Читать книгу Naus zum Glubb - Roland Winterstein - Страница 15
ОглавлениеFISCHKOPF AUF DURCHREISE
Es kommt im Leben eines Fans jede Tätlichkeit früher oder später ans Tageslicht. Also beichte ich vorab: Es gab eine Zeit, da ging ich in Sachen clubberischer Vereinstreue bis in den Tod fremd. Bevor der geneigte Leser nun dieses Buch an die Wand wirft und hektisch ein Banner mit den üblichen Tiraden wie „Judas!“ oder „Verräter!“ pinselt, das er dann nächste Woche in die Nordkurve hängt, muss ich zu meiner Verteidigung anbringen: Ich war jung und brauchte die Aufmerksamkeit meiner Klassenkameraden.
Es fing eigentlich relativ harmlos an. Ich besuchte eine neue Schule am Lutherplatz in Nürnberg. Mittlerweile war ich auch schon beinahe halbstark und modisch nicht mehr ganz unbedarft. So trug ich ein ausgeleiertes Baumwollshirt mit dem Wappen meines Clubs unter einer nicht minder ins Auge stechenden lindgrünen Cordjacke. Sie sehen, in Sachen Optik konnte mir keiner mehr einen Beinschuss versetzen.
Aber zurück zu meiner damaligen etwas verwirrten Huldigung anderer Vereine: Joachim war schuld. Der saß in meiner Klasse zwei Bänke hinter mir. Ein dünner Hüne, mit dem ich mich bald anfreundete. Ich verpasste ihm den Spitznamen „Chicken“, denn er hatte ein Faible für gesundes Essen und rannte ständig mit einer Tupperware, Reis mit Hühnchen darin, über die Schulflure. Sehr fremdartig, denn wir anderen glänzten mit Leberkässemmel und kalten Bratwürsten vom gestrigen Abendessen, jetzt kleingeschnitten auf Egloffsteiner Landbrot. Essenstechnisch lag Chicken damit weit vorne, obwohl er hinten im Tor stand. Genauer gesagt war er zweiter Torwart in einer Jugendmannschaft des 1. FC Nürnberg. War für uns „Normalos“ natürlich sehr spektakulär. Die Sache hatte nur einen Haken: Chicken war eingefleischter Bayern-Fan.
Ich kann mir das bis heute auch nicht recht erklären, aber ich denke, er war eben wohl geistig etwas umnachtet. Und er mochte den HSV überhaupt nicht. Damals noch der große Gegenspieler der Bayern. Also musste ich die Blutgrätsche rausholen. Denn ein Clubtorwart und legitimer Nachfolger Stuhlfauths mit Bayernfaible verdiente einen Denkzettel. So mutierte ich zum Fan der Raute, die ja eigentlich genau genommen gar keine Raute ist, wo wir doch schon beim Thema Schule sind. Hrubesch und Keegan wurden also meine Übergangshelden. So spazierte ich als eingefleischter HSVer jeden Montag in den Klassenraum und feierte die zahlreichen Siege des Nordclubs. Damit trieb ich Chicken in den Wahnsinn, denn der Stern des Südens leuchtete einst noch nicht so blendend wie heute. Mein Fremdjubel fühlte sich damals schon falsch an, so wie heute, wenn man spaßeshalber zu einem Spiel zweier Teams geht, die einen nicht sonderlich interessieren. Dann steht man da und soll sich für eines entscheiden. Geht gar nicht.
Als Jugendlicher ist die Selbstüberschätzung ein tägliches Ritual, und so tyrannisierte ich meine Mutter, sie solle mir doch einen Schal in Blau-Schwarz-Weiß stricken, was sie nach einigen Wochen des fränkischen Widerstands endlich tat. So kam es zu einer legendären Begebenheit beim Fußballturnier des Schulfestes. Dieses spielte sich auf den Bolzplätzen neben dem Stadion ab, wo heute die Arena der heimischen Puckjäger steht. Ich wurde in meiner Mannschaft als Außenstürmer nominiert. Also rannte ich mit einem HSV-Schal um den Hals, den ich partout nicht ablegen wollte, die Außenbahn in Manni-Kaltz-Manier rauf und runter. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer hatte ich auf jeden Fall. Unsere Auswahl war der Hingucker. Chicken, der fast Zweimetermann mit Bayerntrikot, im Tor. In der Abwehr „Pommi“, dessen Herz am englischen Fußball und Musik von der Insel hing. Er spielte stets in Lederjacke mit Stickern von Madness und The Police. Im Sturm unser damaliger Ishaak, genannt „Berndi“, ein Koloss aus Altdorf, der trotz Übergewicht in guten Momenten grazil unterwegs war wie einst Zaubermaus Zarate. Zugegeben, die guten Momente von Berndi waren spärlich gesät, aber es gab sie. Und natürlich „Wiesel“, der Klassenstreber, der überall auf dem Feld unterwegs war, nur nicht da, wo der Ball herumkullerte.
An diesem Tag belegte unsere Freakshow einen ausgezeichneten siebten Platz von sieben Mannschaften. Ich schenkte dem natürlich parteiischen Schiedsrichter in der Halbzeit meinen HSV-Schal, da ich herausbekam, dass er an der Elbe geboren sei. Für uns gepfiffen hat der Blinde trotzdem nicht. Chicken und ich versöhnten uns. Das Trikot wollte ich trotzdem nicht mit ihm wechseln. Er hat es leider nicht ganz zu den Profis gescha und strandete in einer unterklassigen Liga beim TV Glaishammer. Danach wechselte er zum Post SV und eines Tages haben wir nie mehr was von ihm gehört. Womöglich ein Fall für den Friedhof der gestrandeten Fußballerhoffnungen. Aber wie wir ja alle wissen, ist vorne ganz schön weit weg. Wir siebte Sieger und kleine Helden zogen umarmt als schwankende, aber fröhliche Menschenkette über das Zeppelinfeld zurück nach Hause. Jeder von uns trug endlich wieder stolz sein ausgeleiertes weißes Baumwollshirt. Ja, heute waren wir die Schlusslichter. Und trotzdem fühlten wir uns unabsteigbar bis in alle Ewigkeit. Wir waren Freunde, wir waren Halbgötter und wir waren und sind bis heute Vollblutclubberer.