Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 29

13.

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Zuerst hatte Alexandra gedacht, dass Wunsiedel doch keine Geisterstadt sei. Es war nur so, dass diejenigen, die dort geblieben waren, sich in den dunklen Höhlen ein paar halbwegs heil gebliebener Häuser verkrochen. Dann aber hatte sie ein paar dieser Unglücklichen gesehen und festgestellt, dass sie nichts anderes als lebende Leichname waren. Einige von ihnen würden das Christfest nicht mehr erleben.

Der weniger in Mitleidenschaft gezogene Bereich der Stadt, in dem das schwedische Heer lagerte, war von einem dichten Kordon aus Wachen abgeriegelt. Alexandra hatte das Gefühl, dass die Wachen nach innen ebenso arbeiteten wie nach außen; sie ahnte, dass selbst die elenden Ruinenbewohner nicht vor den Soldaten sicher gewesen wären, hätte man diese nicht wie in einem Lager gehalten. Die Stille, die über beiden Teilen der Stadt lag, war beklemmend. Wer einmal eine grölende Horde Soldaten gehört hatte, die saufend und fressend und prügelnd und folternd und vergewaltigend durch die Gassen zog – so wie Alexandra es in Prag erlebt hatte, als die Passauer Landsknechte dort gehaust hatten –, hätte nicht glauben mögen, dass es noch etwas Schlimmeres gab als dieses Geräusch. In Wahrheit war die Abwesenheit jeden Geräuschs über einem Kriegslager, das möglicherweise mehrere Tausend Mann umfasste, noch unheimlicher. In der Stille konnte man förmlich den Zorn spüren, der von dem Lager ausging, den Zorn einer hungernden, frierenden, verrohten Soldateska, die alles hasste, mit dem sie zu tun hatte, am meisten ihr eigenes Leben, besudelt vom Gewicht der Untaten, die sie begangen hatte und noch begehen würde. Alexandra war froh, dass man ihre kleine Reisegruppe nicht in den abgesperrten Bereich gelassen hatte. Sie wusste, dass es nicht aus Rücksicht auf sie und ihre Mutter geschehen war, sondern weil die Disziplin, die das Kriegslager in dieser Totenstille hielt, mit zwei Frauen in unmittelbarer Nähe nicht aufrechtzuerhalten gewesen wäre.

Sie fragte sich, warum diese Stille notwendig war. Das Heer schien groß genug zu sein, sich gegen jeden Angriff verteidigen zu können, noch dazu, da es in den Ruinen der Stadt Stellung bezogen hatte. Rein technisch war General Wrangels Heer aus dieser Gegend abgezogen und hatte sie den bayerischen Soldaten überlassen; tatsächlich war die Front in diesem Krieg jedoch immer da, wo man als Soldat gerade stand, und es hatte schon kleinere Truppenteile gegeben, die sich vom Hauptheer gelöst hatten und plündernd durch ein Gebiet zogen, das eigentlich vom Feind besetzt war. Aber sie zweifelte daran, dass dieses schwedische Heer nur ein Truppenteil war, dessen Anführer beschlossen hatte, nicht die nächste Schlacht abzuwarten, sondern gegen die verarmten Bauernhöfe und elenden Städte zu kämpfen und noch die letzten Essensvorräte und Habseligkeiten aus ihnen herauszupressen. Dazu war die Zucht zu streng. Sie wusste, dass zu jedem Heer ein gewaltiger Tross aus den Familien der Soldaten, aus Handwerkern, Waffenschmieden und Futtermachern gehörte, manchmal zahlreicher an Köpfen als die Soldaten selbst, und dass ein solcher Haufen praktisch nie zu disziplinieren war. Dass es hier doch der Fall war, schien darauf hinzudeuten, dass die Truppen nicht nur lagerten, sondern sich auf eine Mission vorbereiteten – eine Mission, die zuallererst vorschrieb, dass ihr Hiersein so geheim wie möglich zu bleiben hatte. Noch während sie sich fragte, welcher Art diese Mission sein konnte, wurde ihr klar, was diese Geheimhaltung noch bedeuten musste.

„Die Soldaten halten sogar die Mauerbreschen und die Stadttore in dem Teil besetzt, der außerhalb ihres Lagers liegt“, sagte Agnes und wies auf die undeutlich sichtbaren Gestalten am Ende der Gasse. Niemand hatte die beiden Frauen daran gehindert, durch die dunklen Gassen zu streifen. Alexandra war aufgebrochen, ohne darüber nachzudenken; wenn überhaupt, hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was aus Samuel Brahe und seinen Männern geworden war.

