Читать книгу Kein Pfad - Richard Stiegler - Страница 11
Loslassen
ОглавлениеStellen wir uns einen Bildhauer vor, der aus einem Steinblock eine Figur hauen will. Die Figur ist schon vollständig da, aber im Stein versteckt. Die Tätigkeit des Bildhauers besteht darin, so lange etwas von dem Block wegzunehmen, bis die Figur sich herausschält und sichtbar wird. Der Künstler formt keine Figur, sondern er nimmt etwas weg, was die Sicht auf die Figur versperrt.
Genau das passiert in der spirituellen Arbeit. Wir sind Stille. Also können wir es nicht werden. Aber wir können das wegnehmen, was uns die Sicht auf Stille versperrt. Nicht dass dann irgendetwas an uns anders wäre, wir sind immer das, was wir sind, aber wir können es jetzt erkennen.
Wie der Bildhauer die Figur für die Augen des Betrachters freilegt, so will spirituelle Arbeit unsere wahre Natur für unser Bewusstsein freilegen, und das bedeutet, das loszulassen, was uns den Blick verstellt. Daher ist spirituelle Arbeit ein Prozess des Loslassens.
Dies verhält sich diametral entgegengesetzt zu unseren üblichen Bemühungen im Leben, wenn wir Ziele erreichen wollen. Normalerweise erreichen wir Ziele dadurch, dass wir etwas anhäufen. Wir müssen zum Beispiel Wissen anhäufen, um Professor zu werden. Oder wir müssen Fertigkeiten gewinnen, um ein Musiker zu werden. Und natürlich müssen wir uns anstrengen, um das nötige Wissen, die nötigen Fertigkeiten oder die materiellen Voraussetzungen für unsere Ziele zu erwerben.
In der Spiritualität geht es jedoch nicht um ein Anhäufen. Wir trachten nicht danach, mehr zu werden, sondern weniger. Wir suchen nicht nach etwas, was uns eine neue Identität und damit Gewicht verleiht, sondern befreien uns immer mehr von der Schwere einer Identität. Wir werden immer leichter, bis wir Stille verwirklichen. Wenn wir alles loslassen, was unsere Wahrnehmung verstellt, bleibt Stille.
Milarepa hatte überall nach Erleuchtung gesucht, aber
nirgends eine Antwort gefunden, bis er eines Tages einen
alten Mann langsam einen Bergpfad herabsteigen sah,
der einen schweren Sack auf der Schulter trug. Milarepa
wusste augenblicklich, dass dieser alte Mann das Geheimnis
kannte, nach dem er so viele Jahre verzweifelt gesucht
hatte.
„Alter, sage mir bitte, was du weißt. Was ist
Erleuchtung?“
Der alte Mann sah ihn lächelnd an, dann ließ er
seine schwere Last von der Schulter gleiten und
richtete sich auf.
„Ja, ich sehe!“ rief Milarepa. „Meinen ewigen Dank!
Aber bitte erlaube mir noch eine Frage:
Was kommt nach der Erleuchtung?“
Abermals lächelte der alte Mann, bückte sich und hob
seinen schweren Sack wieder auf. Er legte ihn sich auf
die Schulter, rückte die Last zurecht und ging seines
Weges.
TRAD. BUDDHISMUS