Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 31

15.

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„Das Schlimmste“, flüsterte Alexandra, „das Schlimmste ist nicht, dass du sie sterben siehst, sondern der Dank ihn ihren Augen, wenn du ihnen sagst, dass sie es schaffen werden – obwohl du ahnst, dass es nicht der Fall sein wird.“

„Du gibst ihnen Hoffnung. Daran kann nichts Schlimmes sein“, sagte Agnes.

„Ich musste gerade an Barbora denken. Ohne sie wäre ich damals zerbrochen. Ohne sie wäre ich nicht, was ich heute bin. Für das eine werde ich ihr ewig dankbar sein. Für das andere verfluche ich sie in diesem Augenblick.“

Agnes lächelte traurig und zog sie zu sich heran. Ein paar Herzschläge lang fühlte Alexandra sich wie ein kleines Mädchen, das von seiner Mutter getröstet wird, weil es die Welt nicht versteht. Es tat so gut, dass sie sich mit Gewalt losreißen musste.

„Mama ... ich muss ein paar Augenblicke lang für mich sein. Sei mir nicht böse.“

„Du willst hier alleine herumlaufen?“

„Keiner wird mir etwas tun. Die Angst davor, Lärm zu machen, ist zu groß, selbst bei den Soldaten.“

Agnes zuckte mit den Schultern. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wann Widerspruch zwecklos ist.“

Alexandra streichelte Agnes’ Wange. „Ich liebe dich, Mama“, sagte sie.

„Ich liebe dich auch, Kindchen.“

Alexandra wandte sich ab und stapfte in die nächstgelegene Gasse. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, wie viele solcher Tragödien wie eben sich in genau diesem Moment in den Ruinen abspielten und noch abspielen würden. Die leblose Leere der Gassen passte dazu; durch sie hindurchzustolpern drückte einem das Herz ab, aber in ihre ebenso trostlose Behausung zurückzukehren kam ihr noch schlimmer vor. Wenn man sich bewegte, konnte man sich wenigstens vormachen, dass man irgendwann an einen Ort gelangte, an dem einem Trost zuteilwurde.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, machte sich Alexandra genau das vor … bis sie zu dem Friedhof gelangte. In der Dunkelheit sah der Ort zuerst aus wie ein Acker, bis sie die wenigen Grabkreuze sah, die stehen geblieben waren. In ihrem Magen bildete sich ein Klumpen, als sie erkannte, dass die Gräber aufgebrochen worden waren – Soldaten auf der Suche nach Schmuck oder halbwegs noch brauchbarem Schuhwerk … oder Stadtbewohner auf der Suche nach … Essen? Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück und trat auf etwas, das unter ihrem Stiefel knirschte. Sie hob den Fuß und starrte hinunter. Es sah aus wie eine kleine, weiße Krabbe. Es war eine skelettierte Kinderhand. Sie drehte sich um und ging mit langsamen, steifen Schritten davon, Schritten, die immer schneller und schneller wurden, bis sie plötzlich rannte, und als sie rannte, konnte sie nicht mehr aufhören, und ihr war, als seien all die toten und noch lebenden Geister der Stadt hinter ihr her, während ihr Hirn ihr ständig vorspielte, wie sie Mikus leblose Hände auf seinem Totenbett ineinander verschränkt hatte und gleichzeitig dazu das Knirschen in ihr widerhallte, mit dem sie die kleine Skeletthand zertreten hatte und das wie ein knöcherner Schrei klang: Es gibt keine Hoffnung mehr!

