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Pietisten und Brüdergemeinden
ОглавлениеMit Bismarck, der ursprünglich eine eher liberale Religionsauffassung hatte, obwohl dessen Frau pietistischen Kreisen entstammte, entstand im Deutschen Reich eine tolerante Ära nach dem Prinzip: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“ Das Zitat stammt von Friedrich dem Großen. Preußen war damals, mit Ausnahme seiner Enklaven im Westen, evangelisch.
Bereits Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sich Untergruppierungen der lutherischen Kirche, initiiert zunächst von Philipp Jakob Spener und dessen Anhänger. Sie drängten auf lebendige Herzensfrömmigkeit und werktätiges Christentum gegenüber der damals in der lutherischen Kirche herrschenden bloßen Lehr- und Bekenntnisgerechtigkeit. Der Name Pietist wurde Anfangs in Leipzig von den Orthodoxen als Schimpfname im Sinne von Frömmler für einige junge, durch Spener angeregte Leipziger Magister gebraucht, die seit 1689 erbauliche Vorlesungen über das Neue Testament (collegia pietatis) zu halten begonnen hatten; diese aber nahmen ihn bald als Ehrennamen an. Die neue Bewegung betonte besonders die „Wiedergeburt“ oder „Erweckung“ als Merkmal lebendigen Christenglaubens und in Abkehr von der Kanzelpredigt beziehungsweise Alleinherrschaft der Theologen und professionellen Pastoren in der protestantischen Kirche, die Verkündung des allgemeinen Priestertums.
Als Prediger in Frankfurt am Main, später auch in Dresden, beginnt Spener seit 1670 neben den öffentlichen Gottesdiensten erbauliche Hausversammlungen zu halten, um die Bibel zu erklären. Sein Einfluss breitet sich im universitären Bereich in Leipzig und Berlin aus und führt zu Kontroversen, aber auch zu Besetzungen der theologischen Fakultät in Berlin und Halle. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts bleibt Halle die Inspirationsstätte des Pietismus. Bei den Lehrern der zweiten Generation zeigen sich hier allerdings auch die ersten Schwächen in Form von religiöser Schwärmerei und frommen Phrasen. Die Wiedergeborenen beginnen sich von den Kindern der Welt durch Haarschnitt, Kleidertracht und Kopfhaltung zu unterscheiden und allen Vergnügungen, wie Tanz, Theater, Kartenspiel etc., als Sünde eine Absage zu erteilen. Die Weltkinder werden zunehmend Objekte eines zuweilen zudringlichen Bekehrungseifers.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts flüchtet sich der Pietismus, aus der Theologie zurückgedrängt, immer mehr in einzelne religiös angeregte Laienkreise, die sich dem Zeitgeist der Verstandesbildung entziehen. In Württemberg und den Rheinlanden rekrutieren sich Pietisten aus den mittleren und niederen Volksschichten, während er anderenorts in hocharistokratischen Kreisen als eine Art Mode gepflegt und von Schönen Seelen auch als ästhetisch ansprechend empfunden wird. Unter dem Schutz Friedrich Wilhelms IV. tagt im September 1857 in Berlin ein Zusammenschluss aller pietistischen Parteien, die sogenannte Evangelische Allianz. Hier soll es zu einer Verbrüderung aller evangelisch-freikirchlichen Gruppierungen kommen. In der sogenannten preußischen Hofpredigerpartei finden schließlich Gruppen mit pietistischen Neigungen und solche mit einer ausgeprägten Orthodoxie zusammen. In Württemberg hingegen halten sich Pietisten von kirchenpolitischen Herrschaftsstrukturen fern.45