Читать книгу THE BOYS OF SUMMER - Richard Cox H. - Страница 17

Kapitel 7

Оглавление

Hätte Alicia Ulbrecht gewusst, wie sehr sich ihr Leben in nur sieben Tagen verändern würde, dann hätte sie ihre Verabredung mit Stuart Pride wahrscheinlich abgesagt. Selbst jetzt, vor dem Feuer und der unerklärlichen Musik und dem Sturm war sich Alicia darüber im Klaren, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf ein Abendessen mit ihm einzulassen. Stuart war klein, irgendwas zwischen untersetzt und fett, aber sie hätte über seine äußere Erscheinung durchaus hinwegsehen können, wenn er etwas freundlicher oder witziger (oder beides) gewesen wäre. Er verbrachte den größten Teil der Zeit damit, über sich selbst zu reden, aber das war bei vielen erfolgreichen Leuten so, ebenso wie bei nervösen Männern bei der ersten Verabredung. Aber was Alicia an ihm und auch an vielen anderen Männern störte, war dieses blinde Beharren. Er gehörte zu jener Sorte von Menschen, die sich irgendwelche willkürlichen Ziele setzen und sie dann unbarmherzig verfolgen, egal wie unvernünftig diese Ziele auch sein mochten oder wie viel es sie kostete, um sie zu erreichen. Diese Eigenschaft gehörte so sehr zu seinem Charakter, dass er sie auf ein T-Shirt hätte drucken lassen können. Vier Wörter in Großbuchstaben: ICH BIN EIN STREBER.

Stuart war für, wie er es nannte, das »strategisches Rekrutieren« bei Feldman Golf zuständig, einer Produktionsfirma, die an der Interstate 44 zwischen Wichita Falls und Burkburnett lag. Alicia interessierte sich wirklich für seine Arbeit, denn sie hoffte, irgendwann in eine größere und bessere Stadt ziehen und eine wirkliche Karriere beginnen zu können, bevor sie fünfzig wurde. Aber als sie ihn fragte, welche Ausbildung er gemacht hatte, um neue Talente zu rekrutieren, offenbarte seine Antwort eine ziemlich beschränkte Weltsicht.

»Wozu brauche ich denn eine Ausbildung?«

»Na, um beurteilen zu können, welche Leute die Besten und Intelligentesten sind«, sagte sie und lächelte.

»Ich denke, ich weiß schon, wen man befördern sollte und wen nicht. Ich war schließlich Handelsvertreter im Außendienst, bevor ich diese Stellung in der Hauptverwaltung bekommen haben. Das war alles an Ausbildung, was ich brauchte.«

Alicia lächelte und überließ es wieder ihm, die Konversation zu bestreiten. Irgendwie schien es so zu sein, dass sie das bei Verabredungen immer tat. Sie lächelte die Männer an, lachte über ihre dümmlichen Witze und stimmte ihren absolut unbegründeten Argumenten zu. Sie wusste, dass sie in Wichita Falls niemals einen anständigen Mann treffen würde. Die wenigen intelligenten Männer, die sie im Laufe, der Jahre hier getroffen hatte, waren, abgesehen von Brandon, entweder sehr langweilig oder sehr religiös – oder beides. Und wenn sie sich zum zweiten oder dritten Mal mit ihnen verabredete, war ihr erster Impuls, die Männer herauszufordern und herauszufinden, wie neugierig sie waren. Vielleicht war der Grund dafür, dass sie sich so sehr zu Brandon hingezogen gefühlt hatte, der, dass er in Pennsylvania aufgewachsen war, und er, obwohl sein Fachgebiet Physik war, mehr über Geschichte wusste als jeder andere, den sie jemals getroffen hatte, und es machte nichts, dass er noch nicht einmal in der Nähe von Wichita Falls gewesen war, als der Tornado die Stadt und jeden, der darin wohnte, vernichtet hatte.