Irgendwann blieb sie stehen, weil sie keine Kraft mehr hatte. Der Atem pfiff in ihrer Kehle, und die toten Häuser schwankten um sie herum. Dann erkannte sie, dass sie mitten in einer Gasse stand, vor sich ein Haus, das von zwei Soldaten bewacht wurde. Die Soldaten starrten sie an. Zwanzig Schritte weiter, und sie wäre direkt in sie hineingelaufen. Einer der beiden richtete eine gespannte Armbrust auf sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch. In all dem Schwindel, der sie erfasst hatte, wurde ihr eiskalt. Es gab keinen Zweifel, was nun geschehen würde. Der Soldat mit der Armbrust zog die Augenbrauen hoch und leckte sich über die Lippen. Entsetzt erkannte sie, welchen Weg sie zurückgelegt hatte: Hier wartete die Hölle auf sie, zu der der aufgewühlte Friedhof das Tor gewesen war. Die ihr in mich eintretet …

Jemand trat aus der Tür. Fassungslos bemerkte sie, dass es der Offizier war, der ihre Reisegruppe und den jungen schwedischen Gefangenen vor den bayerischen Dragonern gerettet hatte.

„Samuel Brahe“, stieß sie hervor.

Der Offizier blickte auf und kniff die Augen zusammen. Schließlich nickte er ihr zu.

„Rein mit dir, Brahe“, knurrte einer der Wächter. Brahe ignorierte ihn.

Alexandra stand reglos in der Gasse, das Herz raste in ihrer Brust. Ihr Blick verengte sich, der Blick auf den zerstörten Hauseingang mit den beiden Wachen davor, der Blick auf Samuel Brahe, der argwöhnisch ein paar Schritte näher trat. Sie hörte einen der Soldaten halblaut sagen: „He, Brahe, wo willst du hin, du Dreckskerl?“, und den mit der Armbrust antworten: „Lass ihn doch, wo will die dumme Sau schon hin, hier kommt er doch nicht raus“; aber sie begriff die Worte nicht. Sie rang nach Luft, und ihre Lungen verweigerten ihr ihren Dienst. Sie hörte das Dröhnen in ihren Knochen, von dem sie ihren Onkel Andrej von Langenfels einmal hatte sagen hören (er hatte nicht geahnt, dass sie zuhörte), es sei der Herzschlag des Bösen, und jeder könne es hören, der drauf und dran sei, sich ihm zu ergeben. Nein, flüsterten ihre Gedanken, falsch, Onkel Andrej, es ist nicht die Unterwerfung unter das Böse, es ist das Bewusstsein, dass jede Hoffnung vergebens ist … die ihr in mich eintretet, lasst alle Hoffnung fahren … es sind die Trommeln eines Willkommensgrußes im Inferno, und jeder hat seine eigene Hölle, aus der die Musik erklingt.

Dunkle Augen in einem Netz aus Fältchen füllten ihr verengtes Blickfeld aus. Sie fühlte sich nach Luft schnappen.

„Was ist los?“, fragte Samuel Brahe, und dann: „Mein Gott, Sie sehen ja aus wie …“

Sie umklammerte seine Hand mit Fingern, die so kalt waren, dass die seinen ihr vorkamen wie glühende Kohle. Sie öffnete den Mund …

„Halten Sie mich“, stammelte Alexandra. „Lassen Sie mich nicht fallen … wenn ich falle …“

… dann werde ich nie mehr aufhören können zu fallen, vollendete ihr Hirn. Ihre Lippen waren zu taub dafür. Ohne dass sie es wollte, sank sie gegen ihn. Die Trommeln in ihrer Seele ließen ihren Körper erbeben.

„He, Brahe, wer is’n die Spalte?“

„Mach, dass du reinkommst, Brahe, die Matratze kannst du bei uns abgeben!“

„Verschwinden Sie von hier“, zischte Brahe. „Um Gottes willen, sind Sie verrückt?“

Ihre Finger krallten sich in sein Wams. „Die Hölle …“, wisperte sie.

„Natürlich. Was hatten Sie gedacht, wo Sie hier sind?“

„Ich falle … halten Sie mich, bitte …“

Sie spürte, wie er sie packte und an sich drückte. Einer der Soldaten war plötzlich neben ihnen und griff nach Brahe. Brahe ließ Alexandra los und machte eine rasche Bewegung, und der Soldat lag auf dem Rücken. Brahe hielt seinen Spieß in der Hand. Einen lähmenden Moment lang wechselten die beiden einen Blick, dann warf Brahe den Spieß fort.

