Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 32

16.

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„Königsmarcks Quartiermeister hat an fast alles gedacht“, flüsterte Samuel Alexandra ins Ohr. „Sogar das kleine Türchen hier in der Stadtmauer, das zu den Fischteichen führt, lässt er bewachen.“

Alexandras Blicke schweiften zwischen den anderen hin und her: Agnes, dem Schreiber, dem Bauern, Samuel und dem Mann mit dem runden Gesicht, der, so viel wusste sie mittlerweile, Alfred Alfredsson hieß. Er hatte seine komplizierte Verbeugung vor Agnes und ihr erneut vollführt, als sie in dem eingefallenen Haus gegenüber von Samuels Quartier aufeinandergetroffen waren. Agnes hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts. Sie hatte auch nicht gefragt, wie Alexandra Samuel gefunden hatte und weshalb er ihnen helfen wollte, aus der Stadt zu entkommen. Alexandra ahnte dumpf, dass Agnes mit ihrem üblichen siebten Sinn längst wusste, wie das Verhältnis von Alexandra zu Samuel sich gestaltete.

„Ich sehe keine Wache“, sagte Alexandra und bemühte sich, die Dunkelheit zu durchdringen. Das Türchen war halb unter dicken Efeu- und Weinranken versteckt, die an der Innenseite der Mauer hingen. Es hätte nicht verlassener daliegen können.

Samuel zögerte einen kleinen Moment. „Komm mit“, sagte er dann. Er huschte über die Gasse und drückte sich an rußgeschwärzten Hauswänden entlang bis zu einer nur leicht beschädigten Hütte, die ein paar Dutzend Schritte von dem zu bewachenden Türchen entfernt lag. Mit einem Finger auf den Lippen führte er sie um die Hütte herum, und Alexandra sah zu ihrer Überraschung, dass aus einer Fensteröffnung in der Rückseite Licht sickerte. Das Fenster war nicht mehr als ein rechteckiges Loch in der Wand, von innen mit einem Stück Tuch verhängt. Unendlich vorsichtig schob Samuel das Tuch ein paar Fingerbreit beiseite. Dann winkte er Alexandra mit einer Kopfbewegung heran.

Der Blick war der in einen Raum, der als Koch-, Wohn- und Schlafstätte diente. Die Kochstelle war nicht mehr als eine Ausbuchtung in der Wand, in der ein paar Scheite schwach glommen; ein kleiner Kessel hing darüber. Der Raum war voller Rauch und dem Gestank von Menschen, die sich schlecht ernähren und niemals waschen können. Alexandra kniff die Augen zusammen, weil sie zu brennen anfingen. Es schien, dass ein Raum mit einer Atmosphäre wie dieser kein Leben zuließ, und doch bewegten sich zwei Gestalten darin. Eine davon war ein Mann in der üblichen bunten Kleidung der Soldaten, der auf einem Strohsack saß und geräuschvoll etwas aus einer Schüssel schlürfte. Die andere war eine Frau, die in dem Kessel rührte. Noch während Alexandra zusah, stand der Soldat auf, polterte auf seinen großen Stiefeln zu der Frau hinüber und hielt ihr die Schüssel hin. Sie füllte sie mit dem, was sie aus dem Kessel schöpfte. Der Soldat lachte, zog sie mit der freien Hand an sich und küsste sie auf den Mund. Die Frau legte die Arme um ihn. Seine freie Hand bauschte ihren Rock, bis er ihn über ihren Hintern in die Höhe geschoben hatte, dann verschwand sie unter dem Rock und begann zu wühlen. Die Frau kicherte und stieß ihn spielerisch von sich. Er lachte erneut, packte eine ihrer Hände und führte sie zum Schritt seiner Hose. Sie packte grinsend zu, und er schloss die Augen und brummte genießerisch, gab ihr einen zweiten langen, tiefen Kuss und setzte sich dann wieder, um sich dem Inhalt seiner Schüssel zu widmen. Die Frau wandte sich ab, und Alexandra konnte für einen Augenblick ihr Gesicht sehen.

Es war vor Hass und Ekel verzerrt.

„Pass auf“, sagte Samuel.

Er gab ein Geräusch von sich, das sich wie das Maunzen einer halb verhungerten Katze anhörte.

„Ist das Drecksvieh schon wieder da?“, hörte Alexandra den Mann drinnen sagen.

„Ich verjag sie“, sagte die Frau. Einen Moment später wurde das Tuch beiseitegeschoben, und ein Stein flog hinaus. Samuel maunzte erneut, wie eine Katze maunzt, die sich über die schlechte Behandlung durch etwas so Unterlegenes wie die menschliche Rasse empört. Der Kopf der Frau wurde in der Öffnung sichtbar. Alexandras Herz setzte aus, als sie Samuel und sie direkt anblickte.