Stuart redete immer weiter. Sie versuchte, sich ganz darauf zu konzentrieren, was er sagte, aber da er fast nie eine Frage stellte, ließ ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr nach. Sie verlor sogar ihr Interesse an dem Chicken-Fajita-Salat, und aus irgendeinem Grund wurde ihr beim Geruch des gebratenen Fleisches leicht übel.

»Ich finde, es ist ein großartiger Abend«, sagte Stuart. »Wie steht es mit dir?«

»Sicher«, antwortete Alicia. »Das Chili‘s ist ein großartiges Restaurant.«

Ihr Tischpartner schien diese Antwort zu akzeptieren und fuhr fort, sich weiter darüber zu beklagen, dass das Fernsehen nicht besonderes viele Sendungen brachte, die wirklichen Amerikanern gefielen, wie zum Beispiel Hör mal wer da hämmert oder Ein Duke kommt selten allein. Er glaubte auch, dass die liberalen Medien das Land in den Abgrund führten, außer den lokalen Sendern natürlich, die er ganz gut fand. Alicia lächelte, während sie sich ein Studio-Apartment in Manhattan vorstellte. Es würde winzig klein sein, kaum groß genug, um sich nachts im Bett auszustrecken, aber das wäre nicht so schlimm, weil sie sowieso kaum daheim sein würde. Sie würde sich in Buchhandlungen aufhalten und im Central Park, in kleinen Cafés, wo sie echte Literatur lesen konnte, ohne dass die Leute den Kopf schüttelten. Wo jemand ein Gespräch über Bücher mit ihr führen wollte, die nicht gleich mit einem Flugzeugunglück oder einen Tornado auf der ersten oder zweiten Seite anfingen.

Wie aufs Stichwort sagte Stuart nun: »Nächste Woche jährt sich also zum dreißigsten Mal der Schreckliche Dienstag. Ich kann gar nicht glauben, dass es schon so lange her ist.«

Der Schreckliche Dienstag war der Name, den man dem massiven Tornado gegeben hatte, der 1979 zwanzigtausend Menschen in Wichita Falls obdachlos gemacht hatte. Er war eine ihrer frühesten und zugleich schrecklichsten Erinnerungen.

»Das stimmt«, sagte sie. »Ich denke, das wird eine tolle Erinnerungsfeier. Vielleicht gibt es ja sogar eine Parade.«

Stuart schien diese Bemerkungen nicht für allzu witzig zu halten.

»Hat er euer Haus auch getroffen?«, fragte er jetzt.

»Er hat uns um zwei Blocks verfehlt. Aber mein Vater war ein Sturmjäger. Er sah den Tornado, als er unsere Stadt noch gar nicht erreicht hatte. Sein Wagen wurde dabei zerstört und er wäre fast gestorben.«

»Mist!«, sagte Stuart. »Ein Sturmjäger in den Siebzigern. Ich wusste gar nicht, dass es die damals auch schon gab.«

»Ja, er war so begeistert, dass er sich einen neuen Job suchte, bei dem er nicht ständig im Büro sein musste. Ich weiß nicht, wie er das noch weiter machen konnte, nach dem, was uns damals passiert war, aber er ist einfach davon besessen gewesen. War deine Familie auch davon betroffen?«

»Nein, wir wohnten damals in der Nähe der Luftwaffenbasis. Wir waren also etwas weg vom Schuss. Gott sei Dank.«

Ihr fiel nun nichts mehr ein, was sie noch über den Tornado sagen sollte, und Stuart anscheinend auch nicht, denn für einige Augenblicke saßen sie nur da und starrten sich an.

»Sollen wir noch woanders hingehen?«, frage er schließlich.

»Ich glaube nicht, dass ich noch einen Bissen mehr von diesem Salat verkraften kann.« Ihr Magen machte mittlerweile so wütende Geräusche, dass sie sich fragte, ob Stuart sie auch hören konnte.

