwo eine versteckte Kamera sein musste. Aber das schien nicht besonders realistisch zu sein, so plötzlich wie die beiden Beamten auf seiner Veranda aufgetaucht waren.
»Ich bin Detective Frank Daniels, und das ist mein Partner Detective Jerry Gholson. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir Ihnen einige Fragen stellen würden?«
»Ja, sicher … ich meine, nein. Es macht mir nichts aus. Bitte kommen Sie doch herein.«
Er ging beiseite, und die Beamten betraten seine Wohnung. Die Lampe in der Küche war noch an, also wandten sich seine Besucher in diese Richtung. Die Flasche Whiskey stand so, dass jeder sie sehen konnte.
»Noch einen Schluck nach der Arbeit genommen?«, fragte der andere Beamte, Gholson.
»Ja.«
»Anstrengender Job?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln. »Sie unterrichten doch Schüler, oder?«
»Normalerweise ist er nicht so anstrengend. Aber ich habe vor einer Stunde herausgefunden, was Bobby getan hat. Ich schätze mal, dass Sie auch deswegen hier sind, oder? Um mich über ihn zu befragen?«
Daniels zeigte auf die Flasche Whiskey. »Wie viel hatten Sie davon heute Abend schon, wenn ich fragen darf?«
»Zwei«, sagte Jonathan, obwohl diese Antwort nicht ganz korrekt war, wenn man bedachte, wie voll das zweite Glas gewesen war.
»Macht es Ihnen etwas aus, unter dem Einfluss von Alkohol mit uns zu reden?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Es wird auch nicht lange dauern«, sagte Daniels. »Wir haben nur einige Fragen über Bob Steele.«
Jonathan hatte nichts vor ihnen zu verbergen, zumindest nicht über die Ereignisse dieses Tages. Trotzdem schlug sein Herz so stark in seiner Brust, dass er sich fragte, ob die Beamten es hören konnten.
»Es tut uns leid, dass wir unter diesen Umständen zu Ihnen kommen mussten«, sagte Daniels. »Das muss ziemlich hart für Sie sein, ich meine, Bobs Tod und all das. Ich denke, Sie standen sich wohl ziemlich nahe, oder?«
»Wir waren als Kinder befreundet.«
»Nur befreundet?«, fragte Gholson. »Haben Sie nicht einige Zeit lang auch unter demselben Dach gewohnt?«
Jonathan nickte. In seinen Ohren rauschte es wie ein Wasserfall.
»Ich wollte damit sagen, dass wir wegen unserer Eltern eine Menge Zeit miteinander verbracht haben. Meine Mutter und sein Vater haben sich viele Jahre lang ab und zu getroffen.«
»Ihre Mutter trifft sich doch immer noch mit Kenny Steele, stimmt`s?«, fragte Gholson jetzt.
»Soweit ich weiß, ja.«
Jonathan konnte langsam fühlen, wie der Whiskey seine Wirkung tat, so wie er es ja eigentlich gewollt hatte, und dass seine Aufmerksamkeit allmählich nachließ. Er wünschte, er hätte sich sein zweites Glas nicht so großzügig eingeschenkt.
»Ich sehe sie in letzter Zeit nicht mehr so häufig«, fügte er hinzu.
»Sie haben kein gutes Verhältnis zu Ihrer Mutter?«, fragte Daniels. Er nahm ein Notizbuch heraus und notierte etwas.
»Meine Mutter und ich sind nie gut miteinander ausgekommen. Ich wünschte, es wäre anders gewesen, aber daran kann man ja nun nichts mehr ändern.«
»Wann haben Sie denn das letzte Mal mit Bob gesprochen?«, fragte Gholson.
Ihre Treffen als Erwachsene waren ziemlich sporadisch gewesen und hatten schließlich ganz aufgehört, als Jonathan sich laut gefragt hatte, ob Bobbys Vater seine Mutter zu einer Alkoholikerin gemacht hatte.
»Vor einigen Jahren.«
»Nun«, sagte Daniels, »die nächste logische Frage wäre natürlich, warum Ihr Freund auf Fred Clark losgegangen ist und dessen Restaurant niedergebrannt hat.«
Diese Frage war so bedeutungsvoll, dass Jonathan beinahe lachen musste.
