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Was verstellt uns den Blick? Was gilt es loszulassen?

Es sind unsere Vorstellungen, Pläne und Vorlieben. All unsere Identifizierungen mit Rollen, mit Wissen und mit Werten behindern unsere Sicht. Letztlich all unsere Anstrengungen, das Leben kontrollieren zu wollen. Es ist das, was in der Psychologie die Persönlichkeit genannt wird und in spirituellen Kreisen das Ich. Sind wir bereit, all das loszulassen und ganz leer zu werden?

Im Bestreben, zu lernen, kommt täglich

etwas hinzu.

Im Bestreben, mich dem Tao zu nähern,

fällt täglich etwas weg.

LAO TSE

Ramana Maharshi vergleicht spirituelle Arbeit mit dem Graben eines Brunnens. Wenn wir einen Brunnen graben, heben wir eine tiefe Grube aus. Der leere Raum in dieser Grube, der das Wesen des Brunnens ist, wird nicht von uns geschaffen. Wir haben nur die Erde entfernt, die den Raum ausgefüllt hat. Der Raum war vorher dort und ist es auch jetzt.

Ebenso ist es mit Stille. Obwohl sie immer da ist, wird sie erst erfahrbar, wenn wir sie freilegen. Wie im Bild des Brunnens ist es notwendig, uns zu entleeren von dem, was den Raum der Stille anfüllt – von unserem Ich. Es ist ein umfassendes Loslassen all dessen, was uns eine Identität verleiht und was wir in unserem Leben angesammelt haben. Ein Loslassen unserer Identifikation mit Wissen, Fertigkeiten, Beziehungen, Erinnerungen, Vorlieben, ja mit allem, woran wir festhalten und was uns Sicherheit und Halt im Leben zu geben scheint.

Ist das nicht eine ungeheure Forderung, alles loszulassen, was wir sind und was uns Sicherheit und Halt gibt? Wer kümmert sich dann um unsere Arbeit, um unsere Familie?

Keine Sorge. Auch jemand, der aus der Stille heraus lebt, kann sich um Alltägliches kümmern. Sogar viel gelassener und besser als jemand, der in Gedanken und Problemen verstrickt ist.

Nimm zum Beispiel den augenblicklichen Vorgang, dieses Buch zu lesen. Es geschieht von selbst. Als du Lesen gelernt hast, war deine ganze Aufmerksamkeit vom Entziffern der Buchstaben vereinnahmt und es war mühsam, den Sinn zu erfassen.

Wenn du jetzt dieses Buch liest, ist deine gesamte Aufmerksamkeit frei für den Inhalt des Textes. Du überlässt das Lesen deinem Verstand und auf diese Weise funktioniert es am besten. Unser Körper und unser Verstand können hervorragend alles erledigen, auch wenn wir uns nicht ständig darum kümmern. Vertrauen wir darauf, bleibt unsere Aufmerksamkeit überwiegend frei und die Dinge geschehen ohne Anstrengung.

Schöpferisch wird unser Geist sogar erst dann, wenn wir loslassen. Eingebungen entstehen häufig aus einem Moment des Sichüberlassens, wenn wir unsere Versuche, etwas erdenken oder lösen zu wollen, aufgeben und still werden. Kreativität liegt jenseits unserer üblichen Gedankenschienen. Ein Raum von Stille, ohne Denken, ist daher der fruchtbarste Boden für Inspiration.

Alles loszulassen, bedeutet demnach nicht, all unser Wissen und unsere Fähigkeiten zu verlieren, sondern nur, dass wir vorübergehend unsere Aufmerksamkeit davon abziehen.

Doch was bringt uns dazu, so radikal loszulassen? Nur unsere Erkenntnis, dass alles, was uns innerlich und äußerlich beschäftigt hält, vergänglich und flüchtig ist. Daher gilt auch die Kontemplation über Vergänglichkeit in allen Religionen als die wichtigste.

Von allen Fußabdrücken ist der des Elefanten

der größte.

Von allen Meditationen ist die über den Tod

die höchste.

BUDDHA

Dabei geht es nicht nur um die Vergänglichkeit unseres Körpers, sondern um die Vergänglichkeit aller Erscheinungen in jedem Augenblick. Wenn wir die Flüchtigkeit dessen erkennen, worum wir im Leben kämpfen und was uns innerlich gefangen nimmt, dann verlieren wir das Interesse daran und fragen uns: Was bleibt? Wer sind wir wirklich?

Der Prozess des Loslassens ist ein Zurücktreten von allem, was unsere Aufmerksamkeit gewöhnlich vereinnahmt. Ein Zurücktreten von allen inneren und äußeren Objekten. Nicht dass dann innere oder äußere Objekte nicht mehr da wären. Immer noch gibt es Körperempfindungen, Gedanken und Geräusche. Aber wir ziehen unsere Aufmerksamkeit ab. Und was bleibt, wenn wir die Aufmerksamkeit immer mehr von allen Objekten zurücknehmen? Es bleibt ein Aufmerksamsein, ohne auf etwas Bestimmtes zu achten. Aufmerksamkeit pur. Das ist Lauschen. Diese offene Aufmerksamkeit ist Präsenz und Stille zugleich.

Kein Pfad

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