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Einführung

Wanderer, nur deine Spuren sind der Weg, sonst nichts; Wanderer, es gibt keinen Weg, er entsteht erst durchs Gehen.

ANTONIO MACHADO, Liedzeile

Gibt es einen Weg ohne die Schritte des Wanderers? Können wir uns innerlich entwickeln und heranreifen ohne konkrete Erfahrungen?

Auch der spirituelle Weg vollzieht sich durch konkrete Schritte – Erfahrungen, die uns reifen lassen und unser Verständnis vertiefen. Die Praxis ist das Gefäß für konkrete Erfahrungen. Sie ist der Weg, auf dem wir unsere inneren Schritte machen. Erst die Auseinandersetzung mit Praxisformen, auf die wir uns einlassen, an denen wir uns reiben und in welchen sich unsere seelische Entwicklung entfalten kann, führt dazu, dass sich spirituelle Einsichten vertiefen und verinnerlichen. Ohne eine Praxis bleibt unser Verständnis oberflächlich.

Etwas zu erkennen, bzw. zu verstehen und etwas zu verinnerlichen sind grundsätzlich zwei verschiedene Dinge. Das Eine braucht notwendig das Andere. Erst im Zusammenspiel von Verstehen und Verinnerlichen wird sich ein Weg für uns wirkungsvoll entfalten können.

Das ist allerdings ein langer Weg und braucht Zeit. Ohne Praxisformen, die uns an diese spirituellen Wahrheiten erinnern und die uns ermöglichen, dass wir bestimmte Grundhaltungen immer und immer wieder einnehmen, ist eine solch tief greifende Umwandlung nicht möglich. Die Praxis hilft uns, dass unser Verstehen ganzheitlich wird, gleichsam vom Kopf in Körper und Seele wandert und sich dort verankert.

Für diese allmähliche Umwandlung unseres Egos ist dabei nicht so sehr die Qualität unserer Praxis entscheidend (zum Beispiel wie tief gerade unsere Meditation ist), sondern die Kontinuität, also unsere Ausdauer. Wie auch beim Erlernen eines Musikinstruments nur die Regelmäßigkeit unseres Übens letztlich zu guten Erfolgen führt, ist auch in der spirituellen Praxis entscheidend, ob wir uns kontinuierlich und über lange Zeit auf die Praxis einlassen. Erst dann können sich die Grundhaltungen, die wir durch unsere spirituelle Praxis verinnerlichen, in unserem Leben tief greifend auswirken.

Die im vorliegenden Buch vorgestellten drei Praxisformen haben sich im Laufe der Jahre in der Bewusstseinsschule SEELEundSEIN herauskristallisiert und verfeinert. In dieser Bewusstseinsschule werden die Grundlagen der transpersonalen Prozessarbeit vermittelt. Die transpersonale Prozessarbeit begreift den inneren Weg als einen sehr umfassenden Bewusstheitsprozess, der alle inneren und äußeren Lebensbereiche miteinschließt. Aus diesem Verständnis heraus haben sich die drei Grundformen der spirituellen Praxis, die ich im Buch beschreibe, herausgebildet.

Die erste Praxisform der stillen Meditation (Kapitel 1) richtet unsere Aufmerksamkeit auf die Dimension des Gewahrseins aus. Wir werden immer wieder an die Grundaspekte des Gewahrseins erinnert und verinnerlichen systematisch die zentralen spirituellen Grundhaltungen, die dem Gewahrsein entsprechen. Dadurch bringen wir uns in Einklang mit dem Gewahrsein und entdecken zunehmend das unbedingte und zeitlose SEIN, das wir zuinnerst sind.

In der zweiten Praxisform des inneren Erforschens (Kapitel 2) wird unsere Aufmerksamkeit auf die schöpferische Lebendigkeit unserer Seele gerichtet. Für viele Meditierende ist diese Praxisform neu. Bisher hat sich meist nur die Psychologie durch verschiedene Methoden der Introspektion auf den seelischen Aspekt bezogen. Aber gerade die neueren Entwicklungen in Psychologie und Spiritualität zeigen, dass die Grenzen zwischen persönlicher und spiritueller Entwicklung fließend sind. Im Kontext unserer Seele zeigen sich innere Selbstgrenzen und die Beschränkungen unseres Egos. Daher ergibt sich beim inneren Erforschen im Besonderen die Möglichkeit, diese Grenzen zu erkennen und kraft unserer Bewusstheit zu erweitern. Mit der Zeit wird unsere Identität dadurch offener und fließender und der schöpferische Seelenstrom kann uns von innen her ungehindert inspirieren und erfüllen und auch als innere Führung leiten. Inneres Erforschen ist nicht (nur) eine neue Form der Psychotherapie, sondern eine sehr direkte und wirkungsvolle Möglichkeit, mit der Seelenrealität in Kontakt zu sein, um im wahrsten Sinne des Wortes „beseelt“ zu leben.

