Читать книгу Naus zum Glubb - Roland Winterstein - Страница 12
ОглавлениеKUTTENKALLE & ICH
Es war beschlossen. Wir vier Nürnberger Jungspunde wollten nun jedes Heimspiel unseres Clubs hautnah erleben, ausgenommen der Spieltage, an denen die Sonne vom Himmel lachte und wir wegen – unserer Meinung nach – komplett sinnloser Freizeitaktivitäten mit der Familie die eine oder andere Träne verdrückten. Aber glücklicherweise lebten wir ja nicht in Spanien und verfolgten einen Club der Primera Division, dort hätten wir unser neues Dasein als Supporter gleich wieder begraben müssen. Gelobt seien die deutschen Tiefdruckgebiete. Apropos Niederschläge. Wir lernten langsam mit den zahlreichen Punktverlusten auf heimischem Platz umzugehen. Unverdrossen standen wir stolz in der überfüllten Straßenbahn, die wie immer nach Bier, Schweiß und anderen seltsamen Dingen duftete, die ich nicht einzuordnen wusste. Hinten rechts wurden Lieder intoniert, neben uns gelacht. Einige sagten auch gar nichts und waren in einer Art narkoseartiges Koma versunken.
Es gab zu diesem Zeitpunkt noch ein relativ überschaubares Arsenal an Fanutensilien. Die handgestrickte Wollmütze, den Schal und als absolutes schickes Highlight ein Halstuch mit vielen kleinen FCN-Emblemen, das man sich wahlweise, je nach Endresultat, um die (eigene) Gurgel oder auch schick ums Handgelenk schnürte. Glamouröse Polyestertrikots mit Rückennamen, in Auswärts- oder Heimfarben unterteilt, waren von uns noch so weit entfernt wie die nächste Meisterschaft.
Aber eines hatte ich hier drinnen von Haltestation zu Haltestation stets vor Augen, und zwar vielfach: Jene ärmellose Jacke mit dem runden FCN-Logo in der Mitte und vielen kleinen Aufnähern drumherum. Unsere eigenen Kutten wirkten dagegen armselig, es war ein Unterschied zwischen parfümierten Ballettröckchen und blutverkrusteten Lederjacken.
Fanclub Frankenhöhe 1977 konnte ich entziffern. Eines Tages wagte ich es. Ich tippte einen dieser mächtigen Gesellen an und fragte zögerlich: „Was ist ein Fanclub?“ Ein Mann mit langen, strähnigen Haaren drehte sich lächelnd zu mir um und strich mir mit seinen Pranken, die von harter Arbeit zeugten, behutsam über den Kopf. „Fans, das sind wir alle hier, also auch du, mein Kleiner. Und was der Club ist, muss ich dir ja nicht erklären.“ Und dann sagte er einen Satz, der bei mir den Gierfaktor pfeilschnell wie ein Antritt von Sergio Zarate nach oben schnellen ließ. „Willst du auch mal so eine echte Kutte haben?“ Ich war perplex und brachte keinen Ton heraus. Echte Kutte. Weil ich nichts Besseres wusste und meine Kumpels bereits angesichts meiner geröteten Wangen feixten, nickte ich verschämt. Er schmunzelte zufrieden. „Wir treffen uns in zwei Wochen vor Block 4. Dann kriegst du was von mir. Bring aber deine Kutte mit, klar?“ Ich konnte mich an diesem Tag auf das (wieder mal vergeigte) Spiel kaum konzentrieren. Woher um Himmels willen sollte ich eine echte Kutte bekommen?
Meine Kutte war bis dahin eine liebevoll umgestaltete Regenjacke. Aber eben eine Regenjacke. Zuhause durchforstete ich meinen Kleiderschrank und fand nur das Sakko für die feierlichen Anlässe und eine senfgelbe Strickjacke. Ich konnte doch keine Strickjacke als Kutte tragen! Oma Berta musste wieder mal herhalten. Tags darauf ging es also in eine Zweigstelle der Quelle, den familiären Konsumtempel in der Südtstadt. Ich ergatterte meine erste Jeansjacke von Wrangler. Die Freude über diese Investition währte bei meinen Eltern eher kürzer, als sie sahen, wie ich die Ärmel abschnitt. Mein Vater sorgte sich um meinen Geisteszustand und sah mich bereits in der geschlossenen Anstalt Nürnberg-Erlenstegen ein schwachsinniges Dasein fristen. Meine Mutter fragte sich, was sie bei meiner Erziehung falsch gemacht hatte. Denn die anderen Jungs in der Nachbarschaft trugen doch ordentliche Strickjacken oder Regenjacken. Oma fand mein merkwürdiges Treiben ganz in Ordnung. „Wenn es ihm gefällt, dann basst’s scho“.
