Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 24
8.
ОглавлениеUm vom Kloster Raigern nach Würzburg zu gelangen (und auf eine Wenzel selbst noch nicht klare Weise Alexandra zu unterstützen), führte der sicherste Weg über Prag, Eger und Bayreuth. Es war nicht unbedingt der schnellste – ein Umweg von fünf oder sechs Tagen. Die kürzeste Strecke ging geradewegs nach Pilsen, aber das bedeutete einen anstrengenden Marsch durch böhmisch-mährisches Grenzgebiet. Schon auf dem ersten Teil der Reise, bevor die Straße nach Pilsen bei Deutschbrod von der nach Prag abbog, gestaltete sich das Vorwärtskommen problematisch. Die Gegend war abweisend, voller tief eingeschnittener Flusstäler, schroffer Hügel und Wälder, die sich an den roten Boden krallten. Die Spuren des schwedischen Heers, das Brünn vier Jahre zuvor belagert hatte, waren unübersehbar; und dabei waren in diesem kargen Landstrich noch nicht einmal die Verwüstungen der Hussitenkriege vollends verheilt.
„Bin ich froh, dass wir nicht die sichere Strecke nehmen“, hatte Melchior am ersten Abend der Reise gesagt und dabei Rapier und Dolch nachgeschliffen und deren Klingen eingefettet, damit sie nicht in den Scheiden festfroren.
„Das Elfte Gebot beschützt uns“, hatte Wenzel erwidert. Die anderen sechs Mönche, die Wenzel mitgenommen hatte, hatten unsicher gegrinst.
„Das beruhigt mich“, hatte Melchior gesagt und nicht nachgefragt, sondern nur den Dolch ein zweites Mal geschliffen.
Westlich von Deutschbrod war das Gefühl, irgendwo falsch abgebogen und versehentlich in den Ersten Kreis der Hölle geraten zu sein, noch drängender geworden. Auf den Kuppen der sanften Hügel reichte der Blick meilenweit, und wer hier früher schon einmal gereist war, konnte sich an Dörfer und Städtchen erinnern, die beinahe in Rufweite voneinander entfernt lagen und die Landschaft sprenkelten, bis das glänzende Band der Moldau die Felder von Nord nach Süd durchschnitt. Doch die Dörfer waren leer, die Städtchen niedergebrannt, der Schnee auf den Äckern unberührt ... ein Hunderte von Quadratmeilen großes Gebiet, das einmal nach Kaminfeuern und frisch geschlagenem Holz geduftet hatte und über dem jetzt der Geruch von Kälte und Verlassenheit hing, während der Schnee es zudeckte wie ein Leichentuch. Wer hier wanderte, erfuhr nicht Gastfreundschaft, sondern die Not der wenigen Überlebenden, und diese war so groß, dass sie das älteste Gesetz menschlichen Zusammenlebens ebenso vergessen hatten wie alle anderen Regeln. Mitleid war hier fehl am Platz; wenn man überfallen wurde, reichte es nicht, die Angreifer in die Flucht zu schlagen, denn sie würden es einen Tag später erneut versuchen, ganz einfach weil der Hungertod sonst auf sie wartete und sie nichts zu verlieren hatten als ein Leben, das dem wandelnder Leichen eher glich als allem anderem. Andersherum war es ebenso: Wer glaubte, von denen Mitleid erwarten zu können, die in einem leeren Dorf oder einer Engstelle oder einem dichten Wald plötzlich aus dem Boden zu wachsen schienen und die Straße hinten und vorne abriegelten, war ein Narr und würde nicht lange genug leben, um seine Narrheit zur Gänze auszukosten.
„Steck die Waffe weg“, sagte Wenzel zu Melchior, nachdem all dies innerhalb weniger Augenblicke durch sein Gehirn geschossen war.
„Ja“, höhnte der Anführer der abgerissenen Truppe, die Wenzel und Melchior und die sechs Mönche in ihrer Begleitung umstellt hatten. „Nimm die Waffe weg, Euer Gnaden, bevor du dir noch damit wehtust. Hahaha!“ Er versetzte Melchior einen Stoß vor die Brust. „Ist das nicht lustig? Hahaha!“
„Tief drinnen lache ich wie verrückt“, sagte Melchior und ließ das Rapier in die Scheide zurückgleiten. Seine Augen funkelten vor unterdrückter Wut. Die meisten der Armbrüste und die eine Schusswaffe, die die Wegelagerer besaßen, waren auf ihn gerichtet. Verglichen mit vielen anderen Straßenräubern waren sie hervorragend ausgerüstet. Eine Abteilung Soldaten musste auf der Suche nach Beutegut hier durchgekommen und die Kampfkraft von verrohten, ausgehungerten, vollkommen verzweifelten Männern unterschätzt haben.