„Brahe, du Drecksau …“, gurgelte der Mann auf dem Boden.

„Kommen Sie“, sagte Brahe und hob Alexandra hoch, als wäre sie ein Kind. „Ich halte Sie. Ich lasse Sie nicht fallen.“

Der Soldat auf dem Boden kroch seitwärts, um zu seinem Spieß zu gelangen. Der andere rief: „Bleib stehen, Brahe, oder ich schieß dir einen Bolzen durch deinen verdammten Schädel.“

Brahe blieb nicht stehen. Er trug Alexandra in einen offenen Hauseingang hinein. Sie klammerte sich an ihn und stierte in sein Gesicht. Sie konnte ihn lächeln sehen. Der Soldat schoss seine Armbrust nicht ab.

„Ich mach die Sau fertig!“, hörte sie einen der Soldaten draußen keuchen.

„Hör auf“, knurrte der andere. „Wir ham nur Befehl, ihn und seinen Haufen zu bewachen. Der General will selber entscheiden, was aus ihnen wird. Willst du dir vom Profos den Arsch aufreißen lassen, weil du ’nen Befehl nich’ befolgt hast? Der Verräter is’ es nich’ wert.“

„Wenn das Weibsstück ihm hilft, abzuhauen?“

„Der geht nich’ ohne seine Leute, du Trottel. Brahe glaubt immer noch, er is’n Offizier!“

Alexandra hörte nicht mehr, ob die Soldaten noch mehr sagten. Brahe setzte sie im Inneren des Hauses ab, und sie sackte in sich zusammen. Er kniete neben ihr nieder.

„Ich lasse sie nicht fallen“, flüsterte er noch einmal.

Sie schlang die Arme um ihn und hielt sich an ihm fest, und auf einmal war es ganz natürlich, dass er seine Lippen auf die ihren presste. Das Taubheitsgefühl verging, und das Dröhnen in ihren Ohren hörte auf. Plötzlich wollte sie nichts so sehr, wie diesen Kuss erwidern.

Es war ihr egal, dass sie den Mann vor dem heutigen Tag niemals gesehen hatte oder dass er und seine Leute von allen anderen als der schlimmste Abschaum behandelt wurden. Es war ihr egal, dass man ihn beschuldigte, für König Gustav Adolfs Tod verantwortlich zu sein. Was war der Tod eines Königs gegen den Tod eines unschuldigen Kindes? Es war ihr egal, dass die Wachen vor dem halb eingestürzten Haus wussten, was sie und Brahe taten. Es war ihr vor allem egal, dass es dort, wo Brahe sie hineingetragen hatte, ebenso nach Zerstörung und Tod roch wie überall ... Was sich in ihr regte, war stärker als der Tod. Zum zweiten Mal war Samuel Brahe als Retter in der letzten Sekunde aufgetaucht, nur dass er sie diesmal nicht nur vor Vergewaltigung und Tod beschützt hatte, sondern vor etwas noch Schlimmerem: der Überzeugung, dass die Hoffnung gestorben war. Sie war vor dem Eingang zu ihrer Hölle gestanden, und Brahes Gegenwart hatte sie gehindert, den letzten Schritt hineinzutun. Hoffnung bedeutete, einfach weiterzumachen, selbst wenn es hoffnungslos schien. Hoffnung gebar sich aus sich selbst.

In der Dunkelheit des Hauses zerrten sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib.

Hoffnung bedeutete, einfach weiterzumachen. Hoffnung bedeutete, nicht aufzugeben. Hoffnung bedeutete, den Funken des Lebens irgendwo in einem Winkel seiner Seele weiterglimmen zu lassen und sich dann, wenn er plötzlich zu einem Feuer emporloderte, in die Flammen zu stürzen. Hoffnung war, jedem Tod so viel Leben wie möglich entgegenzusetzen.