So stand ich knappe 14 Tage später vor dem berüchtigten Block 4 und wartete. Und da kam er. Er lächelte und deutete zufrieden auf die Jeansjacke in meiner Hand. „Kannst Kalle zu mir sagen“, murmelte er und kramte etwas aus seiner Gesäßtasche. Der legendäre kreisrunde FCN-Aufnäher kam zum Vorschein. Er hielt ihn mir direkt vor meine glänzenden Augen. Dann wurde sein Blick ganz bedeutungsschwanger. „Es kann nur eine Kutte geben! Und die wird nie, aber auch wirklich nie gewaschen. Schwöre es, Bub!“ Ich konnte nicht anders, fühlte mich wie Ritter Lancelot, dem gerade von der Tafelrunde das sagenhafte Schwert Excalibur überreicht wurde. Ich hob feierlich die Hand zum Schwur. Rechts und links wankten leicht angetrunkene Fans in den Block. „Oh, wie ist das schön!“, schrien sie sich gegenseitig an. Ich musste mich anstrengen, sie zu übertönen, und brüllte noch lauter: „Ich schwöre es, Kalle!“
„Gut, Junge“, brummte er und schlurfte den Sängern hinterher. Er drehte sich noch mal um und lächelte sanftmütig. „Musst keine Angst vor mir haben, ich bin eigentlich mehr ein Typ für leise Töne. Nur hier draußen flippe ich aus.“ Der kantige Kerl zwinkerte mir vergnügt zu und folgte seiner krakeelenden Truppe ins Stadioninnere. Kuttenkalle versorgte mich viele Jahre lang mit Aufnähern. Oma Berta hat diese kleinen Kunstwerke aus Stoff dann immer aufgenäht. Dieses Kleidungsstück wurde meine Uniform, mein Sicherheitsschild. Ich war stolz, und wenn ich sie überzog, wusste ich, bald würde der Ball rollen und ich wäre mit von der Partie.
Heute gehören die Kuttenträger leider zu einer aussterbenden Spezies. Ich sehe sie aber immer noch gerne und halte im Stadion jedes Mal ein wenig Ausschau nach ihnen. In Zeiten vom totschicken Merchandising und den Ultras mit ihren eigenen Utensilien haben sie sich rar gemacht. Doch ich möchte sie nicht missen. Auch wenn ich heute im sündhaft teuren Umbro-Trikot herumflaniere und Werbung auf meiner Brust trage von Firmen, die ich eigentlich gar nicht mag oder kenne. Die Kutte baumelt noch immer ganz hinten in meinem Kleiderschrank und wird, trotz Protesten meiner Familie, natürlich nicht entsorgt, auch wenn ich zähneknirschend eingestehen muss, dass sie unterdessen in der Tat ein wenig riecht. Aber schenken Sie bitte denjenigen keinen Glauben, die vollmundig behaupten, meine heilige Oberbekleidung „stinke meilenweit gegen den Wind“.
Eines Tages kam Kalle nicht mehr zum festen Treffpunkt. Ein paar Worte hatten wir immer gesprochen, uns flüchtig ausgetauscht. Ich konnte spüren, dass Kalle ein bisschen stolz auf mich war. Mein Ersatzpapa für 90 Minuten plus Verlängerung. Vermutlich hat er auch immer ein wenig auf mich aufgepasst. Wo Kalle begraben liegt, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, er ruht mit seiner Kutte in diesem Holzkasten unter der Erde. Ist zwar nicht gerade innovativ und leicht abgenutzt wie eine Kutte, aber mir fällt gerade nichts Besseres ein: You’ll never walk alone, Kalle!