Als Alexandra ihre medizinischen Werkzeuge zusammengepackt hatte, war Agnes wortlos an ihre Seite getreten und hatte ihr geholfen. Der Schreiber und der Bauer hatten keinen Finger gerührt. Alexandra hatte sich trotz ihrer aufsteigenden Wut daran erinnert, dass man mit Nachsicht und Mitgefühl am besten in seiner unmittelbaren Umgebung begann.

„Wir sehen nach, ob wir irgendetwas für die Menschen hier tun können“, hatte sie gesagt. „Mir wäre es recht, wenn Sie beide hierblieben und unsere Bleibe bewachten.“

Der Schreiber hatte sich in dem eiskalten Saal im halb zerstörten Haus, in das sie eingezogen waren, mit aufgerissenen Augen umgesehen; der Bauer hatte nur den Kopf geschüttelt. „Gott behüte Sie“, hatte er geflüstert. „Gott behüte Sie, wenn Sie da rausgehen.“

Ihre hilflose Mission hatte Alexandra und Agnes in der nächsten Stunde zu zwei Erkenntnissen verholfen: dass die Angst der Überlebenden so groß war, dass auch ein Hilfsangebot die Türen nicht öffnete, und dass sie in Wunsiedel Gefangene waren, auch wenn sie keine Ketten trugen. Die Geisterstadt würden sie nur mit der Gnade des schwedischen Generals wieder verlassen können. Als Alexandra dies endgültig klar geworden war, hatte die Furcht der Menschen hier sich unter ihren Panzer aus Verdruss und Wut gestohlen. Und jedes vergebliches Klopfen, jedes furchtsame Schweigen hinter einer verrammelten Tür fachte ihre Angst weiter an.

„Mutter …“

Agnes lächelte; in der Dunkelheit war ihr Gesicht kaum zu erkennen. „Ich weiß“, sagte sie. „Hier, da ist wieder ein Haus mit einer geschlossenen Tür.“ Sie klopfte leise daran. „Ist jemand drin? Können wir helfen?“

„Mutter, die werden uns hier nicht mehr weglassen.“

„Hast du gedacht, der Reiteroberst hätte uns aus reiner Menschenfreundlichkeit sein Geleit angetragen?“ Agnes klopfte erneut. „Wir sind unbewaffnet und wollen helfen. Ist jemand da?“

„Wir können nicht hierbleiben. Wir müssen nach Würzburg!“

„Niemand weiß das besser als ich.“

Die Tür öffnete sich einen Spalt, gerade als Agnes zurücktrat. „Seid ihr Klosterschwestern?“ Die Stimme klang wie Asche.

Alexandra räusperte sich. „Nein. Ich bin …“ Seltsam, dachte sie, dass sie auch in dieser Situation noch immer zögerte, es auszusprechen. „Ich bin Ärztin. Braucht ihr Hilfe?“

Die Tür schloss sich wieder. Alexandra starrte sie an. Ihr Magen fühlte sich wie ausgehöhlt an, und ihr Herzschlag hallte schwer und beklommen darin wider. Wie konnten sie hier am Leben bleiben? Und wie kamen sie wieder heraus?

„Lass uns zurückgehen“, sagte Agnes, der nicht anzusehen war, ob sie Alexandras Sorgen teilte. „Ich bin ein altes Weib; ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.“

„Mutter“, sagte Alexandra und lächelte trotz der Panik in ihrem Innern, „wenn ich in deinem Alter noch deine Kraft habe, werde ich glauben, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.“

Agnes hakte sich bei ihr ein. Langsam trotteten sie auf dem Weg zurück, auf dem sie hergekommen waren. Alexandra versuchte sich zu erinnern, wo sie abbiegen mussten. Es war nicht leicht, sich zu orientieren in einer Stadt, in der die meisten Häuser hohle Fassaden waren und die Finsternis regierte. Sie waren erst ein paar Schritte weit gekommen, als sie hörten, wie die Tür hinter ihnen erneut aufging.

„Ihr wollt wirklich helfen?“, fragte die aschene Stimme.

Sie blieben stehen. Alexandra drehte sich um. Eine in Decken und Lumpen gehüllte Gestalt stand auf der Gasse.

