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9.

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Der Winter in Schweden … ach, der Winter in Schweden! Ebba Larsdotter Sparre, Gräfin Horn zu Rossvik, hatte das Gefühl, tot gewesen zu sein und nun wieder leben zu dürfen. Der Himmel so blau wie die Unendlichkeit, die Landschaft darunter ein Muster aus Schwarz, Weiß und tiefem Grün, das die einzige Farbe zu sein schien und deswegen schillerte wie tausend Bruchstücke von Smaragden. Wo die gefrorenen Seen und Tümpel nicht vom Schnee bedeckt waren, waren sie Spiegelbilder des Firmaments. Der Geruch war der von Hunderten von Torffeuern, von der Unergründlichkeit des Meeres und von tiefen Schluchten, aus denen der Hauch von Unberührtheit wehte, und der Schnee war von einem Weiß, dass man die Arme seitlich ausstrecken und sich einfach hineinfallen lassen wollte, weil es so weich, warm und Willkommen heißend anmutete. Gut, der Schnee hier in Stockholm war zusammengetreten und schmutzig, aber die Gerüche waren da, auch wenn Stockholm eine große Stadt war. In Schweden war das Land großartiger als die Städte und niemals fern.

Ebba atmete tief ein, blinzelte und atmete langsam aus. Wieder zu Hause! Zurück aus dem Land des Verderbens. Sie wusste, dass das Verderben nicht zuletzt von Menschen aus aus ihrer Heimat in das Land getragen worden war, aus dem sie gerade kam; dennoch ließ sich die Verachtung, die sie unwillkürlich befiel, wenn sie die grauen Leute dort zwischen den grauen Häuserruinen unter ihrem grauen Winterhimmel durch die Gassen schlurfen sah, kaum verdrängen. Sie beherrschte die deutsche Sprache gut genug, um zu wissen, dass „Reich“ von „Reichtum“ kam. Angesichts dieses Hohns konnte man nur Verachtung empfinden; es konnte auf der ganzen Erdkugel nichts Elenderes geben als das Heilige Römische Reich. Sie schloss die Augen und spürte der Sonnenwärme nach, die von den backsteinernen Wällen des Schlosses ausstrahlte. Ein wohlbekanntes Kribbeln in ihrem Bauch stellte sich ein. Ebba war nicht in Stockholm geboren, und eigentlich war Schloss Tre Kronor mit seiner mächtigen Wallanlage, den Tortürmen und dem dahinter aufragenden Gebirge aus sandfarbenen Mauern, graublauen Dächern, gekrönt von dem runden, hoch aufragenden Burgturm nicht ihr Heim. Aber die Heimat war da, wo das Herz war, und Ebbas Herz gehörte hierher, weil es ausschließlich für einen ganz bestimmten Menschen schlug, der sich hinter diesen Mauern, unter diesen Dächern befand. Sie öffnete die Augen und drehte sich einmal um sich selbst. Da war die Brücke nach Norrmalm hinüber, wo sich neu erbaute Stadthäuser zwischen schilfgedeckten Bauernhütten und kleiner werdenden Feldern erhoben. Da waren die Backsteinfassade und der Turm der Sankt-Nikolai-Kirche. Da war der weite Platz, der zu den Kaianlagen an der Ostseite der Altstadtinsel führte, und dahinter der Wald aus Schiffsmasten. Das Schiff, mit dem sie gekommen war, lag irgendwo dort, der Standort schon vergessen. Sie hatte einen Umweg gemacht, war bewusst von der Schiffsanlege nach Süden gelaufen, den Kai entlang, in die Östliche Lange Straße eingebogen und an der Gertrudskirche vorbei wieder nach Norden zum Schloss gelaufen, obwohl sie allein war und nicht einmal hatte warten wollen, bis einer der Matrosen des Schiffes freigeworden wäre, sie zu begleiten. Kaum jemand hatte sich nach ihr umgedreht, und wenn, wäre ihr der kleine Skandal, als Frau von Stand ohne Begleitung durch die Stadt zu gehen, auch egal gewesen. Das Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen, und sie hatte es kaum erwarten können, endlich ins Schloss zu gelangen und in die geliebten Arme zu sinken; aber sie hatte sich dennoch Zeit genommen, die Stadt zu begrüßen. Das Vergnügen der Rückkehr wäre sonst nicht vollkommen gewesen.