Alexandra zog Samuel an sich, und er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten. Sie erschauerte, als ob sie bereits kurz vor der Ekstase stünde. Sie ließ das Mieder von ihren Armen gleiten; er knüpfte mit zitternden Fingern ihren Rock auf, sodass er zu Boden fiel. Sie wand sich aus dem Hemd, das er ihr bereits bis zur Hüfte herabgezogen hatte. Sie hörte ihn stöhnen, als er seinen Mund auf ihren Schoß presste. Dann kniete sie ebenfalls, seinen Pfahl in der Hand, und wenn sie daran über einem Abgrund gehangen wäre, hätte sie nicht verzweifelter zugreifen können. Seine Küsse schmeckten nach schlechtem Essen, ihre nach Trauer und Wehmut, doch es spielte keine Rolle – für sie beide waren sie süß. Gemeinsam sanken sie zu Boden, sie spürte seine Hände auf ihren Brüsten, und sie zogen sich zusammen, dass es fast schmerzte, sie spürte sie auf ihrem Gesäß, und ihr Becken zuckte ihm entgegen; sie spürte sie auf ihrem Schoß, und sie stöhnte so laut, dass es wie ein Schrei war. Er flüsterte etwas, das sie nicht verstand; sie flüsterte etwas, von dem sie nicht wusste, was es war. Sie zog an ihm und wand sich, um ihn auf sich zu ziehen, spreizte die Beine, um ihn eindringen zu lassen, brauchte das Gefühl, dass er in ihr war und dass sie ihn umfing, brauchte das Urgefühl der menschlichen Vereinigung und die geile, unverstellte, jauchzende Lebenslust, die sich damit verband, brauchte das Wissen, dass der Tod nur das Ende der Existenz, aber nicht des Lebens war … versuchte ihn zu dirigieren, weil sie nicht mehr abwarten konnte … und fühlte, wie er sich aufbäumte und heiße Feuchtigkeit plötzlich auf ihrem Leib, auf ihren Brüsten war … auf ihren Schenkeln und dann auf ihren Schoß, und diese Berührung war der letzte Tropfen in einen See aus tosenden Gefühlen und bebendem Verlangen und schäumender Lust. Der See schwemmte seine Ufer fort, sein Vergehen riss sie mit sich, ohne dass sie darauf vorbereitet gewesen wäre, pulste durch ihren Leib, dass sie meinte, jedes einzelne Härchen, jeder Quadratzoll Haut, selbst das Wasser in ihren Augen würde explodieren. Sie klammerte sich an ihn und hätte geschrien, wenn sie eine Stimme gehabt hätte. Und dann spürte sie ihn plötzlich in sich, noch immer hart, noch immer glühend, nahm seine Hitze in sich auf, fühlte erneut das Schäumen, das sie innerhalb von Augenblicken in einer zweiten Eruption davonwirbelte, dachte gleichzeitig gepfählt und zerrissen und doch vereinigt zu sein, mehr zu sein als nur sie selbst … und hätte weinen mögen, während die letzten Schauer durch ihren Körper liefen, weil keine andere Gefühlsäußerung stark genug war, um dieser Ekstase, die sie gespürt hatte, Ausdruck zu verleihen. So war es bisher nur ein einziges Mal in ihrem Leben gewesen …

Sein Gewicht hob sich von ihr, doch statt dass er, wie sie erwartet hätte, aufstand und sich anzog, legte er sich neben sie. Es war so kalt, dass ihre schweißbedeckten Körper dampften; tatsächlich fühlte sie eine derartige Hitze, dass sie von ihm abrückte – nicht, weil die Berührung seiner Haut ihr unangenehm gewesen wäre, sondern weil sie Luft brauchte, um nicht zu verglühen.