Stattdessen aber sagte er: »Ich habe gerade eben erst davon gehört, aber ich kann mir einfach keinen Grund vorstellen, warum er so etwas getan haben sollte.«
»Das wäre es also?«, fragte Daniels. »Es gibt nichts, was Sie uns noch erzählen könnten? Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein, was uns helfen könnte, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint.«
Jonathan hatte das Gefühl, dass diese beiden Detectives mehr wussten, als sie ihm sagen wollten. Ihm fiel plötzlich ein, dass er gerade mal fünf Minuten zuvor in seinen Computer die Einzelheiten eines Verbrechens eingetippt hatte, das er zusammen mit Bobby und den anderen Jungs vor unzähligen Jahren begangen hatte. Das würde er wohl kaum wegerklären können, wenn die beiden Beamten zufällig in den nächsten Raum gehen sollten.
»Sie wollen uns also einfach anlügen?«, fragte Gholson.
Jonathan trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Wie bitte?«
»Sie müssen meinen Partner entschuldigen«, sagte Daniels. »Er sitzt immer nur herum und erzählt langweilige Geschichten über seine glorreiche Vergangenheit. In letzter Zeit erzählt er ständig über die Fälle von Brandstiftung, die er in den Achtzigerjahren bearbeitet hat. Da gab es anscheinend mal einen Jungen namens Joe, der ein Haus niedergebrannt hat und dann einfach verschwand. Eine Woche danach hat irgendein anderes Kind aus derselben Nachbarschaft ein Restaurant niedergebrannt, und gestern hat dann dieser Typ, Bob Steele, plötzlich ein Restaurant abgefackelt, und zwar zufälligerweise dasselbe Restaurant und dann auch noch den Besitzer, Bob Steele, umgebracht. Da Sie ja alle miteinander befreundet waren, hat Gholson jetzt die verrückte Idee, dass alles irgendwie zusammenhängt.«
Jonathan wusste genau, dass jedes Polizeirevier Unterlagen über vergangene Fälle aufbewahrte. Er wusste auch, dass diese Unterlagen jetzt in Datenbanken gespeichert waren, und wahrscheinlich die alten Fälle ebenfalls elektronisch archiviert waren. Aber dass er jetzt vor denselben Beamten stand, die die damaligen Verbrechen bearbeitet hatten, an denen Jonathan vor fünfundzwanzig Jahren beteiligt gewesen war – das war doch schwer zu glauben. Doch hier stand Gholson mit seinem Partner Daniels und fragte ihn darüber aus, was im Lone Star Barbecue geschehen war, und wie das möglicherweise mit Jonathans Vergangenheit zusammenhing. Es spielte dabei offenbar keine Rolle, dass er niemals offiziell für diese längst vergangenen Verbrechen angeklagt worden war. Gholson glaubte anscheinend, dass Jonathan etwas wissen musste. Andernfalls wäre er heute Abend wohl kaum hier aufgetaucht.
Damals hatte Todd die Schuld für die Brandstiftung im Restaurant auf sich genommen, und diese war ja nun nicht gerade eine Ordnungswidrigkeit gewesen. Aber Joe Henreid war ein vermisstes Kind gewesen, das man niemals wiedergefunden hatte. Könnte es sein, dass Bobbys Verhalten letzte Nacht das Interesse an einer vermissten Person wieder neu erweckt hatte? Warum zum Teufel hatte er diesen Mist nur gerade in seinen Computer getippt?
»Wirklich?«, fragte Jonathan schließlich. »Sie glauben, dass es da einen Zusammenhang geben könnte?«
»Sie erinnern sich also an die Fälle, von denen ich rede?«, fragte Daniels.
»Natürlich! Ich kannte Todd Willis, und ich kannte auch Joe. Natürlich erinnere ich mich daran.«
»So wie wir das beurteilen können, muss es sich folgendermaßen abgespielt haben«, meinte Daniels. »Joe Henreid brannte das Haus nieder, das in Tanglewood stand, wo Sie alle gewohnt haben. Danach lief er von zu Hause weg … man geht allerdings davon aus, dass er entführt worden ist. Etwa eine Woche später brannte das Lone Star Barbecue ab, und obwohl Sie alle eng miteinander befreundet waren, auch mit David Clark, dessen Vater das Restaurant besaß, behauptete Todd Willis, dass er das Haus ganz allein angezündet hatte. Ist das soweit richtig?«
»Ja, so erinnere ich mich daran«, log Jonathan.