Sie straffte sich und gab den beiden Matrosen ein Zeichen, die ihr Gepäck inzwischen vor das Schloss geschafft hatten. Die Männer schleppten es ihr hinterher, gaffend wie jeder, der zum ersten Mal in die gewaltige Anlage des Schlosses eindrang. Die Wachen grüßten Ebba mit einem Kopfnicken. Sie marschierte mit klackenden Stiefeln über den Innenhof, grüßte nach hierhin und dorthin, wo Männer sich an den Hut tippten und Frauen knicksten, und knickste einmal selbst, als die vierschrötige Gestalt von Reichskanzler Oxenstierna an ihr vorbeieilte, wie üblich den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die Augenbrauen bis zum Rand seiner runden Kappe gewölbt. Die Treppe hinauf zum Eingangsportal unter den Lauben nahm sie fast im Laufschritt. Ohne innezuhalten betrat sie das Gebäude, musterte sich im Vorbeigehen in den Spiegeln an den Wänden, schob eine Stirnlocke unter ihren Hut zurück und fuhr sich mit den Fingern durch das üppige lockige Haar, das rotblond darunter hervorquoll, biss sich auf die Lippen, um sie röter werden zu lassen, und seufzte insgeheim darüber, dass stattdessen ihre Wangen so rot waren wie die eines Bauernmädchens. Wie jede Hofdame hatte sie sich früh angewöhnt, ihre Gefühle nicht auf ihren Zügen aufscheinen zu lassen, und sie hatte sich den halb schläfrigen, halb gelangweilten Gesichtsausdruck angeeignet, der alles kaschierte, was an Selbstbestimmung, Trotz oder Kühnheit erinnert hätte. Aber ihre glühenden Wangen und ihre Augen verrieten ihre wahren Gefühle jedes Mal zuverlässig. Es war das Erste gewesen, was Königin Kristina zu ihr gesagt hatte, als sie vor vier Jahren am Hof vorgestellt worden war: „Man sieht Ihr bis ins Herz hinein, Mademoiselle!“ Es hatte eine Weile gedauert, bis Ebba die tödliche Verlegenheit überwunden und festgestellt hatte, dass es keine Zurechtweisung gewesen war. Dennoch wünschte sie sich manchmal, die Perfektion zu besitzen, mit der die Königin selbst eine Maske aufsetzen konnte. Es gab genügend Leute, die Kristina reizlos fanden mit ihrem leisen Lächeln und den fast immer halb geschlossenen, dunklen Augen, mit denen sie ihr Gegenüber von unten herauf unter dem Vorhang ihrer üppigen Lockenpracht heraus ansah. Sie hatten die Königin nicht gesehen, wenn sie vor ihren Vertrauten einmal die Maske ablegte und ihrerseits einmal in ihr Herz blicken ließ, das einer leidenschaftlichen Frau, die entschlossen war, die vielen Verletzungen, die ihrer Seele als Kind beigebracht worden waren, in einen Vorteil zu verwandeln.

Die Matrosen, die Ebba hinterhereilten, seufzten erleichtert, als sie vor einer Doppeltür stehenblieb und sie ihre Lasten absetzen konnten. Die beiden Männer mit den Hellebarden nickten grüßend und nickten dann noch einmal, als sie die Augenbrauen hochzog und auf die Türen deutete. Dahinter war der große Saal, und die Königin hielt sich dort auf und war bereit, die Aufwartung der Rückkehrerin zu empfangen. Ebba winkte einem Pagen, der eine Treppe herunterkam und bei ihrem Anblick auf dem Absatz kehrtmachen wollte.

„Begleite die beiden Männer hier zu meinen Gemächern und sieh zu, dass sie die Truhen ordentlich abstellen. Dann geh mit ihnen zum Schiff und hol meine Zofe ab; sie soll meine Gewänder auspacken und dafür sorgen, dass die Matrosen eine anständige Belohnung erhalten.“

Der Page nickte gottergeben; die Matrosen strahlten und sagten mit zahnlückigem Grinsen: „Tausend Dank, Comtesse, Euer erlauchte Hoheit, Prinzessin …!“

