Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser, Manuel Ladiges - Страница 121
aa) Allgemeine Fragen
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Während eine Vorschrift als solche nur verfassungsgemäß sein kann oder eben nicht,[118] können verschiedene Lesarten der Vorschrift aus grundgesetzlicher Sicht wünschenswerter oder bedenklicher sein.[119] Daraus folgt, dass die verfassungsrechtliche Perspektive nicht nur zu der oben beschriebenen verfassungskonformen Auslegung in Fällen „harter Verfassungswidrigkeit“ herangezogen werden kann. Vielmehr kann die Ausstrahlungswirkung der Verfassung auch – bei genauerer Einordnung dann als Akt der systematischen Auslegung – als Argument bei der Entscheidung für die eine oder andere Lesart diesseits des Verdikts der Verfassungswidrigkeit fruchtbar gemacht werden:[120] Wenn etwa durch eine bestimmte Interpretation die Wirkkraft der tangierten Grundrechte optimiert wird, ist dies ein Argument für diese Interpretation. Dieses ist dann freilich – und darin liegt ein Unterschied zur verfassungskonformen Auslegung i.e.S. – nicht zwingend bzw. unüberwindbar, sondern muss mit den anderen Argumenten, die für oder gegen eine bestimmte Lesart sprechen, abgewogen und diskursiv verarbeitet werden.
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Die Intensität der systematisch-grundgesetzlichen Argumentation wird dabei umso größer, je problematischer eine bestimmte Interpretation sub specie constitutionis wird;[121] denn das Grundgesetz gebietet nicht kategorisch eine optimale Verwirklichung eines Grundrechtes[122] (was auf Grund der steten Kollisionen verfassungsrechtlicher Rechtspositionen ohnehin nicht möglich ist), verbietet aber die völlige Vernachlässigung eines Grundrechts zugunsten anderer Interessen. Anders als bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung einer Strafnorm als solcher ist bei der Auslegung eine Aussage über eine mehr oder weniger gute Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Garantien also durchaus sinnvoll. Lassen sich hier signifikante Unterschiede feststellen, ist auch diesseits „harter Verfassungswidrigkeit“ die nähere Orientierung an den Grundrechten ein gewichtiges systematisches Argument bei der Rechtsfindung.