„Getroffen?“, fragte der Soldat drinnen.

„Weiß nich’. Aber ich glaub, sie is’ weg.“ Das Gesicht der Frau zeigte keinerlei Regung. Samuel nickte ihr zu. Sie nickte zurück und verschwand aus der Fensteröffnung. „Seh sie nich’ mehr.“

„Untersteh dich, sie mir zu servieren, wenn sie abgekratzt ist.“

„Was glaubst du, was das is’, was du heute frisst?“, fragte die Frau.

„Waaas?“, machte der Soldat.

Die Frau begann zu lachen. Nach einer kurzen Pause lachte der Mann mit.

„Das sollst du mir büßen!“, sagte er.

„Am besten gleich“, erwiderte die Frau mit einer Stimme, die plötzlich rauchig klang. Alexandra hörte die Schritte des Mannes über den Boden poltern, dann ein paar erstickte Geräusche, die sich leicht identifizieren ließen als die von zwei Menschen, die sich umarmen und gleichzeitig versuchen, sich gegenseitig auszuziehen. Kurz darauf wurde es stiller, und der Mann begann zu seufzen und zu stöhnen.

Samuel hockte sich auf die Fersen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Alexandra fühlte Verwirrung und Verlegenheit, aber es gelang ihr, seinen Blick zu erwidern. Im Innern der Hütte sagte der Mann mit belegter Stimme: „Steh auf, du!“, und die Stille wurde abgelöst durch ihr Ächzen und dann das rhythmische Geräusch eines Koitus. Die Frau begann zu stöhnen. Das Gepolter der Stiefel zeigte an, dass die beiden eine Stellung praktizierten, bei der man auf den Beinen bleiben konnte. Wo hätte man sich auch hinlegen können außer auf den Strohsack? Alexandra wandte den Blick ab.

„Er“, wisperte Samuel, „ist ein armes Schwein, das nur alle paar Tage abgelöst wird und das der Futtermeister regelmäßig vergisst, wenn es um die Rationen geht. Er ist verlaust, hungrig, halb erfroren und aus lauter Verzweiflung und Einsamkeit geil wie ein ganzes Priesterseminar.“

„Er zwingt sie, ihm …“

„Sie“, fuhr Samuel fort, „ist eine ehemalige Badehure, die in dieser verlassenen Hütte Unterschlupf gefunden hat. Sie hat wahrscheinlich die Hälfte der ehrbaren Bürger von Wunsiedel dringehabt, als dies hier noch eine funktionierende Stadt war, aber jetzt findet sie in keiner der Gruppen von Überlebenden, die sich irgendwo zusammendrängen, Aufnahme.“

„Du kennst dich gut aus.“

Das Stoßen in der Hütte wurde lauter. Alexandra hörte das Klatschen, das laut wird, wenn eine flache Hand auf entblößte Hinterbacken schlägt, und das heftige Keuchen des Soldaten. Dazwischen war undeutlich die Stimme der Frau zu vernehmen. „Komm schon! Komm schon! Is’ das alles, was du mir gibst? Komm schon!“

„Wir werden weniger streng bewacht, als es aussieht. Tagsüber kommen wir ein bisschen rum.“ Sie sah ihn in der Dunkelheit freudlos grinsen.

Das Tuch vor der Fensteröffnung wurde beiseitegezogen, und das Gesicht der Frau erschien wieder. Es hatte hektische rote Flecken auf den Wangen. Sie stützte sich mit den Händen an der Fensterbrüstung ab, und ihr Oberkörper ruckte vor und zurück im Takt der Stöße, die ihr von hinten verabreicht wurden. Ihre Augen waren groß und glänzend und auf Samuel gerichtet. Etwas fiel plötzlich aus dem Fenster, und Samuel streckte blitzschnell die Hand aus und fing es auf. Die Frau verschwand wieder aus der Fensteröffnung. Das Gerangel ging unvermindert weiter. Samuel öffnete die Faust. Ein alter, klobiger Schlüssel lag darin.

„Verschwinden wir“, sagte er.

„Warum tut sie das?“, fragte Alexandra, als sie zurück zum Versteck der anderen schlichen.