„Wer ist Königsmarck?“, fragte Alexandra nach einer Weile, in der keiner von ihnen das Bedürfnis verspürt hatte zu reden. „General Hans Christoph von Königsmarck“, sagte Samuel. „Du hast noch nie von ihm gehört?“

„Nein.“

„Woher kommst du?“

„Aus Prag.“

„Gesegnetes Böhmen …“

„Böhmen kennt Torstenson.“

„Ah ja … den Feldmarschall, der sein Heer verstärkt hat, indem er halb verhungerte Bauern rekrutierte und ihnen statt des Soldes die Erlaubnis zum Plündern gab … dessen Soldaten in den eroberten Städten noch die Friedhöfe umgraben und den Toten die Münzen von den Augen nehmen und die Ringe von den Fingern schneiden … der seine Truppen auf dem Marsch nach Olmütz die Messgewänder von erschlagenen Priestern tragen und katholische Prozessionsfahnen schwenken ließ … der in der Umgebung von Olmütz jede Seele erhängen, erschlagen oder zu Tode foltern ließ.“

Samuel wandte sich ab und setzte sich hin. Er ließ den Kopf hängen. Alexandra konnte nicht erkennen, ob es aus Scham darüber war, dass General Torstenson Schwede war, so wie Brahe selbst, oder darüber, dass er, Brahe, ein Teil dieser gewaltigen Katastrophe namens Krieg war, die unschuldigen Menschen ein solches Schicksal bereitete.

„Torstenson, der in der Stadt Olmütz selbst die Töchter der reichen Bürger der Reihe nach durch seine Offiziere vergewaltigen ließ, während die Töchter der weniger Wohlhabenden für die Soldaten zur Verfügung standen … der Wien eingenommen hätte, wenn die Dänen sich nicht in den Krieg eingemischt hätten und er mit seinem Heer nach Norden ziehen musste …“

„Hör auf“, sagte Alexandra.

„Königsmarck“, murmelte Samuel, „ist der Mann, vor dem noch einer wie Torstenson sich fürchtet.“

„Gott sei uns gnädig.“

„Warum sollte er?“

Alexandra schloss die Augen. Es waren nichts als ihre eigenen Gedanken, die Samuel aussprach, und doch ließ die Resignation in seinen Worten sie erschauern. Sie erinnerte sich an ihren Weg durch die Stadt hierher.

„Und du?“, fragte sie. „Du und deine Männer? Wie viele Friedhöfe habt ihr umgegraben?“

„Der einzige Friedhof, auf dem wir wandeln, ist unser eigener. Wir führen ihn in unseren Herzen mit uns.“

„Gehörst du mit deinen Männern zu Königsmarck?“

„Hast du nicht gehört, dass wir keine Verbündeten haben? Wir gehören nirgendwo hin.“

„Was tut Königsmarck hier?“

„Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Er hält sein Heer hier versteckt. Es ist nicht groß, und der Tross ist kleiner als gewöhnlich. Ich würde sagen, es ist ein Expeditionsheer, geeignet für einen schnellen, rücksichtslosen Vormarsch. Wohin, weiß ich nicht. Wir sind erst vor ein paar Tagen hier angekommen, und du hast ja gesehen, dass es uns nicht erlaubt ist, in dem Teil der Stadt Quartier zu machen, in dem das Heer lagert.“

„Samuels Geister“, sagte sie langsam. „Die Truppe der Verfluchten. Ist Samuel selbst auch ein Geist?“

Es dauerte lange, bis eine Antwort kam: „Der verfluchteste von allen.“

„Du möchtest nicht darüber reden, stimmt’s?“

Samuel richtete sich auf dem Ellbogen auf und musterte sie. Sie sah seine Augen in der Dunkelheit leise glitzern. Er hob eine Hand und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wer hat dich zu mir geschickt?“, murmelte er. „Einen Engel, der gerade dann kommt, wenn die Nacht am dunkelsten ist.“

„Ich bin kein Engel. Und was die Dunkelheit der Nacht betrifft – sie ist der Grund, weshalb ich gekommen bin.“

„Hast du mich gesucht?“

„Nein. Oder ja. Vielleicht suche ich dich schon seit Jahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Du suchst jemand anderen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Du hast nach ihm gerufen.“

„Was?“

„Wer ist Wenzel?“

Die Hitze, die Alexandra noch immer gefühlt hatte, erlosch schlagartig.