»Haben Sie seitdem mal mit Todd gesprochen?
Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.«
Gholson verringerte nun den Abstand zwischen ihnen. Jonathan konnte seinen Atem riechen, der nach Tabak stank.
»Mr. Crane. Ich werde Ihnen mal was sagen. Ich weiß zwar nicht genau, was in diesem Sommer passiert ist, aber ich weiß mit Sicherheit, dass die offizielle Geschichte kompletter Schwachsinn ist. Ich glaube nicht für eine Sekunde, dass ein elfjähriger Junge ganz allein ein Haus abfackelt. Und wenn ich damit richtig liege … wer hat ihm dann geholfen? Vielleicht irgendein anderer Junge, der nur eine Straße weiter wohnte? Besonders, wo doch einer von ihnen nur eine Woche später ein Restaurant niederbrannte, in dem sein Kumpel arbeitete. Verstehen Sie, was ich damit meine? Ich glaube nicht, dass Oswald allein gehandelt hat, und ich glaube auch nicht, dass Henreid allein gehandelt hat.«
In Jonathans Kopf klingelte es jetzt so heftig, wie das Besetztzeichen eines Telefons.
»Was wollen Sie denn bitteschön von mir hören?«, fragte er schließlich.
»Erzählen Sie uns, was in dem Sommer wirklich passiert ist. Sie wissen doch etwas, das kann ich in Ihrem Gesicht sehen.«
Jonathan öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus.
»Sie erzählen uns etwas, und wir erzählen Ihnen etwas«, schlug Gholson vor. »Wir erzählen Ihnen, was Bob gesagt hat, kurz bevor er erschossen wurde.«
Jonathan blinzelte. Jetzt verstand er endlich, warum die beiden Beamten ihn so hart wegen der Dinge bedrängten, die vor fünfundzwanzig Jahren passiert waren. Was auch immer Bobby gesagt haben mochte – es schien ihre Ermittlungen zu erschweren, aber wenn sie es ihm mitteilen wollten, dann hielten sie ihn anscheinend nicht für einen der Verdächtigen. Vielleicht konnte er ja zugeben, dass er etwas über die Brandstiftungen in seiner Kindheit wusste, ohne ihnen dabei zu verraten, dass er auch daran beteiligt gewesen war. Selbst wenn sie sahen, was er in seinen Computer getippt hatte … diese Sache war doch bestimmt schon vor langer Zeit verjährt.
Aber wollte er wirklich wissen, was Bobby gesagt hatte? Hatte dieser etwas gewusst, an das sich Jonathan nicht mehr erinnern konnte?
»Sie wissen, dass Todd Willis sich in diesem seltsamen Wachkoma befunden hat?«, fragte er Gholson schließlich.
»Ja, natürlich. Alle Eltern in der Nachbarschaft haben das gegen ihn vorgebracht, als das Restaurant niederbrannte. Zuerst dachten wir, dass das, was Todd passiert war, ziemlich cool wäre. Also haben wir ihn in unseren Klub aufgenommen. Aber dann hat Joe plötzlich das Haus angesteckt, und Todd wurde davon besessen. Er war der Meinung, dass uns dieses kleine Kind total die Schau gestohlen hätte. David hat sich zu dieser Zeit ständig über seinen Vater beklagt, weil dieser so ein mieser Chef war, und da hatte Todd die Idee, dessen Restaurant abzufackeln. Es war ja versichert, also fand er das irgendwie nicht so schlimm. Es war so eine Art Rebellion für ihn. Als keiner von uns da mitmachen wollte, hat er das Ganze einfach allein durchgezogen.«
In dieser Situation fiel Jonathan das Lügen irgendwie unwahrscheinlich leicht, als würde er sich eine Szene in einem Roman ausdenken.