„Was? Sich mit dem Feind zusammentun?“

„Nein – dir helfen.“

„Keiner von meinen Männern oder ich haben ihr etwas Böses getan.“

„Und ihr seid Gefangene.“

„Die Verdammten dieser Erde helfen sich gegenseitig, wie? Wie lange bist du schon auf der Welt, mein Engel?“

Sie legte die Hand auf seinen Arm. „Du hilfst uns.“

„Ich tue es nicht umsonst.“

„Weil du glaubst, dass du und deine Leute zusammen mit uns eine Chance haben, irgendwo Asyl zu erhalten.“

Er grinste. „Weil ich glaube, dass ich von dir aus lauter Dankbarkeit noch einen Kuss bekomme.“

Als sie das Versteck erreichten, zeigte Samuel den Schlüssel seinem ehemaligen Wachtmeister. Alfred nahm ihn und betrachtete ihn wie ein Verdurstender, dem jemand plötzlich den Schlüssel zum Weinkeller in die Hand gedrückt hatte.

„Du är det bäst, kapten“, murmelte er.

„Beeilen wir uns“, sagte Samuel. „Nach dem Gebumse wird er eine Weile schlafen, aber irgendwann wacht er auf und sieht hier nach dem Rechten. Bis dahin muss der Schlüssel wieder zurück sein. Er ist ein armes Schwein, aber kein dummes.“

„Rittmeister“, sagte Agnes, „ich habe das Gefühl, für einen Schweden sind Sie ein ganz brauchbarer Kerl.“

„Ich bin kein Offizier mehr“, sagte Samuel.

„Offizier zu sein hat nichts mit dem Rang zu tun, sondern damit, das Herz auf dem rechten Fleck zu haben.“

Eine kleine Stille entstand, in die Agnes gelassen hineinlächelte. Alfred Alfredsson, der ganz offensichtlich mehr Deutsch verstand, als er erkennen ließ, grinste schief. Samuel gab Agnes’ Blick zurück.

„Sind Sie verheiratet?“, fragte er dann. „Wenn nicht, mache ich Ihnen auf der Stelle einen Antrag.“

„Ach, mein Junge“, sagte Agnes, und ihr Lächeln wurde breiter. „Ich bin schon vor langer Zeit auf so einen Kerl wie dich hereingefallen.“

„Er ist zu beneiden.“

„Gehen wir jetzt?“, fragte Alexandra und erkannte zu ihrem eigenen Erstaunen, dass ihre Stimme eifersüchtig klang. „Oder sollen wir euch beide allein lassen?“

Samuel wandte sich ihr zu. „Es gibt nichts umsonst, erinnerst du dich?“, fragte er, dann zog er sie zu sich heran und küsste sie. Als er wieder von ihr abließ, verneigte er sich vor Agnes. „Verzeihen Sie, Madame.“

Agnes verdrehte die Augen. Alfred Alfredsson huschte über die Gasse und verschmolz mit den Schatten am Fuß der Mauer. Nach ein paar Augenblicken trat er wieder daraus hervor und winkte ihnen zu. Sie hasteten zu dem nun halb geöffneten Türchen. Alfred drehte den Daumen nach oben und nickte hinaus ins Freie. Agnes, der Schreiber und der Bauer schlüpften hindurch. Alexandra machte den Abschluss und blieb an der Mauer stehen.

„Worauf wartest du?“, fragte Samuel.

„Auf dich und deine Männer!“ Dann sah sie ihm in die Augen und erkannte, was ihr schon zuvor hätte klar sein müssen. „Ihr kommt nicht mit.“

Samuel schüttelte den Kopf.

„Was erwartet euch denn hier – außer dem Tod?“

„In Frankreich, habe ich gehört, dauert die Hinrichtung eines überführten Königsmörders mehrere Stunden. In Schweden dauert sie sechzehn Jahre, und sie wird Stück für Stück vollführt, mit Himmelfahrtskommandos und tödlichen Missionen, für die niemand ein Wort des Dankes sagt. Aber der Tag wird kommen, an dem wir unsere Schuld abgetragen haben. Wenn wir hierbleiben und unsere Aufträge erfüllen, können wir unsere Ehre eines Tages wiederherstellen. Wenn wir flüchten, bleiben wir auf ewig Verfemte.“

Alexandra musterte Samuel, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Auch ein Geist klammert sich an die Hoffnung, nicht wahr?“, sagte sie rau.

„Jeder klammert sich daran“, sagte Samuel, dann war er verschwunden, und das Türchen schwang leise zu. Alfred Alfredssons Handkuss hing noch in der Luft.

Alexandra straffte sich. Sie wurde sich der Blicke ihrer Mutter bewusst und wich ihnen aus. „Wir haben einen langen Weg“, sagte sie und stapfte in das weite Feld hinein, in dem die stumpf glänzenden, gefrorenen Spiegel der Fischteiche lagen. „Bringen wir ein paar Meilen zwischen uns und diesen Friedhof von einer Stadt.“

Die Erbin der Teufelsbibel

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