„WAS?“

„Ist er dein Mann? Dein Geliebter? Ist er hier unter den Soldaten? Ist er gefallen?“

„Ich habe seinen Namen …?“ Mittlerweile hatte die Hitze in ihrem Leib entsetzter Kälte Platz gemacht, und dort hineingemischt das kühle Erstaunen ihres eigenen Geistes: Was hast du anderes erwartet?

„Mehrfach.“ Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

Hastig begann sie, ihre Kleider zusammenzusuchen. Plötzlich war ihr der Gedanke unerträglich, nackt neben Samuel Brahe zu liegen. Er ließ sich zurücksinken und seufzte. Während sie sich in Rock und Mieder zwängte und ihre Verlegenheit langsam weniger tödlich wurde, kam ihr ein Gedanke. Er war so drängend, dass sie sich wieder neben ihm auf die Knie sinken ließ.

„Es ist nicht deinetwegen“, sagte sie unbeholfen und legte die Hand an seine Wange. Sie spürte unter ihrer Handfläche, wie er das Gesicht zu einem Lächeln verzog.

„Dir ist alles vergeben, unbekannter Engel.“

„Eines Tages werde ich es dir erklären.“

„Diesseits oder jenseits der Hölle?“

„Wo auch immer wir uns wiedersehen.“

„Engel kommen nicht in die Hölle.“

„Gefallene Engel schon.“

Er küsste ihre Handfläche. „Plötzlich ist die Aussicht auf ewige Verdammnis nicht mehr so schlimm …“

Sie sprach den Gedanken aus, den sie vorhin gehabt hatte. „Samuel“, sagte sie, „kannst du uns hier herausbringen?“

„Wie bitte?“

„Wir müssen weiter nach Würzburg. Ein Leben hängt davon ab. Aber wenn es sich nicht herumsprechen soll, dass das Heer hier versteckt liegt, wird man uns kaum gestatten, Wunsiedel zu verlassen.“

„Wohl nicht“, sagte er langsam.

„Kannst du uns helfen?“

„Wer würde Samuel Brahe zuhören?“

„Kannst du es nicht wenigstens versuchen?“

„Es hat keinen Sinn, mein Engel.“

Alexandra versuchte, die Enttäuschung zurückzudrängen. Aber im Nachhinein betrachtet: Wenn es einen Weg gäbe, die Stadt unbemerkt zu verlassen, hätten Samuel Brahe und sein Häufchen Verfemter dann nicht als Erste die Gelegenheit genutzt zu fliehen?

„Leb wohl“, sagte sie und stieg über ihn hinweg.

„Menschen treffen sich immer zweimal im Leben. Sag erst beim zweiten Mal Lebewohl.“

Beinahe gegen ihren Willen blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. „Leb wohl, Samuel Brahe“, sagte sie dann sanft. „Das Leben ist kein Sprichwort.“

Draußen auf der Gasse strich sie ihr Gewand glatt und hatte einen Augenblick Mühe, sich zu orientieren. Ihr war wieder genauso kalt wie zuvor, aber diesmal hatte sie wenigstens die Erinnerung an die Hitze, die der Liebesakt mit Samuel Brahe ihr für eine Weile geschenkt hatte. Die Soldaten hatten ihre Posten bezogen und musterten sie. Mit einem Schock wurde ihr bewusst, dass das Erlebnis mit Samuel nur ein Zwischenspiel gewesen war. Würden die Soldaten sie gehen lassen?

Sie schrak zusammen, als sie Samuels Hände auf ihren Schultern spürte. Er konnte sich so lautlos bewegen wie ein Nachttier.

„Wie lange brauchst du, um abmarschbereit zu sein?“, flüsterte er in ihr Ohr.

Sie zögerte nicht. „Eine halbe Stunde.“

Er schwieg kurz, und sie war sicher, dass er dabei den Himmel musterte und herauszufinden versuchte, wie spät in der Nacht (oder früh am Morgen) es eigentlich war. Sie drehte sich nicht um. Schon als sie seine Berührung gespürt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie auch dazu diente, sie vor jeder Bewegung zu warnen. So, wie sie stand, befand Samuel Brahe sich noch in der Dunkelheit des Hauses, unsichtbar für die Wachen vorne, und er wünschte nicht, dass sie ihn mit ihr flüstern sahen.