„Ja“, sagte Alexandra.

„Gepriesen sei der Herr. Kommt. Bitte, kommt! Mein Kind stirbt.“

Damals, in Prag, nach dem Tod Mikus und Kryštofs, nach der Trauerfeier, nach der Beerdigung, nachdem alle gegangen waren und Alexandra zum ersten Mal seit Tagen wieder allein gewesen war (und begriffen hatte, wie leer ihr Dasein von nun an sein würde), war sie blind vor Trauer durch die Räume ihres Hauses gestolpert, sich der mitleidigen Blicke des Gesindes bewusst und sie alle dafür hassend, dass sie nicht den gleichen Schmerz wie sie verspürten. Im Grunde genommen war dieses Leid nie von ihr gewichen, die Zeit und der langsam gewachsene Grimm, dass es solches Leid gab, dass die Menschen nichts dagegen tun konnten und Gott offensichtlich nichts unternehmen wollte, hatten es nur zugedeckt. Vielleicht hätte der Grimm über ihre Ohnmacht sie zu einer verbitterten Frau gemacht, wenn nicht …

… Alexandra hatte in all den Jahren immer wieder Kraft aus der Erinnerung geschöpft, der Erinnerung an die erste Begegnung mit Barbora, der Hexe. Während sie und ihre Mutter nun der zerlumpten Gestalt folgten und Alexandras Atem schneller ging, weil zu ihrer Furcht angesichts der Lage in Wunsiedel eine neue Angst hinzugekommen war, die Angst vor dem, was sie hier in dieser Ruine erwartete …

… holte sie die Erinnerung aus der Schatztruhe in ihrem Geist hervor und versuchte sich wie stets daran festzuhalten. Sie sah sich selbst …

… durch das Haus stolpern an jenem Tag nach Mikus und Kryštofs Trauerfeier. In der Küche im Untergeschoss verließ die Kraft sie. Sie sank in einer Ecke zusammen und schluchzte, dachte, dass es einem buchstäblich das Herz zerreißen konnte, weil sich der Schmerz in ihrem Leib genauso anfühlte, hoffte, auf der Stelle daran sterben zu können, flüsterte den Namen ihres Kindes wieder und immer wieder, bis die Küchenmägde hinausschlichen, nicht länger in der Lage, Zeuginnen des Leids ihrer Herrin zu werden. Als Alexandra sich schließlich die Tränen aus den Augen wischte, nahm sie eine dicke alte Frau wahr, die auf einem Schemel saß und Lagerkarotten von dem daran haftenden Sand und der grau gewordenen Außenhaut befreite. Die alte Frau lächelte sie an.

Manchmal muss man sie gehen lassen, sagte die alte Frau. Manchmal ist der Wille des Herrn, sie zu sich zu holen, stärker als alle Liebe, die wir für sie empfinden.

Wer sind Sie?, fragte Alexandra.

Ich bin eine Hexe, erwiderte Barbora.

„Was sind die Symptome?“, fragte Alexandra die verhärmte Frau.

„Symptome?“

„Was fehlt deinem Kind? Hat es sich etwas gebrochen? Eine entzündete Wunde?“

„Es hat Fieber.“

„Wie lange schon?“

„Seit Tagen.“

Alexandra und Agnes wechselten einen Blick.

„Und … und … Durchfall … sie ist nur noch Haut und Knochen!“ Die Frau brach in Tränen aus.

Alexandra und Agnes wechselten erneut einen Blick. Alexandra sah, wie die Augen ihrer Mutter sich verengten. Sie öffnete ihre Tasche und holte die Erfindung heraus, die Barbora ihr verraten und die Alexandra weiterentwickelt hatte. Es waren kleine Taschen aus Stoff, die man sich vor Mund und Nase binden konnte und die mit Lavendel, getrockneter Minze und Salbei gefüllt waren. Sie reichte eine davon an Agnes weiter und band sich die zweite selbst um. Die Frau beobachtete sie mit angstvoll aufgerissenen Augen.

„Bring uns zu deinem Kind“, sagte Alexandra.