»Sie wussten also, dass er das Restaurant abfackeln wollte?«, fragte Gholson. »Damals haben Sie aber alle behauptet, dass Sie davon keine Ahnung gehabt hatten.«
»Unsere Eltern haben uns zu dieser Aussage gezwungen.«
»Weil Sie glaubten, dass ihr Ruf in der Gemeinde wichtiger wäre als meine Untersuchungen?«
»Schauen Sie, wir waren doch nur Kinder, und Todd war schwer gestört. Er gab immerzu so seltsame Dinge von sich. Es war nicht unsere Schuld, dass er …«
»Sie hätten es jemanden erzählen können, bevor er es tat. Das heißt, falls alles wahr ist, was Sie uns gerade erzählt haben. Denn darauf würde ich nicht meine Pension verwetten.«
Wenn das alles war, was sie in der Hand hatten, dachte Jonathan, dann würden Gholson und Daniels niemals verstehen, warum er das Lone Star Barbecue abgefackelt hatte, und er selbst wohl auch nicht.
»Sie sagen, dass das alles nur alte Geschichten sind«, fuhr Gholson fort. »Aber wenn dasselbe Restaurant nicht einmal, sondern zweimal auf dieselbe Art und Weise zerstört wird, dann ist es mir egal, wie viele Jahre dazwischen liegen. Da gibt es mit Sicherheit einen Zusammenhang, und wenn man bedenkt, dass allein in dieser Woche zwei Freunde von ihnen betroffen waren – Alicia Ulbrecht und Adam Altman – dann können Sie vielleicht verstehen, warum wir Ihnen so hartnäckig Fragen stellen, nicht wahr Mr. Crane?«
Jonathan hatte seit der Highschool nicht mehr gehört, dass man den Namen Alicia laut ausgesprochen hatte, besonders nicht in diesem Zusammenhang. Sie war das erste Mädchen, das er jemals geliebt hatte, und er hatte all die Jahre sehr oft an sie gedacht. Er hatte niemals den Versuch unternommen, herauszufinden, wo sie sich aufhielt, vor allem, weil er davon ausgegangen war, dass sie schon vor langer Zeit fortgezogen war.
»Alicia Ulbrecht?«
»Sie wollen uns also sagen, dass Sie noch nichts davon gehört haben?«
»Nein«, sagte Jonathan. »Das habe ich nicht.«
»Anscheinend verfolgen Sie die Nachrichten nicht. Vor zwei Tagen brannte Alicia Ulbrechts Haus nieder, und einen Tag später ging nachts ein Bauprojekt von Adam Altman in Tanglewood in Flammen auf. Dann war da noch Bobbys Besuch bei Fred Clark gestern Abend. Sie kannten alle drei Opfer … zumindest kannten Sie sie, als Sie noch Kinder waren.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich ein Verdächtiger in dieser Sache bin?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Gholson amüsiert. »Nein, das habe ich nicht.«
»Das ist doch lächerlich. Ich habe von all dem erst heute Abend erfahren. Ich habe in den letzten fünfundzwanzig Jahren weder mit Alicia noch mit Adam gesprochen.«
»Wir haben auch nicht erwartet, dass Sie das Verbrechen sofort zugeben«, sagte Daniels. »Aber vielleicht sollten Sie sich schon mal mit einem Anwalt in Verbindung setzen.«
»Sie machen wohl Witze. Wozu das denn?«
»Heute Morgen hat jemand eine E-Mail an unser Revier geschickt«, erklärte Gholson. »Wir glauben, dass es sich dabei um einen Hinweis im Zusammenhang mit diesen Verbrechen handelt.«
»Wer immer es auch war«, fügte Daniels hinzu. »Er war klug genug, seinen Gmail-Account so zu modifizieren, dass er seine IP-Adresse verborgen hat.«
»Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Die E-Mail war kein besonders nützlicher Tipp«, meinte Gholson. »Es war eine Art Schlüssel. Eine verschlüsselte Botschaft. In der Betreffzeile oben stand in Großbuchstaben THE CITY WILL BURN.«
»Wir glauben, dass es sich bei dem Inhalt der E-Mail um den Text eines Songs handelt«, sagte Daniels, »sind uns aber nicht ganz sicher.«
In Jonathan stieg plötzlich eine Erinnerung auf: Todd mit seinem Keyboard, der ihnen Musik vorspielte.
»Erzählen Sie mir, was in der Mitteilung stand?«, fragte Jonathan.
Gholson räusperte sich, so als würde er vor einer Fernsehkamera stehen, dann rasselte er den Text roboterhaft herunter.
»I‘m gonna get you back, I‘m gonna show you what I‘m made of.
