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Biblisch begründete Erklärungsversuche

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Auch wenn meine Eltern ein eindeutig distanziertes, kritisches Verhältnis zur NS-Politik hatten und meine Mutter – nicht folgenlos – eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft verweigerte, hatten sie dennoch eine Meinung zum Schicksal der Juden, wie ich mich erinnere. Denn auch wir Kinder hatten Fragen und erwarteten wie immer schlüssige, biblisch begründete Antworten. Ich entsinne mich an einen Hinweis in der Bibel – ein Menetekel aus dem Munde Jesu –, das das Schicksal der Juden vorauseilend erklären sollte: Als Jesus gefangen wurde, folgte ihm auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte eine große Menge Volks und Weiber, welche wehklagten. Da wandte sich Jesus zu ihnen und sprach: „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder; denn es werden Tage kommen, an welchen man sagen wird: Glückselig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! […] Denn wenn man dies tut an dem grünen Holze, was wird an dem dürren geschehen?“36 Diese nicht ganz verständliche Prophezeiung könnte so interpretiert werden: Jesus stellt das grüne Holz der Verheißung dar, das dürre Holz als das damalige Israel.37

Nach Kriegsende und allen Verbrechen vor allem gegenüber Juden im Dritten Reich hätte man denken können, dass auch Verantwortliche der Christlichen Versammlung zu neuen Erkenntnissen gekommen wären. Aber nein! Kurt Karrenberg (1913–1967), Geschäftsführer und Schriftleiter der Christlichen Verlagsgesellschaft, einer der führenden Köpfe der Brüder, schreibt in dem offiziellen Programmheft Warum aus dem Jahr 1960: „Wir glauben, daß zwischen der Gemeinde Jesu als himmlischem und Israel als irdischem Volk Gottes klar unterschieden werden muß. Demnach unterscheiden wir auch zwischen himmlischen Segnungen für die neutestamentliche Gemeinde und irdischen Segnungen für das dereinst wiederhergestellte Volk Israel. Wir vergeistigen also nicht die Israel geltenden Verheißungen, sondern glauben, daß sie, wie die angedrohten Strafen, real an diesem Volk in Erfüllung gehen werden.“38 Damit begibt sich Karrenberg auf dasselbe Niveau wie Fritz von Kietzell, der – wie bereits erwähnt – 1934 schrieb: „Dieses Volk stand ja unter dem Fluch und sollte auch ein Fluch sein und werden. Denn Gott sorgt dafür, dass sein Wort eintrifft.“39

Im Klartext heißt das: Nicht genug der Verbrechen gegenüber Juden im Dritten Reich, weitere Strafen an diesem Volk werden real folgen, damit ein Bibeltext in Erfüllung geht. Anders formuliert: Karrenberg rechtfertigt damit posthum die Ermordung von 6.000.000 Juden, Sinti, Roma und politisch Verfolgten (davon vorwiegend Juden) im Dritten Reich und nimmt weitere Strafen an dem Volk der Juden billigend in Kauf. Er toleriert damit unter anderem, dass 6.000 jüdische Ärzte diskriminiert, ihrer Existenz beraubt, vertrieben und ermordet wurden, dass jüdische Anwälte, Wissenschaftler, Künstler, Literaten, Kaufleute, ganz zu schweigen von der großen Zahl der anderen weniger prominenten Juden, ihre Existenz und zum größten Teil ihr Leben verloren. 1.145 Professoren und Dozenten, darunter zwanzig Nobelpreisträger, wurden entlassen und flohen zum Teil. Als Max Planck in seiner Eigenschaft als Präsident des Kaiser-Wilhelm-Instituts Hitler konsultierte und versuchte, auf ihn einzuwirken, auf die Entlassung der Wissenschaftler zu verzichten, entgegnete Hitler nach einem seiner berüchtigten Wutanfälle: „Wenn die Entlassung jüdischer Wissenschaftler die Vernichtung der zeitgenössischen Wissenschaft bedeutet, dann werden wir einige Jahre lang ohne Wissenschaft auskommen.“40

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