»Aus irgendeinem Grund bin ich heute Abend nicht sehr hungrig.«

Ein weiterer Moment des Schweigens verging, und obwohl die Chemie zwischen ihnen irgendwie nicht stimmte, kam es Alicia so vor, als ob etwas Unglaubliches unmittelbar bevorstehen würde. Sie war sich nur nicht sicher, was genau es war. Aber es war immer ein fester Bestandteil ihres Erwachsenendaseins gewesen, dass irgendwann etwas geschehen würde, das ihr Leben für immer in eine andere Richtung lenken würde. Vielleicht war einer der Gründe, warum sie Brandon so geliebt hatte, der, dass seine Arbeit am Teilchenbeschleuniger so exotisch gewirkt hatte … als würde sie eines Tages die Welt verändern. Aber jetzt war er weg, und sie war immer noch da, und Alicia fragte sich, ob sie schon immer falsch gelegen hatte, und ob nichts in ihrem Leben sich jemals ändern würde. Jeder Tag in Wichita Falls war wie der Tag zuvor. Dieselben Leute trugen dieselben Klamotten und aßen in denselben Restaurants. Wenn die Definition von Wahnsinn darin bestand, von einem unveränderlichen Verhalten ein anderes Ergebnis zu erwarten, dann war es wohl langsam an der Zeit, dass man sie wegsperrte. Vielleicht hatte man sie ja auch schon weggesperrt. Vielleicht wurde sie in diesem Augenblick von der anderen Seite eines Einwegspiegels beobachtet, den sie bisher für ihr Leben gehalten hatte.

Stuart musste offenbar gerade allen Mut aufbringen, um sie etwas zu fragen.

»Ich habe gehört, dass es eine neue Band gibt, die bei Toby‘s spielt«, sagte er schließlich. »Sie spielen viele Sachen aus den Achtzigern. Sollen ziemlich gut sein.«

»Tatsächlich?«

»Ja, hast du nicht mal gesagt, dass du das Zeug aus den Achtzigern magst?«

»Ich glaube nicht, dass wir je darüber gesprochen haben«, antwortete Alicia.

»Gehen wir ein wenig rüber? Wir könnten doch einen oder zwei Drinks nehmen und sehen, ob die Band gut ist.«

»Ich schätze es sehr, dass du mich fragst, aber ich glaube, ich mache für heute besser Schluss. Es klingt vielleicht ein wenig lahm, aber ich fühle mich nicht so gut.«

»Oh«, sagte Stuart nur.

Sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie ihm so eine Abfuhr erteilte, aber in ihrem Verdauungstrakt bereitete sich offenbar gerade ein Sturm vor.

»Du siehst tatsächlich ein wenig blass aus«, sagte Stuart. »Ich kann dich zur Apotheke fahren und dir etwas besorgen.«

Das Apartment musste ja noch nicht einmal direkt in Manhattan sein. Sie könnte ja ebenso gut in Brooklyn wohnen, wo die Mieten billiger waren. Wenn man etwas wirklich wollte, dann gab es immer eine Möglichkeit.

»Alicia?«

»Es geht schon. Es ist vielleicht besser, wenn ich sofort heimfahre.«

»Sicher«, sagte Stuart. »Okay.«

Auf dem Parkplatz ging es ihr noch schlechter, und der Lärm war fast unerträglich. Das Chili‘s befand sich auf dem Kemp Boulevard, wo die Jugendlichen jedes Wochenende Kleinlaster organisierten und die Straße mit extrem lauten Auspuffrohren und ebenso ohrenbetäubenden Lautsprecheranlagen unsicher machten. Der Verkehr kam kaum weiter, während die Jugendlichen herumgrölten und sich gegenseitig anmachten. Normalerweise amüsierte es Alicia, diese uralten Balzrituale zu beobachten, denn während ihrer Zeit auf der Highschool hatte sie ja auch nichts anderes gemacht. Aber im Augenblick war ihr zu schlecht dazu. Sie schwitzte und zitterte, und sie hatte das Gefühl, dass jemand in ihrem Magen chemische Versuche anstellte. Sie dachte daran, wie lächerlich sie jetzt aussehen und dass Stuart sie wohl für eine verweichlichte Zicke halten musste. Doch ihr war gerade gleichzeitig nach Weinen und Lachen zumute.