Die einzige Lichtquelle in dem ehemaligen Lagerraum war ein Unschlittlicht; es war zugleich auch die einzige Wärmequelle. Der Raum war als Schlupfwinkel eine gute Wahl. Er hatte keine Fenster, die breite Tür konnte mit Decken und alten Brettern so abgedichtet werden, dass kein Lichtschein nach draußen fiel, und dank der massiven Wände und des wuchtigen Gewölbes war er beinahe unbeschädigt. Natürlich waren alle Waren, die einmal darin gewesen sein mochten, längst entnommen oder geplündert worden, und statt des vertrauten Dufts nach Gewürzen, Lebensmitteln oder gewachsten Hüllen teurer Stoffe, die hier vielleicht einmal gelagert worden waren, hatte der Gestank ungewaschener, auf engstem Raum zusammenhausender Körper und der Ausscheidungen des kranken Kindes sie längst verdrängt. Die Menschen im Raum, geschlechtslos unter den zerschlissenen Decken und schweigend, rückten beiseite. Alexandra fragte nicht, ob sie zu einer Familie gehörten oder eine Zweckgemeinschaft aus ehemaligen Bewohnern, Nachbarn und Obdachlosen waren. Sie kniete sich neben das Kind auf den Boden, übergab Agnes die Tasche und schälte die kleine, zitternde Gestalt so weit aus ihren Lumpen, wie sie es wagte. Große Augen sahen halb durch sie hindurch, trockene, aufgesprungene Lippen bebten. Alexandra drückte sanft den Unterkiefer des Kindes herunter und zog das Licht näher zu sich heran. Ihr Herz hatte bereits heftig zu schlagen begonnen, als sie den Gestank im Raum wahrgenommen hatte. Sie schluckte heftig und versuchte, sich gegen die Diagnose zu wappnen. Es war nicht nötig, den Oberkörper freizulegen, um nach den kleinen roten Roseolen zu suchen.

„Kannst du ihr helfen?“, flüsterte die Mutter des Kindes. Alexandra deckte das Kind wieder zu und strich ihm über das verfilzte Haar. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sah der Frau in die Augen. Sie versuchte, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen, und gab sich Mühe, dass es auch ihre Augen erreichte.

„Ich denke schon“, sagte sie. „Könnt ihr Wasser erhitzen?“

Die Blicke der Frau wanderten zu dem Licht. „Mühsam“, sagte sie.

„Fangt an. Ich bereite draußen etwas vor.“

Die Frau packte Alexandra am Arm, als sie aufstand. „Kommt ihr wieder? Ihr kommt doch wieder?“

„Natürlich kommen wir wieder. Ich brauche nur etwas … äh … Bewegungsfreiheit. Wir lassen euch nicht im Stich.“

Die Frau löste ihre Hand zögernd von Alexandras Arm. „Es ist nur“, sagte sie mit ihrer aschenen Stimme, „dass die Kleine alles ist, was ich noch habe.“

„Ja“, sagte Alexandra, und ihre Stimme nicht beben zu lassen war eine größere Anstrengung, als einen Ochsen hochzuheben, „ich verstehe.“

Draußen zerrte sie sich die Maske vom Gesicht und atmete in gierigen Zügen die kalte Nachtluft ein. Agnes löste die Bänder ihrer eigenen Maske, wog sie in der Hand und musterte dann ihre Tochter. Alexandra zuckte zurück, doch Agnes wischte ihr nur eine Träne von der Wange.

„Ich bin erbärmlich“, flüsterte Alexandra. „Ich habe es dort drin nicht mehr ausgehalten.“

„Es ist Nervenfieber, nicht wahr?“ Agnes’ Stimme wühlte in Alexandras alter Wunde. Miku, mein Miku … Alexandra konnte das Schluchzen nicht länger unterdrücken.

„Du bist eine gute Helferin, Mama.“

„Gott sei der armen Kleinen gnädig. Und ihrer Mutter.“

„Wenn Gott gnädig wäre, steckten sie jetzt nicht in dieser Lage!“ Alexandra wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und begann in ihrer Tasche zu kramen.