Die dritte Praxisform des Zuhörens (Kapitel 3) schließlich bezieht sich auf unser Bezogensein als Mensch. Wenn man nur auf die Praxis der stillen Meditation schaut, die in den meisten spirituellen Schulen auf die eine oder andere Weise im Zentrum des inneren Weges steht, hat man den Eindruck, dass ein spiritueller Weg immer in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit stattfindet. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich betrifft eine der tiefsten spirituellen Erkenntnisse unsere vollständige Bezogenheit, unser Einssein, als Mensch. Diese Erkenntnis löst unser individuelles und getrenntes Selbstgefühl auf und macht uns unsere Verbundenheit mit allen und allem bewusst. Spätestens hier ergibt sich fast zwingend die Notwendigkeit einer Praxisform, die mitten in unseren Beziehungen stattfindet und sich direkt auf diese Verbundenheit bezieht. Die Praxis des Zuhörens ist der direkte Ausdruck dieser Verbundenheit und hat die Kraft, uns und unsere Beziehungen zu verwandeln.

Im vorliegenden Buch werden drei Praxisformen systematisch und getrennt voneinander dargestellt. Beim Lesen werden Sie bemerken, dass sich viele Aspekte ergänzen und überschneiden. Das liegt daran, dass letztlich alle Praxisformen im Gewahrsein, in unserer innersten Seinsnatur, wurzeln und die Grundaspekte des Gewahrseins diese Formen durchdringen.

In jedem Kapitel gibt es zunächst eine Einleitung in den jeweiligen Bereich, auf den sich die Praxisform bezieht. Dann werden in Kürze die Grundaspekte dieser Praxisform vermittelt. Ich empfehle sehr, diese Grundaspekte immer wieder einmal zu lesen, damit sie sich verinnerlichen können. Im Anschluss folgen weitere Aspekte und Inspirationen für die alltägliche Praxis.

Letztlich sei daran erinnert, dass dieses Buch weniger als eine theoretische Abhandlung dieser Praxisformen gedacht ist, sondern vielmehr als ein Praxisbuch im wahrsten Sinne des Wortes. Die kurzen Kapitel sind eine Mischung aus Aspekten zur inneren Kontemplation und konkreter Anleitung und haben vor allem die Grundidee, Menschen in der Ausübung ihrer täglichen spirituellen Praxis zu inspirieren. So empfehle ich, vor der Ausübung der Praxis eines dieser Unterkapitel zu lesen und zu kontemplieren, um dann diesen Aspekt in der Praxis zu verinnerlichen. Dabei kann es durchaus Sinn machen, sich mit einem Aspekt nicht nur einen Tag, sondern auch eine ganze Woche oder noch länger zu beschäftigen und Erfahrungen damit zu sammeln.

Dieses Buch ist also ein Arbeitsbuch zur Inspiration und zur praktischen Umsetzung und daher vor allem eine Unterstützung für Menschen, die bereits einen spirituellen Weg gehen. Solange wir nur darin lesen, werden wir zwar von dem einen oder anderen Gedanken inspiriert sein, aber erst in der praktischen Umsetzung können die Samen dieses Buches sich in unserem Leben entfalten. Samen brauchen die Erde, sonst können keine Pflanzen daraus entstehen, und Erkenntnis braucht die eigene Erfahrung, die im Nährboden unserer Seele wurzelt. Dazu verhilft das konkrete Umsetzen dieser Praxisformen.

Gerade auch die Übungsanweisungen am Ende der Kapitel können sehr hilfreich sein, den jeweiligen Aspekt „von innen her“ zu spüren. Dabei sei nochmal darauf hingewiesen, dass ein großer Unterschied besteht, ob wir z. B. über die Haltung des Empfangens in einem Buch lesen, ob wir diese Haltung kontemplieren und uns davon innerlich berühren lassen oder ob wir sogar in die Haltung des Empfangens hineinschlüpfen, sie gleichsam von innen her körperlich erfahren. Wir werden überrascht sein, zu merken, dass unsere erste Vorstellung beim Lesen eines Aspektes oft sich ganz anders darstellt als die konkrete Erfahrung beim körperlichen Hineinschlüpfen in diesen Aspekt.

Für Leserinnen und Leser, die mit der Terminologie der Transpersonalen Psychologie unerfahren sind, findet sich im Anhang des Buches noch eine Begriffsklärung der wichtigsten verwendeten Fachbegriffe.

Möge dieses Buch ein Beitrag sein, die eigene spirituelle Praxis lebendig zu halten, damit sie uns zum Wohle von uns selbst und allen Wesen verwandeln kann.

Nach innen lauschen

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