Ebba achtete nicht auf sie. Sie musterte kurz ihr Gewand, das sie die ganze Reise über unberührt in ihrer Truhe verwahrt hatte, um es für diesen Moment der Rückkehr aufzuheben, seufzte über die unvermeidlichen Quetschfalten und drehte sich einmal um sich selbst. Einer der Wächter löste eine Hand von der Hellebarde und deutete damit auf seine Nierengegend, und Ebba fuhr mit den Händen in ihren Rücken und zerrte an ihrem Jackensaum, bis dieser sich aus den Falten des Reiserocks befreit hatte. Der Wächter zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte zurück. Dann stieß sie die Türen auf, trat mit schnellen Schritten bis in die Mitte des Saals, hörte, wie das Stimmengemurmel erstarb, schluckte plötzlich trocken und wusste, dass ihr Gesicht so rot war wie ein Sommerapfel. Sie wandte sich der kleinen Gruppe teuer gekleideter Frauen zu, in deren Mitte Königin Kristina stand, und sank in einem tiefen Knicks zusammen. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Nur noch ein paar zeremonielle Einzelheiten, dann würde sie diese Halle wieder verlassen und danach endlich die Küsse schmecken dürfen, die sie sich bereits eingebildet hatte, als das Schiff noch mitten im Anlegemanöver steckte, und die Berührungen spüren, die sie so vermisst hatte und für die ihre eigene Hand im Dunkel der Nacht nur ein ungenügender Ersatz gewesen war. Sie schaute auf in das Gesicht der Königin und versuchte sich auf ihren Bericht zu konzentrieren.

„Das Befremdliche an den Friedensverhandlungen ist“, sagte Ebba, nachdem die zeremoniellen Einzelheiten tatsächlich vorüber waren und die Königin sich mit einem kleinen Kreis aus Beratern in ihr Arbeitszimmer neben dem großen Saal zurückgezogen hatte, „dass sie so nahe wie noch nie zuvor vor dem Abschluss stehen und dass dennoch der kleinste Anlass sie zum Scheitern bringen und den Krieg bis ans Ende aller Tage fortsetzen kann.“

Der kleine Kreis bestand aus einem halben Dutzend Menschen, bis auf Ebba und die Königin alles Männer. Die zweiundzwanzigjährige Königin hatte aus ihrer Abneigung gegen das „weibische Gehühnere und ihre närrischen Ansichten“ bezüglich solcher Dinge wie politischer Entscheidungen oder der Fortführung des Krieges noch nie ein Hehl gemacht; wenn es darum ging, Entscheidungen zu fällen, die das Königreich betrafen, gab es wenige Frauen, die sie um Rat fragte. Ebba erkannte, dass Axel Oxenstierna nicht mehr zum engen Kreis gehörte. Der alte Kanzler hatte Kristina von Kindesbeinen an in Politik und Staatsrecht unterrichtet, bis er plötzlich bemerkt hatte, dass er statt einer klugen Marionette eine selbstständig denkende, hochgebildete Königin erschaffen hatte; seine Versuche, ihr daraufhin die Zügel anzulegen, hatten zu einer Entfremdung geführt, die den Kanzler aus dem intimsten Kreis der Königin ausgeschlossen hatte. Magnus de la Gardie, einst der Favorit der Königin, bis er, ohne sie zu informieren oder gar um ihre Erlaubnis zu bitten, deren Cousine geheiratet hatte, war ebenfalls nicht mehr Teil des Zirkels. Der französische Botschafter Pierre-Hector Chanut gehörte hingegen dazu, ebenso der Bischof von Strångnås, Johann Matthiae, ein Protestant und Fantast, der tatsächlich überzeugt war, dass die vielen protestantischen Glaubensströmungen sich in einer einzigen zusammenfassen ließen, und Jacob de la Gardie, Magnus’ jüngerer Bruder, den Kristinas Ärger über den Verrat ihres einstigen Günstlings nicht getroffen hatte. Jacob wies alle Vorteile seines großen Bruders auf – Intelligenz, Schlagfertigkeit, ein hübsches Gesicht und vollendete Manieren –, ohne dessen Nachteile zu besitzen, nämlich Lüsternheit und absolute Unzuverlässigkeit, wenn es um Dinge wie Treue oder Loyalität ging. Ebba warf ihm einen Seitenblick zu, und Jacob schaute auf und erwiderte den Blick. Seine Augen leuchteten auf, und er grinste wie ein kleiner Junge. Ebba unterdrückte das Lächeln, das sich auf ihre Lippen stehlen wollte, und konzentrierte sich auf ihren Bericht. Sie war unsicher, wie weit sie ausführen sollte, was sie in Münster und Osnabrück belauscht hatte. Neuerdings gehörten auch zwei Männer in schwarzen Roben und dreieckigen Hüten auf dem Kopf zum Kreis um Kristina: Angehörige der Societas Jesu. Sie konnte nicht einordnen, was sie hier zu suchen hatten. Johann Matthiae schien es ähnlich zu gehen; er hüstelte und räusperte sich fortwährend, als ginge von den beiden Jesuiten ein scharfer Geruch aus.