„Geh nachher zurück in das Haus. Es hat einen Hinterausgang. Nimm ihn und sammle deine Reisegruppe zusammen. Dann kommt ihr wieder hierher. Alfred und ich werden euch hier rausbringen.“

„Alfred?“

„Als ich noch Offizier war, war er mein Wachtmeister. Du schuldest ihm immer noch zwei Küsse.“

Sie lächelte. „Der Mann mit der charmanten Verbeugung? Er bekommt sie mit Zinsen.“

„Gut.“

„Was meinst du mit ‚nachher’?“

„Du wirst es gleich verstehen. Ich gehe davon aus, dass du nicht zimperlich bist.“

„Äh …?“

Der Händedruck auf ihren Schultern verschwand. Dann stand Samuel Brahe neben ihr. Überrascht sah sie, dass er nur ein Hemd trug und in seine Stiefel geschlüpft war. Er nahm sie an der Hand und führte sie mit sich zu den beiden Wachen hinüber. Diese sahen ihnen mit einer Mischung aus Amüsement und Verachtung entgegen.

„He, Kameraden“, sagte Samuel.

„Du bist nicht unser Kamerad, Brahe!“, zischte der Soldat, den Samuel zuvor auf den Boden geworfen hatte. „Du hast keine Ehre.“

„Kommt schon, Kameraden“, sagte Brahe. „Ich hab vielleicht keine Ehre, aber ich hab einen Schwanz.“

„Na und?“

„Die Sache ist die“, sagte Brahe. „Das Täubchen hier hat noch Platz für einen zweiten, und ich dachte, ich tue einem von meinen Männern einen Gefallen. Ist es nicht so, mein Täubchen?“

Alexandra besaß die Geistesgegenwart, albern zu kichern.

„Warum sollte ich nicht der Zweite sein?“, fragte der Wachposten mit dem Spieß zu Alexandras Entsetzen.

„Willst du ihn dahin stecken, wohin der ihn schon gesteckt hat!?“, fragte der mit der Armbrust und spuckte Alexandra vor die Füße. „Pfui Teufel.“

„Also, wie sieht’s aus, Kameraden?“

Die Wachposten sahen sich an. In das Gesicht des Spießträgers trat ein schlauer Ausdruck. „Du hast da einen netten Ring am Finger, Brahe.“

Samuel zog ihn, ohne zu zögern, ab. „Meinst du den, den ich dir schon seit Langem schenken wollte?“

„Du nimmst doch wohl nichts von dem da an?“, fragte der Armbrustschütze.

Samuel ließ den Ring zu Boden fallen. „Hoppla“, sagte er dann. „Da liegt ja ein Ring auf dem Boden. Den muss einer verloren haben. Ich würde mich danach bücken, wenn ich es nicht so verteufelt im Rücken hätte.“

Der Soldat mit dem Spieß las den Ring auf und steckte ihn ein. „Eine Stunde, Brahe. Such dir einen von deinen Dreckskerlen aus.“

„Danke, Kamerad. Und du, Täubchen …“, er klopfte Alexandra auf den Hintern, „… marsch zurück in deinen Verschlag. Halt dich feucht, bis wir wiederkommen.“

Alexandra huschte über die Gasse davon. Ihr Gesicht brannte vor Scham und gleichzeitig vor Spannung. Würde es Samuel wirklich gelingen, ihre Flucht zu arrangieren? Das war jede verächtliche Anrede eines Soldaten wert, der von Ehre redete und wahrscheinlich noch die Kratzer des letzten Opfers auf dem Hintern trug, das er vergewaltigt hatte. Die Worte brannten dennoch in ihr. Und zugleich brannte etwas in ihr, von dem sie geglaubt hatte, es sei schon lange tot, und das nicht deplatzierter hätte sein können: das Bedauern, dass sie Samuel Brahe nicht noch einmal in sich spüren würde.

Die Erbin der Teufelsbibel

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