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Bis 1933 – 200 Juden im Siegerland

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1933, als meine Eltern aus dem Ruhrgebiet nach Siegen zogen, gab es im Siegerland mehr als 200 Juden, von denen 115 als Angehörige der jüdischen Gemeinde in Siegen gemeldet waren. Nicht nur Letztere waren bedroht, sondern auch nichtreligiöse Juden und konvertierte Juden zum evangelischen oder katholischen Glauben – zwei von ihnen, David und Deborah Kogut, waren evangelisch-freikirchlich. Bis zum Auswanderungsverbot am 23. Oktober 1941 hatten rund vierzig Prozent der Juden ins Ausland flüchten können, vor allem wohlhabende und jüngere. Wenn die Verbliebenen keinen Suizid begingen, war ihr Schicksal durch Deportation in Vernichtungslager vorgezeichnet.

Ursprünglich hatte es keine Juden im Siegerland gegeben, da die hiesigen Fürsten durch Gesetze den Aufenthalt unterbanden. Das änderte sich mit der französischen Besatzungszeit (1806–1813). Nun ließen sich jüdische Händler in Siegen nieder, einer von ihnen war Isaac Rosenberg. Nach 40jährigem Kampf erlangte er sogar das Bürgerrecht. Die Gemeinde wuchs im 19. Jahrhundert stetig. Die Mitglieder, fast ausschließlich Händler, unterhielten etliche Geschäfte in der Oberstadt wie Tietz, Marx, Herrmann, Ferber, Jacoby. Es bestanden nur wenige gesellschaftliche oder wirtschaftliche Kontakte zur christlichen Bevölkerung. 1904 wurde die schöne Synagoge feierlich eingeweiht, die schließlich am 10. November 1938, einen Tag nach der Reichskristallnacht, dem Brandanschlag der Nazis zum Opfer fiel. Am 9. November, als insgesamt 267 jüdische Gotteshäuser brannten, war die Siegener Synagoge schlicht und einfach vergessen worden. SS-Männer in Zivil holten das gründlich nach. So ist zu erklären, dass die Siegener Synagoge eine der wenigen ist, die brennend fotografiert wurde, weil Fotografen darauf vorbereitet waren. Am selben Tag wurden alle jüdischen Männer verhaftet und 3 – 6 Wochen später in das KZ Oranienburg bei Berlin eingeliefert. Auch vor konvertierten Juden machten Nazis nicht halt.26

Zum Thema Juden berichtet meine älteste Schwester Magdalene: „Eines Tages musste ich zur Post und kam über die Bahnüberführung. Eine Menge Leute standen auf der Brücke und sahen auf den Bahnsteig hinunter. Ich blieb auch stehen, sah viele Leute mit Judenstern am Arm und Gepäck und hörte jemand leise und entrüstet sagen, das Gepäck würden die nicht behalten und wer weiß, wohin die Leute kämen.“ Weiter berichtet Magdalene, dass unsere Mutter gesagt habe, dass der achtzehnjährige Sohn unseres Metzgers als Bewacher in Dachau sei und seine Eltern, selbst tief betroffen, Entsetzliches munkelten. Auch unsere Nachbarin, Frau Volkart, erzählte, dass eine Verwandte ihr mitgeteilt habe, in Hadamar stürben die Leute in der Landesheil- und Pflegeanstalt wie Fliegen an der Wand. Da inoffizielle Berichte wie diese die Menschen erreichten, ist die oft wiederholte Ausrede, man habe nichts gewusst, mehr als unglaubwürdig.

Die Botschaft, jüdische Geschäfte zu boykottieren, war nicht neu. 1933 aber herrschte offen praktizierte Gewalt. In Siegen wie auch an vielen anderen Orten kennzeichneten SA- und SS-Angehörige die Läden jüdischer Inhaber mit aufgepinselten gelben Sternen. Die Siegener Zeitung sah sich nach der Machtübernahme veranlasst, auf das einträgliche Geschäft der Anzeigeneinnahmen des Warenhauses Tietz zu verzichten – aber nicht lange. Anfang Juli 1933 war aus dem jüdischen Unternehmen Leonard Tietz AG die Westdeutsche Kaufhof AG geworden.

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