Ich werde dich zurückbekommen. Ich werde dir zeigen, aus welchem Holz ich gemacht bin.«
All seine Erinnerungen waren jetzt wieder da – hell und klar. Jonathan fragte sich, wie er jemals hatte vergessen können, dass Todd ihnen seine Musik vorgespielt hatte. Selbst heute Morgen, als er aus diesem seltsamen Traum aufgewacht war, war ihm die Bedeutung dieses Songs, und die Tatsache, dass Todd ihn gespielt hatte, noch nicht klar gewesen.
»Klingelt es da vielleicht bei Ihnen?«, fragte Gholson.
Jonathan merkte, dass seine Hände zitterten, und er war versucht, das Glas zu heben und den gesamten Inhalt auf einmal in sich hineinzuschütten, gleichgültig was die Beamten darüber denken würden.
Stattdessen sagte er nur: »Ich bin mir nicht sicher. Es kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Gholson sah ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. »Vielleicht kann ich Ihre Erinnerung ja wieder ein bisschen auffrischen. Wie war denn der Name des Klubs, in den Sie Todd aufgenommen haben?«
Er tat so, als ob er kurz darüber nachdenken müsste, wenn auch nur aus dem Grund, dass er ein wenig Zeit schinden wollte. Gholson glaubte, dass er eine explosive Wahrheit herausgefunden hatte, und Jonathan versuchte verzweifelt, eine Erinnerung zu verstehen, die überhaupt keinen Sinn ergab.
»Unser Klub hieß The Boys of Summer.«
Gholson lächelte triumphierend. »Jetzt begreifen Sie bestimmt auch, warum wir uns so sehr für Ihre Heldentaten während der Kindheit interessieren. Drei Ihrer Freunde sind seit Montag Opfer einer Brandstiftung geworden oder waren darin verwickelt, und bei der letzten sind sogar zwei Menschen ums Leben umgekommen. Sie können jetzt behaupten, dass Bob Steele alle drei Brände gelegt hat, aber dieser wäre ja wohl kaum in der Lage, eine E-Mail aus dem Jenseits zu schicken. Was bedeutet, dass dort draußen immer noch irgendjemand herumläuft, der Informationen über diese Verbrechen hat. Und wenn man den neuesten Hinweis, den Text eines Songs mit dem Titel The Boys of Summer, hinzunimmt, dann verstehen Sie bestimmt, dass wir möglichst viel über Ihren Klub erfahren wollen.«
»Ja, das verstehe ich natürlich«, erwiderte Jonathan. »Aber ich war nicht das einzige Mitglied dieses Klubs. Ich habe in dieser Woche kein Feuer gelegt, und ich war mit Sicherheit nicht an einem Mord beteiligt.«
Gholson und Daniels starrten ihn nur stumm an.
»Also, was hat Bobby gesagt, bevor er erschossen wurde?«, fragte Jonathan.
Daniels schaute in seine Notizen.
»Er rief, dass Todd Willis ihm gesagt hätte, dass dies das Ende wäre.«
Jonathan hatte das Gefühl, dass er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen würde. Seine Gedanken gerieten vollkommen außer Kontrolle. Irgendwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Und der Songtext, den Gholson gerade eben rezitiert hatte, war die Antwort auf eine Frage, von der er gar nicht genau wusste, wie er sie stellen sollte.
Er wünschte sich, dass sich die Detectives jetzt endlich verabschieden würden. Er wünschte, dass sie abhauen würden, damit er endlich seinen Drink nehmen konnte, und danach noch fünf oder sechs weitere.
»Ich weiß, dass das alles irgendetwas mit dem Sommer von damals zu tun hat«, sagte Gholson. »Wenn Sie so unschuldig sind, wie Sie behaupten, warum erzählen Sie uns dann nicht einfach, was los ist?«
»Weil ich nicht weiß, was los ist.«
»Sind Sie sicher?«
»Glauben Sie etwa, dass ich lüge?«
»Ich glaube«, antwortete Gholson und beugte sich zu ihm, »dass Sie uns anlügen, seit wir hier sind.«
Daniels ergriff seinen Arm. »Okay, Jerry. Ich denke, wir haben, was wir wollten. Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Crane.«
»Kein Problem.«
»Denken Sie besser noch einmal gründlich darüber nach, was damals passiert ist«, riet ihm Gholson, »und wenn wir das nächste Mal hier sind, haben Sie hoffentlich mehr zu sagen.«