„Was ist der Grund?“, fragte Kristina. Die Unterhaltung wurde französisch geführt, obwohl Botschafter Chanut die schwedische Sprache hervorragend beherrschte. Es war eine von diesen diplomatischen Protokollnotwendigkeiten, die Kristina gern befolgte, um ihre eigene Kenntnis fremder Sprachen zu beweisen.

„Abgesehen von den undurchsichtigen Winkelzügen von Kardinal Mazarin im Hintergrund, der absoluten Dämlichkeit von Graf Oxenstierna, dem Bemühen von Nuntius Chigi, nur ja nirgends anzuecken, der cholerischen Arroganz des kaiserlichen Unterhändlers Issak Volmar, der Kurzsichtigkeit von Kaiser Ferdinand, der lieber das ganze Reich verliert, als auch nur einen Bauernhof aus dem Habsburger-Territorium abzugeben, dem Neid von Adriaan de Pauw auf das Gepränge des Herzogs von Bourbon-Orléans, der Steifheit des spanischen Gesandten Gaspar de Bracamonte y Guzmán Conde de Peñaranda, der stets darauf besteht, mit seinem vollen Namen angesprochen zu werden …?“

Pierre-Hector Chanut neigte den Kopf und lächelte. „Treffsicher charakterisiert wie gewöhnlich, Comtesse Horn.“

„Abgesehen davon?“, fragte Königin Kristina.

„Nichts“, sagte Ebba. „Und das ist das Allerbefremdlichste daran. Alle brauchen den Frieden; soweit ich erkennen konnte, wollen ihn auch alle. Es liegt nur an Details …“

„Der Teufel steckt im Detail“, sagte Johann Matthiae und hüstelte erneut, als die beiden Jesuiten sich einen kurzen Blick zuwarfen.

„Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde“, sagte Ebba.

„Was?“

„Es ist, als wäre der Teufel selbst daran beteiligt, alle Bemühungen zu untergraben. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dies ist tatsächlich Armageddon, die Schlacht, die niemals endet, bis alles Leben auf der Welt erloschen ist.“

„Oh“, sagte die Königin und machte ein betroffenes Gesicht.

„Was empfehlen Sie, Comtesse?“, fragte Chanut.

„Es ist nicht meine Rolle, hier Empfehlungen auszusprechen. Ich habe nur beobachtet. Meine Notizen werden gerade für Ihre Hoheit zusammengestellt.“

„Beobachtet…“, murmelte einer der Jesuiten.

Ebba fasste ihn ins Auge. „Wollen Sie uns etwas sagen, Pater?“, fragte sie. Selbst der französische Botschafter blickte beim Klang ihrer Stimme auf. Die Temperatur im Raum war soeben um mehrere Grade gefallen. Jacob de la Gardie hielt den Atem an. Um die Lippen der Königin zuckte ein kaum wahrnehmbares Lächeln, doch dann machte sie ein strenges Gesicht.

„Schluss jetzt“, sagte sie. „Wir werden die Notizen von Gräfin Horn lesen und Sie dann zurate ziehen, meine Herren, wenn es nötig sein sollte. Und Schluss auch“, sie lehnte sich zurück und lächelte diesmal wirklich, „mit der Politik. Wir möchten Sie alle einladen in die Schatzkammer und Ihnen etwas Neues vorstellen.“

Chanut lächelte selbstgefällig in sich hinein, während die Königin ihnen voranschritt – wie üblich mit den langen Schritten und den schwingenden Armen eines Dragoners. Ebba gesellte sich an die Seite des Botschafters.

„Ein Geschenk aus Frankreich, Exzellenz?“, fragte sie halblaut.

Der Botschafter nickte. „Etwas, das großes Gefallen erregt hat, wie ich erfahren durfte.“

„Sie sind die Großzügigkeit in Person, Exzellenz.“

„Schweden ist der wichtigste Verbündete Frankreichs und Königin Kristina meine bevorzugteste persönliche Freundin, wie Sie wissen.“