Stuart, der neben ihr ging, schien das Ganze aber irgendwie falsch aufzufassen.

»Was ist denn so komisch?«

»Nichts«, sagte sie.

»Was denn? Ich etwa?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Tut mir leid. Ich dachte nur, dass wir heute Abend gemeinsam etwas unternehmen könnten.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass es mir nicht gut geht.«

Alicia hielt neben ihrem Wagen an.

»Das ist meiner«, sagte sie. »Vielen Dank für das Abendessen.«

Ihr Magen revoltierte bereits. Die Nachtluft war so unangenehm feucht und warm. Stuart nahm ihre Hand.

»War schön, mit dir zusammen zu sein«, sagte er.

»Ja, es hat mir auch Spaß gemacht.«

»Würdest du demnächst noch mal mit mir ausgehen?«

Alicia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Doch sie konnte es einfach nicht über sich bringen, ihm gleich hier auf dem Parkplatz sämtliche Illusionen zu rauben.

»Ruf mich an«, entgegnete sie deshalb, »dann reden wir noch einmal darüber, okay?«

»Okay.«

Er stand nur da und konnte sich wohl nicht entscheiden, ob er sie küssen sollte oder nicht. Alicia beugte sich stattdessen vor und berührte seine Wange.

»Es tut mir leid, dass es mir gerade nicht gut geht. Ruf mich bald an, okay?«

»Okay.«

Im Rückspiegel konnte Alicia sich jetzt so sehen, wie sie nur Augenblicke zuvor Stuart gesehen hatte. Ihre Stirn war feucht und es klebten einige Haarsträhnen an ihr. Ihr Gesicht war blass und ein wenig aufgedunsen, ihre Augen blutunterlaufen. Sie hatte ihre Haare einige Monate lang einfach wachsen lassen, aber es war immer noch in diesem erbärmlichen Zwischenstadium, in dem sie überhaupt nichts damit anfangen konnte. Das blonde Haar ihrer Kindheit war schon vor langer Zeit dunkel geworden, aber in letzter Zeit dachte sie öfter daran, es sich wieder etwas heller zu färben, so wie es früher einmal gewesen war.

Der Verkehr auf dem Kemp Boulevard bewegte sich kaum vorwärts, und Alicia hatte das Gefühl, dass sie heute in diesem Wagen sterben oder zumindest den Salat aus dem Seitenfenster kotzen würde.

Dies war die Existenz, mit der sie sich abgefunden hatte, während sie darauf wartete, dass das Schicksal ihr etwas Besseres bescheren würde.

Während ihrer Jahre als Teenager hatte sie darauf gehofft, dass sie eines Tages ein wunderbares Leben führen würde, und dass sie heiraten und vielleicht Ärztin werden würde. Aber als sie die Stadt verlassen hatte, um für Texas A&M zu arbeiten, war sie fast unmittelbar von unerklärlichen Depressionen erfasst worden, die sie nur durch Alkohol hatte lindern können. Irgendwie ergab es keinen Sinn, dass sich das College als so belastend erwiesen hatte, denn sie hatte Jahre lang darauf gewartet, endlich ihrem heißen und staubigen Heimatort zu entkommen. Aber jede Nacht hatte sie wach gelegen, weil sie dieses ständig nagende Gefühl nicht loswerden konnte, dass sie irgendetwas unerledigt gelassen hatte, und dass da etwas Riesiges und Unwirkliches war, das sie die ganze Zeit beobachtete, und das auf sie wartete. Die einzige Möglichkeit, diese Gedanken zu verdrängen, war ein Drink oder zwei oder besser gleich zehn gewesen, und in diesem Zustand hatte sie natürlich nichts mit Elektronenhüllen und Atomgewichten anfangen können. Zusammen mit der Chemie hatte Alicia schließlich alle Hoffnungen auf ein Medizinstudium aufgegeben und in ihrem zweiten Semester war sie zu Blocker gewechselt und hatte Betriebswissenschaft studiert. Hier war sie mit Studenten zusammengekommen, die auf der Suche nach einem leichten Abschluss waren und geil auf eine Karriere in der Welt der Marktdurchdringung, der Kernkompetenzen und der Kundenbetreuung. Ihre Depressionen waren daraufhin noch stärker geworden.

