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Wir und die anderen

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Glaube nur, glaube nur,

armes Herze glaube nur,

was dein Gott dir hat versprochen,

geht’s auch gegen die Natur!

Er hat nie Sein Wort gebrochen:

Fühlest du, mein Herz, auch keine Spur,

glaube nur, glaube nur.

Glaube nur, glaube nur,

wenn dich das Gewissen schreckt,

und du fühlst dich schuldbeladen,

wenn die Sünde, aufgedeckt,

bei dir zeigt den ganzen Schaden!

Siehst von Bess’rung du auch keine Spur,

glaube nur, glaube nur.

Erbauungslied (Str. 1, 2) von Hermann Heinrich Grafe (1818–1869)

Als Kind wünschte ich mir, so wie die anderen zu sein und von meinen Eltern so akzeptiert zu werden, wie ich bin. Aber in einer Familie mit einem hohen Anspruch an Frömmigkeit war das nicht möglich. Das Prinzip religiöser Normerfüllung oder -abweichung, von gut oder böse, was für Christen zur Dauerreflektion, Selbstzensur oder sogar zum Dauerstress führen kann, war früher – vielleicht auch heute noch – für Mitglieder mancher Kirchen, besonders aber für Gläubige der Evangelischen Freikirchen – damit auch bei uns – Alltag. Dabei zeigen sogar Gestalten der Bibel, dass kein Geschöpf vollkommen ist. Das könnte entlasten und von der Forderung befreien, perfekt sein zu müssen.

Die Vorgaben, was sich schickt, was das Image schädigen könnte, bewegten sich dennoch in unserer christlichen Glaubensrichtung in einem engen Rahmen, der letztlich von einem speziellen Bibelverständnis vorgegeben war und ist.


Das Herz des Menschen

In der bereits zitierten Schrift Versammlungen der Brüder von Kurt Karrenberg aus dem Jahr 1960 ist zu lesen: „Wir halten an der Vollinspiration der Bibel fest und lehnen alle liberale Bibelkritik ab.“41 Im Gegensatz zur historisch-kritischen Theologie sollten also Bibeltexte wortwörtlich absolut irrtumsfrei als Handlungs- oder Verbotsanweisung gelten. Obwohl die Bibel vor mehr als 2000 Jahren in anderen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen verfasst wurde, reichten die Verhaltensregeln bis hin zur Normierung für die Art der Frisur und Länge der Haare. Kein Geringerer als der US-amerikanische Evangelist Billy Graham hatte sogar behauptet, auch Mode sei Sünde. Dieser Logik folgend blieb da wenig Spielraum für modische Kleidung. Ein Gipfel der Eleganz war das nicht. Von meinem Großvater – ich habe ihn nicht erlebt – wurde berichtet, dass es die heilige Stimmung des Versammlungssaales gebiete, derart gemessenen Schrittes den Raum zu betreten, dass sich die Schnürsenkel nicht bewegen durften.

Bei Karrenberg ist weiter zu lesen: „Es liegt uns daran, daß jedes Glied der Gemeinde sich abgesondert hält von der Welt und ihrem Wesen, daß, vor allem in der Ehe, keine Jochgemeinschaft gepflegt wird mit Ungläubigen. Verfall einer Gemeinde hat sich immer dann eingestellt, wenn die Glieder in der gebotenen Absonderung von der Welt lässig wurden.“42 Heute würde man bei solchem Regulierungseifer sagen: Da ist wohl die EU-Kommission einmal zu viel aktiv geworden.

Die weltabgewandte Lebensweise von manchen Gläubigen und das Festhalten an Glaubenssätzen bergen auch Gefahren. Heikel wird es auch dann, biblischen Weisungen zu folgen, wenn es um die dort geforderte körperliche Züchtigung geht oder darum, der Obrigkeit, sprich: Politikern, gegenüber unterwürfig zu sein. Im Brief von Paulus an die Römer heißt es apodiktisch, ohne Wenn und Aber: „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten; denn es ist keine Obrigkeit, außer von Gott, und diese, welche sind, sind von Gott verordnet. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen.“43 Dieses naive Vertrauen, Gott werde es schon regeln, hatte nicht selten verhängnisvolle Folgen, wie zum Beispiel den Massenmord im Dritten Reich. Auf die christlichen Gemeinden bezogen bedeutet das, in die Politik muss man sich nicht einmischen noch besonders informiert sein. Bequemer geht’s nicht – weder für die Untertanen noch für die Obrigkeit, denn die kann sich damit der Kontrolle entziehen und regieren, wie sie will. Man muss nicht politisch denken, fällt auf politische Phrasen herein, wenn sie nur christlich verpackt sind. Auch auf diesem Gebiet war Hitler ein Meister der Täuschung.

Dergestalt entlastet, kann man sich Wichtigerem zuwenden, wie ich kürzlich entdeckte. In einem der vielen kleinen Ringbücher mit handschriftlich verfassten Predigten meines Vaters las ich zu meinem Erstaunen, was außer dem üblichen Sündenkatalog des Weiteren als Sünde gelten solle. Er schrieb in den fünfziger Jahren: „Heute ist die Sünde zur überströmenden Flut geworden. Kino, Bilder, Bücher, Sport, Schulgefährten, Lehrer, Schulräte, Theologen, Irrlehrer untergraben Gottes Wort und Ordnung.“ Diese Aufzählung ist insofern ungewöhnlich, als Vater normalerweise in der Lage war, seine Theorien mit Bibelzitaten abzusichern. Für die Bewertung von Kino oder Sport aber bietet die Bibel nichts Geeignetes. Abgesehen von dem Generalverdacht, sogar gegenüber Lehrern oder Theologen, macht das eher willkürlich zusammengestellte Sündensortiment unausgesprochen deutlich, dass zwischen der geistlichen, geistigen Welt der Gläubigen und der Welt da draußen, wie es immer hieß, eine imaginäre Grenze verläuft.

Wie so manches der reinen Lehre der Christlichen Versammlung war auch das Konzept der Absonderung ein Plagiat dessen, was andere in anderen Zusammenhängen, anderen Zeiten und anderem Zeitgeist vorgedacht hatten, so das gestörte Verhältnis zu Kulturgütern. Es wird nicht übertrieben sein, wenn es in der Schrift Die Sekten der Gegenwart von Paul Scheurlen heißt: „Die Stellung des ‚Darbysmus‘ zu Welt und Kultur ist völlig ablehnend. Die ‚Welt‘ liegt unverbesserlich im Argen. Aussichtslos und schriftwidrig ist der Versuch, sie mit Kräften des Evangeliums zu durchdringen. Die ‚christliche Welt‘ – welch ein Widerspruch! An Politik und Staatsleben kann sich der Christ nicht beteiligen. […] Die Versammlung treibt geflissentlich Wahlsabotage. Hinsichtlich des Kriegsdienstes empfiehlt sie, nach Posten hinter der Front zu streben. Mit Kunst und Literatur sich zu beschäftigen ist ‚weltlich‘. Der Christ hat damit nichts zu tun. Naturfreude am Sonntag ist unchristlich.“44 Dieser Verhaltenskodex wird dem Theologen J. N. Darby zugeschrieben, der als Gründer und Kopf der Brüderbewegung gilt.

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