„Was ist es?“

„Ich will der Königin nicht die Überraschung verderben, Comtesse.“ Er blickte ihr tief in die Augen. Chanut war gerade erst in Stockholm angekommen, als er sie eines Morgens mit einem Handkuss begrüßt hatte; einem Handkuss, bei dem seine Zunge plötzlich das Häutchen zwischen ihrem Ring- und Mittelfinger geleckt und er dabei etwas gemurmelt hatte, das wie eine Einladung in sein Haus klang. Ebba hatte ihm die Hand entzogen, sie betrachtet, wie nachdenklich über die feuchte Stelle gerieben – Chanut hatte hoffnungsfroh zu grinsen begonnen – und dann gesagt: „Nach dem, was man so hört, ist die Flinkheit Ihrer Zunge bei Verhandlungen unerreicht, Exzellenz.“ Er hatte sich tief verbeugt und ihr keine weiteren Avancen mehr gemacht. Tatsächlich hatte er sich schon in den wenigen Tagen seit seiner Ankunft einen Ruf als außerordentlich erbärmlicher Liebhaber erarbeitet. Dennoch hatte sie sich seine ewige Wertschätzung errungen. Zum einen hatte er durch ihre Bemerkung den Eindruck gewonnen, dass sie eine blendend aussehende Spinne im Netz des Hoftratsches war, zum anderen wurde ihm durch das Ausbleiben spöttischer Bemerkungen klar, dass sie niemandem am Hof von der Episode erzählt hatte. Außer Königin Kristina natürlich, was er nie erfahren würde und die ihre eigene Wertschätzung Männern gegenüber nicht daran ermaß, ob sie die Nachtstunden zum Lesen ihrer Korrespondenz nützten, sie im Wein ertränkten oder sich damit vertrieben, dass sie die Weiblichkeit am Hof von ihrer Männlichkeit zu überzeugen suchten. Der Königin hatte es genügt zu erfahren, dass Ebba der Einladung des Botschafters nicht gefolgt war.

Die Wachen vor der Tür zu Kristinas Schatzkammer, die in Wahrheit eine Kunstsammlung war, rissen die Türflügel auf. Kristina führte ihre Begleiter durch eine Anzahl kleiner Kammern bis vor ein Podest, das mitten in einem der Räume stand und hinter dem eine Tranlampe brannte. Das Flämmchen beleuchtete eine geöffnete Schatulle. Die Besucher versammelten sich darum und gafften sie an, außer Pierre-Hector Chanut natürlich, der sich mit dick aufgetragener Bescheidenheit im Hintergrund hielt.

„Was ist das?“, fragte Jacob de la Gardie.

„Ein Fingerknochen“, sagte Ebba. „Eine Reliquie, Exzellenz?“

Chanut warf einen Blick zu Königin Kristina und lächelte dann. Kristina betrachtete das Kleinod mit offener Bewunderung. Ebba hütete sich, die sarkastische Bemerkung hinterherzuschicken, die ihr auf der Zunge lag.

„Und was für eine“, sagte der französische Botschafter.

„Spannen Sie die Herrschaften nicht auf die Folter, Pierre“, sagte Kristina. „Es ist ein wundervolles Geschenk, und Sie dürfen stolz darauf sein, es uns gemacht zu haben.“

„Die Reliquie einer Gotteskriegerin für ihre Schwester in Herz und Geist“, erklärte Chanut.

„Der Knochen stammt von Jeanne d’Arc?“, fragte Ebba, während die anderen noch stumm die Lippen bewegten und das Rätsel zu lösen versuchten.

„Respekt, Comtesse.“ Chanut verbeugte sich.

„Beeindruckend“, erklärte Ebba und verbiss sich den Nachsatz, dass die Bemerkung der „Schwester im Geist“ für die fünfsprachige, in römischer Geschichte bewanderte, taktisch brillante und in Politikdingen so raffiniert wie der beste Diplomat denkende Königin von Schweden, die nebenher noch erfolgreich ritt, jagte und die Muskete handhabte, eine Beleidigung war: Jeanne war ein Bauernmädchen gewesen; sie war einer Bestimmung gefolgt, weil sie es nicht besser wusste. Ebba ahnte, dass der Botschafter keine Beleidigung beabsichtigt hatte und die Königin es auch nicht so auffasste. Das Geschenk faszinierte Kristina von Herzen. Ebba setzte einen Blick auf, der sanfter war als zuvor und Chanut signalisierte, dass sie es ehrlich meinte: „Eine ausgezeichnete Wahl, Exzellenz.“

„Zu gütig, Comtesse.“

„Gibt es noch etwas, das Hoheit Ihrer Sammlung hinzugefügt haben und das ich noch nicht kenne?“, fragte Ebba.

