Читать книгу Gott hat viele Fahrräder - Richard Fuchs - Страница 10
Mir waren die Hände gebunden
ОглавлениеDie bestrahlte Alpenmilch und der Traubenzucker versprachen mir zunächst keine strahlende Zukunft. Ich hatte Milchschorf, eine Krankheit, die bei Säuglingen oder Kleinkindern häufig ausbricht, wenn die Ernährung nach dem Abstillen, oder wenn gar nicht gestillt wird, auf Kuhmilch umgestellt wird – flüssig oder als Pulver. Mit der veränderten Zusammensetzung von Fett, Eiweiß, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralstoffen der Kuhmilch, besonders dem erhöhten Eiweißgehalt der Kuhmilch, ist der menschliche Organismus jedoch überfordert. Die Symptome zeigen sich, so steht es zumindest in alten ärztlichen Ratgebern, in Form von entzündlichen Absonderungen der Haut und Schleimhäute, von bräunlichen Schuppen oder Grind auf der Kopfhaut, von nässenden Hautausschlägen im Gesicht und am Hals und schließlich auch in Form von Krusten. Da die Haut juckte, wurden mir die Hände verbunden, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Ich hatte keine freie Hand mehr. Obwohl ich schon früh meinen Freiheitsdrang entdeckte, wie folgendes Beispiel zeigt, waren mir als Kind dennoch oft die Hände gebunden.
Eines Tages gelang es mir, mich vorübergehend von den Binden zu befreien. Damit Mutter einkaufen gehen konnte, wurde ich für ein paar Stunden der befreundeten Nachbarin Frau Volkart anvertraut. Ob ich in dieser Zeit selbst die Mullbinden von den Händen gerissen oder die Nachbarin ein Erbarmen hatte, ist nicht überliefert. Jedenfalls erblickte Mutter auf dem Heimweg schon von Weitem ein dunkles blutverschmiertes Gesicht hinter der Fensterscheibe. Richard hatte mit bloßen Händen sein Gesicht zerkratzt und schrie bitterlich. Verbundene Hände, permanenter Juckreiz, gegen den sich die eigenen Hände nicht wehren konnten, würden Psychotherapeuten als Ereignis frühkindlicher Traumatisierung diagnostizieren, das, obwohl später verdrängt, dennoch Spuren hinterlässt. Es war ein langer Weg, bis ich nicht mehr zuließ, dass mir im übertragenen Sinn die Hände gebunden wurden.
Der kleine Richard mit Bleyle-Hose und langen Strümpfen
Ein anderes Mal hätten meine Aktivitäten noch ernsthaftere Folgen haben können. Ich stand in einem Laufställchen in der Küche. Auf der Kante des Küchenschranks lag ein superscharfes Rasiermesser, das regelmäßig mithilfe eines Lederriemens neu geschärft wurde. Rasieren mit Wegwerf-Rasierklingen war noch nicht sehr verbreitet und schließlich auch teuer. Deshalb konnte ich jeden Morgen meinen Vater beobachten, wie er sich mit dem Rasierpinsel einseifte und den Seifenschaum anschließend mit dem Rasiermesser abschabte, um sich zu rasieren. Das gefiel mir offenbar, ohne indessen die Gefahren zu erahnen, die bei unbefugtem Gebrauch des Rasiermessers drohen würden. In einem unbeobachteten Moment ruckelte ich meinen Laufstall so lange in Richtung Küchenschrank, bis ich das Rasiermesser zu fassen bekam. Nun versuchte ich nach dem Prinziep trial and error endlich selbst die Rasur. Was ein Erwachsener macht, kann ja wohl nicht falsch sein. Me too-effect oder learning by doing würde man heute das nachvollziehbare Verhalten eines Kindes nennen. Ganze Generationen haben schließlich durch Anschauungsunterricht Überlebenstechniken und Handwerkliches gelernt. Als man mich nach den ersten Selbstversuchen entdeckte, war ich blutverschmiert nur noch bedingt vorzeigbar. Nur die Augen leuchteten noch im Gesicht.