Nach ihrem Abschluss hatte sie nur ein Angebot von der American Heart Association in San Antonio bekommen. Sie hatte es dankbar angenommen und sich auf den unvermeidbaren Umzug vorbereitet. Doch einen Tag bevor sie fahren wollte, klingelte plötzlich das Telefon, und Alicia erfuhr, dass bei ihrer Mutter Multiple Sklerose diagnostiziert worden war. Ihr Vater, ein regionaler Verkaufsleiter, der jeden Monat zwei Wochen unterwegs war, bat Alicia mit gebrochener Stimme, für einige Zeit nach Hause zu kommen. Er sagte nicht genau, was er mit einige Zeit meinte, aber das musste er auch nicht – bis zu seiner Pensionierung waren es noch zehn bis fünfzehn Jahre.

Danach hatte Alicia Tage lang geweint. Sie hatte mit ihrer Mutter und ihrem Vater geweint, aber auch allein. Doch es war schon seltsam: Nachdem sie den ersten Schock über die Diagnose überwunden hatte, waren die Depressionen plötzlich wie weggeblasen gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie jetzt endlich den eigentlichen Sinn ihres Lebens herausgefunden hatte – die Pflege ihrer Mutter. Aber eine Stimme tief in ihrem Inneren flüsterte, dass der eigentliche Grund, dass es ihr jetzt besser ging, der war, dass sie nach Wichita Falls zurückkehrte, und dass hier etwas auf sie wartete. Irgendetwas hier brauchte sie.

Als sie schließlich aus dem Stau auf dem Kemp Boulevard herauskam, beruhigte sich ihr Magen allmählich wieder. Sie stand an der Kreuzung Southwest Parkway, als sie in ihrem Rückspiegel ein rotes Flackern bemerkte. Zuerst dachte sie, dass eine Polizeistreife hinter ihr war, aber als die Lichter näherkamen, sah sie, dass es ein Wagen der Feuerwehr war. Er raste an ihr vorbei, als die Ampel gerade auf grün umschaltete, und als der Wagen in sicherer Entfernung vor ihr war, fuhr sie weiter in dieselbe Richtung. Da ihre Straße nur wenige Blocks entfernt war, schaute sie natürlich, ob die Feuerwehr in diese Richtung fuhr.

Sie fuhr in diese Richtung.

Doch es gab viele Häuser in ihrer Straße. Dutzende. Man konnte leicht das Schlimmste befürchten, aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es ihr eigenes Haus war? Sie konnte das Feuer bereits in ihrem Wagen riechen, selbst mit hochgekurbelten Fenstern – ein rauchiger und irgendwie chemischer Geruch.

Als sie sich ihrer Straße näherte, begannen ihre Handflächen plötzlich zu schwitzen. Jede Sekunde würde sie es genau wissen. Ihr Haus war das Dritte auf der linken Seite.

Doch schon bevor sie die Kurve nahm, konnte Alicia sehen, dass ihr Haus ein flammendes Inferno war.

Vor dem Haus standen zwei Wagen der Feuerwehr. Von einem wurde bereits Wasser auf das Dach gespritzt. Alicia konnte nicht verstehen, warum sie den Wasserstrahl auf das Dach richteten, wenn die Flammen doch aus den vorderen Fenstern schossen. Ihre Wertgegenstände befanden sich doch nicht auf dem Dach! Sie waren in den Zimmern, in dem die Flammen nun immer stärker wüteten. Sie hielt den Wagen an und ging auf einen der Feuerwehrmänner zu.