„Was suchst du?“

„Ich habe getrocknete Kamille dabei. Und Salbei in rauen Mengen. Es wird die Beschwerden zumindest erleichtern. Verdammt, wo ist das Zeug?“

„Wird es die Kleine retten?“

Alexandra schüttelte verbissen den Kopf, ohne aufzusehen. Die Zangen, Messer und Sonden klimperten in der Tasche, als sie sie durcheinanderwarf. „Wer hat hier drin so eine Schlamperei angerichtet?“

„Wenn ich mich recht erinnere“, sagte Agnes langsam, „haben wir getrocknete Schimmelpilze dabei … und du hast gesagt, dass auch fermentierte Getreidesäfte bei solchen Erkrankungen …“

„Ja, das habe ich gesagt! Ah, hier ist die Kamille. Verflucht, wieso ist das so wenig?“

„Dann könntest du doch versuchen …“

Alexandra hielt inne und blickte auf. Die Augen ihrer Mutter waren ruhig auf sie gerichtet. Alexandra ließ die Schultern und die Tasche sinken. „Weil meine Vorräte für die Behandlung von Nervenfieber nicht reichen“, sagte sie kaum hörbar. Sie konnte dem Blick Agnes’ nicht länger standhalten. „Die Heilmittel, die ich dabeihabe, helfen gegen äußere Verletzungen, gegen Ruhr und all das, aber nicht …“ Sie holte Atem.

„Du meinst, wenn du dem Kind hier zu helfen versuchst, kannst du Lýdie nicht mehr retten.“

Alexandra nickte und kämpfte neue Tränen zurück.

„Du meinst, dass du hier und jetzt entscheiden musst, wem du das Geschenk des Lebens anbieten kannst.“

„Ich meine“, sagte Alexandra aus einer vollkommen zugeschnürten Kehle, „dass ich hier und jetzt entscheiden muss, wen ich zum Tode verurteile.“

Agnes schwieg so lange, dass Alexandra den Blick hob. Die Augen ihrer Mutter glänzten. „Dieser Zorn“, flüsterte Agnes. „Ach, mein Kind, dieser Zorn. Wann wirst du den kleinen Miku endlich gehen lassen und verstehen, dass es nicht deine Schuld war?“

„Lýdie wird leben!“, sagte Alexandra. „Und dieses Kind hier wird sterben, so wie Miku gestorben ist.“ Sie hob den Blick herausfordernd zum Himmel. „Wenn Du dort oben die Wahl mir überlässt, dann musst Du auch mit den Folgen zurechtkommen!“

„Alexandra!“

„Gehen wir wieder hinein. Der Kräutersud wird ihr zumindest …“

Alexandra brach ab, als sich eine zerlumpte Gestalt vorsichtig aus der Tür schob. Sie trug ein Bündel auf dem Arm. Alexandra schob hastig die Maske über Mund und Nase.

„Nein“, sagte sie, „nein! Ich weiß, dass es heißt, die frische Luft sei gesund, aber nicht für die Kleine. Bring sie sofort wieder hinein. Wir sind nicht davongelaufen. Wir mussten nur …“

Sie sah der Gestalt ins Gesicht und erkannte, dass es nicht die Mutter des Kindes war, sondern einer der anderen unseligen Bewohner der Ruine. Sie sah struppige Wangen und Augen, die von roten Ringen umgeben waren.

„Danke“, sagte der Mann. „Danke dafür, dass Sie uns helfen wollten.“

„Ich will immer noch …“

„Es ist sinnlos“, sagte der Mann.

„Aber ich kann …“

„Alles, was Sie uns geben konnten, haben Sie uns gegeben – für ein paar Minuten Hoffnung.“

„Oh, Alexandra“, sagte Agnes mit brechender Stimme.

Erst jetzt sah Alexandra, wie schlaff das Bündel in den Armen des Mannes hing. Sie zerrte die Tücher beiseite. Der Kopf des Kindes baumelte lose nach hinten; die Augen sahen immer noch ins Leere, aber nun waren sie stumpf. Alexandras Hand begann zu zittern. Der Mann hob den einen Arm, mit dem er das Kind hielt, und der Kopf glitt an seine Brust; es sah aus, als hielte er eine Schlafende.

„Aber sie war doch eben noch …“, begann Alexandra.

„Der Lebensfunke glomm nur noch schwach“, sagte der Mann beinahe sanft.

„Ist sie … ist sie … ist sie Ihre Tochter?“

Der Mann schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Dann hob er den Blick und ließ ihn über die Ruinenlandschaft schweifen, als wollte er erwidern: Dennoch sind wir alle eine Familie hier, eine Familie der Geister und verlorenen Seelen. Er setzte an, etwas zu sagen, hielt jedoch inne, als die Tür aufgestoßen wurde. Die Mutter stolperte heraus.