„Ich bin sicher, die Herren Mönche werden uns vergeben, weil Vergebung ja eines von Gottes Zehn Geboten ist, oder nicht?“ Der Wegelagerer machte eine Kopfbewegung zu seinen Kumpanen hin. „Filzt die Burschen. Die Kuttenträger haben bestimmt was Wertvolles dabei. Seine Gnaden soll derweil anfangen, sich auszuziehen. Ich habe das Gefühl, seine Klamotten könnten mir passen.“ Der Mann musterte Melchior, der ihn mindestens um einen Kopf überragte und in den Schultern doppelt so breit war. Dabei verzog er das Gesicht zu einem Grinsen, aus dem braune Zähne ragten wie schiefe Grabsteine auf einem Friedhof. „Meinst du nicht auch, Euer Gnaden? Hahaha!“
„Vergebung und Nächstenliebe sind die Worte von Jesus Christus, nicht die der Zehn Gebote“, sagte Wenzel. Er beobachtete die beiden Männer, die nun ihre Armbrüste auf den Boden gelegt hatten und sich ihm näherten, ohne darauf zu achten, dass sie für einen Moment die Schusslinie ihrer Genossen durchquerten. Amateure! Cyprian Khlesl hätte diesen Umstand genutzt, dachte er bei sich. Cyprian Khlesl hätte bereits jetzt beide Burschen an der Gurgel gehabt und mit ihnen als Geiseln die Verhandlungen neu aufgenommen. Er war froh, dass Melchior nicht die ganze Impulsivität seines Vaters geerbt hatte. Es gab einen besseren Weg.
Die beiden Wegelagerer passierten Melchior Khlesl ungehindert und stapften auf Wenzel zu.
„Danke für die Belehrung“, sagte der Anführer. „Ich glaube, dein Mantel und deine Stiefel könnten mir auch passen, Kuttengesicht.“
„Das Elfte Gebot kennst du offenbar auch nicht“, sagte Wenzel.
„Es gibt kein Elftes Gebot. Fang an, dich auszuziehen, Euer Gnaden, oder soll ich dir ein paar runterhauen? Hahaha!“
„Da irrst du dich“, erklärte Wenzel. Er öffnete den Haken, der seinen Mantel zusammenhielt, und ließ die Hände sinken, als die beiden Männer danach griffen und Anstalten machten, ihn herunterzureißen. „Das Elfte Gebot lautet: Leg dich nicht mit den sieben Schwarzen Mönchen an.“
Die Männer wichen zurück und stolperten dabei über ihre eigenen Füße. Unter Wenzels Mantel war eine nachtschwarze Kutte zum Vorschein gekommen. Wie auf ein Zeichen hin öffneten auch die anderen sechs Brüder ihre Mäntel und ließen das Schwarz darunter sehen. Einer der Männer setzte sich auf den Hosenboden und führte seine panische Flucht im Krebsgang fort. Die restlichen Wegelagerer erbleichten und senkten unwillkürlich ihre Waffen.
„Scheiße“, krächzte der Anführer und schwieg dann, weil Melchior mit einem Satz bei ihm war, ihn herumwirbelte und den Dolch an seine Kehle hielt. Als die anderen die Waffen unschlüssig wieder hoben, hätten ihre Bolzen oder die Musketenkugel nur noch ihren Anführer getroffen. Keiner kam auf die Idee, auf die Mönche zu zielen. Als Wenzel seinen Brüdern zunickte und diese zu den Wegelagerern traten, ließen sie sich widerstandslos entwaffnen. Die Mönche stellten sich in einem Kreis zusammen und richteten die Waffen auf ihre früheren Besitzer.
„Bitte“, flüsterte der Anführer, der in Melchiors Griff hing wie ein Kind. „Wir wussten nicht …“
„Wie war das mit meinen Klamotten?“, knurrte Melchior.
„Viel zu groß, Herr“, hauchte der Wegelagerer. „Verzeihung, Herr.“
„Du kennst das Elfte Gebot ja doch“, sagte Wenzel.
„Wir wussten nicht … wir dachten, es sei nur …“
„Jede Legende hat einen wahren Kern.“
„Ja, Ehrwürden. Ja, das ist … ja, Ehrwürden … äh …“
„Was hast du von den Schwarzen Mönchen gehört?“
„Dass niemand überlebt hat, der ihnen je begegnet ist.“ Die Augen des Anführers waren weit aufgerissen.
„Das habe ich auch gehört“, sagte Wenzel. Er warf den Mönchen einen Seitenblick zu, und diese packten die Waffen fester. Die Augen des Anführers begannen voller Panik zu zucken. „Worauf wartet ihr? Wir haben einen Ruf zu verlieren. Feuer!“