»Oh, mein Gott!«, schrie sie. »Oh, mein Gott!«

Der Feuerwehrmann sah sie gelangweilt und gleichzeitig entschlossen an. »Bitte, Sie müssen zurückbleiben. Bleiben Sie auf der anderen Seite der Straße.«

»Aber das ist mein Haus!«

»Das tut mir sehr leid. Wissen Sie, ob noch jemand darin ist? Vielleicht ein Haustier?«

Alicia weinte nicht gern in Gegenwart anderer Leute, die sie nicht kannte, aber jetzt war sie einfach, nicht in der Lage, sich zu beherrschen. Flammen schlugen aus einem klaffenden Loch im Dach. Schwarze Rauchwolken erhoben sich über den Flammen. Die Hitze war schier unerträglich, und das Schlimmste war, dass sie niemanden hatte, den sie anrufen konnte. Es gab niemanden, der ihr helfen würde. Ihr Vater war die ganze Woche unterwegs, und wen sollte sie sonst fragen?

»Nein, ich lebe allein.«

Auf der ganzen Straße beobachteten die Nachbarn das Spektakel von ihren Veranden und Vordergärten aus. Nachbarn, die sie kaum kannte. Fast alle (einschließlich sie selbst) verbrachten den größten Teil ihrer Zeit im Haus, und wenn sie mal draußen waren, dann nur, um den Rasen zu mähen oder den Hund Gassi zu führen. An einem typischen Tag sah sie nicht einmal viele Kinder hier. Es war ganz anders als in ihrer eigenen Kindheit, in der sie die Hälfte ihrer Zeit in den Häusern von Freunden verbracht oder die Nachbarschaft auf ihrem Fahrrad erkundet hatte. Damals hatte anscheinend jeder jeden gekannt. Heute hatten die Eltern alle Angst, ihre Kinder auch nur einen Moment lang aus den Augen zu verlieren.

Erinnerungen aus ihrer Kindheit ließen Alicia für einen Augenblick an das Jahr zurückdenken, als sie Jonathan Crane und David Clark kennengelernt hatte. In diesem Sommer war Brandstiftung ein Problem gewesen. Zuerst hatte es ein Haus in ihrer Straße getroffen, und später ein Restaurant, das Davids Vater gehört hatte. Der Junge, der für die Verbrechen verantwortlich gemacht wurde, hieß Thomas oder Todd, und er war mit Jonathan und David befreundet gewesen. Alicia war in jenem Sommer dreizehn Jahre alt gewesen, und es war das erste Mal gewesen, dass sie sich als etwas Besonderes vorgekommen war und das Gefühl gehabt hatte, dass auch das Leben etwas Besonderes mit ihr vorhatte. Aber jetzt war sie achtunddreißig, sie wohnte weniger als drei Meilen von ihren Eltern entfernt, und es gab keinen Grund, warum man ihr Leben nicht als absolut normal bezeichnen könnte.

Eine kleine Explosion in ihrem Haus riss sie jetzt abrupt aus ihrem Traum. Funken sprühten wie ein Feuerwerk aus dem Loch im Dach. Ein Mädchen schrie. Oder war es sie selbst? Sie wusste, dass die Realität des Feuers sie bald einholen würde, und sie würde den Verlust ihres Hauses betrauern und all die Jahre, die sie damit verbracht hatte, den ganzen Kram anzusammeln, der jetzt einfach so darin verbrannte. Doch im Moment konnte sie nichts anderes tun, als hilflos dabei zuzusehen, zu weinen und sich zu fragen, was um alles in der Welt das Feuer verursacht haben könnte.

War dies die unglaubliche Sache, die all die Jahre auf sie gelauert hatte?

War dies der Moment, in dem sich ihr ganzes Leben verändern würde?

THE BOYS OF SUMMER

Подняться наверх