Kristina wandte den Blick von der Reliquie ab und musterte Ebba. „In der Tat“, sagte sie. „Aber es ist noch nicht katalogisiert. Wer möchte, darf uns gerne folgen.“

Sie schritt zu einer Ecke des Raumes, nahm einen langen Haken und, bevor die Herren ihr noch beispringen konnten, hängte ihn ohne Mühe in einen Ring ein, der an der holzvertäfelten Decke hing. Der Raum war so hoch, dass die Stange des Werkzeugs die Länge einer Pike hatte; Ebba hatte Soldaten gesehen, die Mühe hatten, mit den zwei Mannslängen messenden Waffen zu hantieren. Obwohl sie wusste, wie besessen die Königin davon war, ihre schiefe Haltung und ihre ungleichen Schultern mit Leibesübungen auszugleichen, war sie jedes Mal wieder darüber erstaunt, welche Kraft in dem etwas zu kurz gewachsenen, fraulich-üppigen Leib steckte. Eine Klappe öffnete sich, und Kristina zog mithilfe des Hakens eine Art Leiter herab, die nicht mehr war als ein Balken, an dem links und rechts kurze Sprossen angebracht waren. Sie stellte einen Fuß auf die erste Sprosse.

Die Männer sahen sich an. Die Jesuiten schüttelten bereits die Köpfe. Der Botschafter und Jacob de la Gardie trugen modische halblange Pluderhosen mit Spitzenbesatz, darunter enge Beinlinge und hochhackige Schuhe mit Schleifen daran. Ihre Jacken waren reich bestickt und saßen stramm; sie waren zum Ansehen und Beneidetwerden gedacht und nicht dafür, mit ihnen eine Sprossenleiter hinaufzuklettern. Johann Matthiae war ein alter Mann, würdevoll mit altmodischem Mühlradkragen gekleidet und von der Gestalt eines hungrigen Storchs. Er seufzte. Königin Kristina hingegen trug ein schlichtes, schwarzes Kleid mit einem kurzen Umhang, den sie über dem hochgeschlossenen Dekolleté kunstlos zusammengeknotet hatte, und halbhohe Stiefel. Sie hätte mit ihrer Kleidung jederzeit ausreiten, auf die Jagd gehen, an einem Schießwettbewerb teilnehmen oder einen Baum hochklettern können.

„Wenn ich darf, Hoheit?“, fragte Ebba und stellte sich neben die Königin.

„Na gut“, seufzte Kristina. „Wir nehmen es Ihnen nicht krumm, meine Herren. Sie werden die Neuerwerbungen sehen, wenn sie hier unten ausgestellt werden.“

Die Herren zogen sich unter allerlei Verbeugungen zurück. Ebba knickste zum Abschied. Dann begegnete sie dem amüsierten Blick der Königin.

„Männer“, sagte Kristina.

„Immer dasselbe“, seufzte Ebba.

Kristina machte eine einladende Handbewegung. „Geh Sie voran, Gräfin Horn.“

Ebba kletterte die Leiter hinauf, flink wie ein Eichhörnchen. Die Königin folgte ihr mit derselben Behändigkeit. Ebba sah sich um. Der Raum enthielt ein paar offene Kisten und roch nach Staub und Holz. Er war ein Teil des Dachbodens; das Gebälk durchzog ihn hoch oben in der Finsternis, und obwohl es Winter war, war er von der Sonne warm. Durch Ritzen im Dach fielen einzelne Lichtstrahlen und schufen Säulen aus tanzenden Partikeln; es sah aus, als glühten Tausende von Sternschnuppen auf und vergingen. Kristina schwang sich durch die Luke im Boden und putzte sich die Hände an ihrem Rock ab.

„Neuerwerbungen, Hoheit?“, fragte Ebba.

„Mir kommt es immer wieder wie eine Neuheit vor“, sagte die Königin. „Oder besser: immer noch … nach all den Jahren.“ Ihre Stimme klang jetzt warm und belegt. „Ich bin froh, dass du danach gefragt hast. Ich habe die ganze Zeit nach einer geschickten Überleitung gesucht.“

„Ich wusste, dass die Leiter sie abschrecken würde“, sagte Ebba. Sie trat einen Schritt auf Kristina zu.

„Ma chère Belle“, flüsterte die Königin heiser. „Ma trés chère Belle, qui je t’aime plus de ma vie …“

„Meine Königin“, wisperte Ebba, dann schmiegte sie sich in die Umarmung Kristinas und genoss den Kuss, nach dem sie sich so lange verzehrt hatte, und die Nähe des einen Menschen, dem ihr Herz bedingungslos gehörte und der ihre größte Liebe war.

Die Erbin der Teufelsbibel

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