„Was hat sie gesagt?“, stammelte sie. „Sie kann sie doch heilen, oder?“ Ihre Blicke fielen auf Alexandra, und sie packte sie an den Armen. „Du kannst sie doch heilen, oder? Dazu bist du doch gekommen? Du kannst sie heilen?“

„Es ist zu …“, sagte Alexandra.

„Sie ist gegangen“, sagte der Mann. „Sie hat uns verlassen. Sie hat es besser, wo sie jetzt ist. Diese Welt kann ihr nicht mehr wehtun.“

„Aber sie kann sie heilen!“, schrie die Frau auf.

Alexandra schloss die Augen. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Du kannst sie heilen“, keuchte die Frau. „Du hast gesagt, du kannst sie heilen.“ Ihre Knie gaben nach, und sie sackte vor Alexandra auf den Boden. Ihre Arme klammerten sich um Alexandras Beine. Sie warf den Kopf zurück. „Du musst sie heilen!“, heulte sie in die Nacht. „Sie ist alles, was ich habe! Wie sollte ich leben ohne sie?

„Sei still“, sagte der Mann. „Sonst kommen die Soldaten …“

„Zu spät“, sagte Agnes und wischte sich ein paar Tränen ab. Sie stellte sich dicht neben Alexandra.

Eine Handvoll der Männer, die das nahe gelegene Tor bewacht hatten, rannten herbei. Sie hatten Partisanen in den Händen, ihr Wachführer hatte sein Rapier gezogen. Der Mann mit dem toten Kind auf dem Arm stöhnte entsetzt.

„Was ist hier los?“

„Jemand ist gestorben“, sagte Agnes.

Der Wachführer musterte die unselige Gruppe; seine Blicke blieben an der Mutter des toten Kindes hängen, die vor Alexandras Füßen endgültig zusammengebrochen war. Ihr Weinen klang, als würde es mit Klingen aus ihrem Herzen geschnitten.

„Hört sich nicht tot an“, sagte der Wachführer.

Alexandra fasste zu dem Lumpenbündel auf den Armen des Mannes und schlug den Fetzen zurück, der das Gesichtchen verhüllt hatte. Wut stieg so schnell in ihr auf, dass ihre Wangen schon brannten, während noch die letzten Tränen aus ihren Augen quollen. „Da!“, sagte sie.

Der Wachführer zuckte mit den Schultern. „Der Lärm soll aufhören“, erklärte er. „Sofort.“

„Das ist ein totes Kind!“, sagte Alexandra.

„Na und? Glaubst du, ich hab noch nie ’n totes Kind gesehen, du dummes Stück? Was denkst du, wo du hier bist?“

„Du hast keine Kinder, oder? Klotz!“, spuckte Alexandra.

„Hab sie alle fünf mit eigenen Händen beerdigt“, sagte der Wachführer, und nur wer genau hinsah, konnte sich einbilden, dass ein winziges Zucken über sein Gesicht gelaufen war. „Neben meiner Alten. Gott liebt mich, er hat mich als Einzigen nicht an der Seuche sterben lassen.“ Der Wachführer grinste und spuckte dann aus. „Wenn der Lärm nicht sofort aufhört, gibt’s hier weitere Tote, verstanden?“

Er drehte sich um und stapfte zurück. Einer seiner Männer, ein junger Kerl, starrte abwechselnd von dem toten Kind zu der weinenden Mutter und dann zu Alexandra. Gerade als Alexandra dachte, einen Funken Mitleid entdeckt zu haben, zwinkerte er ihr zu, leckte sich über die Lippen und bewegte dann seine Faust vor seinem Schritt vor und zurück. Danach drehte er sich um und schloss zu seinen Kameraden auf.

Der Mann aus dem Lagerraum legte den kleinen Leichnam neben die Tür und zog die Mutter auf die Füße. „Wir müssen hinein“, murmelte er. „Wir müssen wieder hinein …“

Er sah Alexandra und Agnes nicht mehr an. Die Tür schloss sich hinter ihm und der schluchzenden Frau, die er mitschleifte wie ein Stück Holz. Alexandra und Agnes blieben mit dem Kind zurück. Agnes kniete sich nieder, drückte die toten Augen zu und legte einen Zipfel der Decke über das kleine, blasse Gesicht. Dann stand sie auf.

„Gehen wir zurück zu unserem Quartier“, sagte sie.

Die Erbin der Teufelsbibel

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