Читать книгу Naus zum Glubb - Roland Winterstein - Страница 22
ОглавлениеSCHLEICHWEGE INS CLUBPARADIES
Meine Jungs nennen so was Lifehacks. Ratschläge und Tipps, die den Alltag erleichtern sollen. Tricks, mit denen Bananen länger frisch bleiben oder aus einer alten Kassettenhülle ein schicker Smartphonehalter gefertigt wird. In meiner Jugend waren Lifehacks schlicht und einfach Tipps, die Personen mit Geheimwissen vor, während oder nach einem Clubspiel in den Umlauf brachten. Die Palette reichte von Tricks für den Stadionbesuch trotz Ausverkauft-Meldung bis: „Fahr halt mal raus zum Schmidtpeter!“
Herr Schmidtpeter war jahrzehntelang lokaler Pressefotograf. Er wohnte unweit des Nürnberger Flughafens am Marienpark in einem kleinen Häuschen. Und er war der Hüter des heiligen Grals, der da lautete: haufenweise Clubfotos. In den Nürnberger Norden zu fahren, war für einen Südstädter wie mich eine Weltreise quer durch die ganze Stadt in unbekanntes Gebiet. Dort konnte für jemanden, der nahe der Schultheißallee aufwuchs, auch Kambodscha oder Unterhaching liegen. Auf jeden Fall war es ein großes Abenteuer für mich kleinen Menschen. Ich gondelte mit der Straßenbahn los, musste zigmal umsteigen, um endlich am Ziel meiner Sehnsucht anzukommen.
Was ich an dieser Stelle betonen möchte: Ich fuhr ins nördliche Krisengebiet allein – und schleppte Wertsachen mit. 4,80 DM nannte ich mein Barvermögen. Ich klingelte und ein wortkarger, jedoch nicht unfreundlich wirkender Mann öffnete. Ich musste gar nichts sagen. Er wusste, warum ich ihn aufsuchte. Herr Schmidtpeter ließ die Türe offen stehen, deutete stumm nach hinten und ging vor. Ich folgte ihm. Er stieg am Ende des engen Flurs schmale Stufen hinab. Ich hinterher. Sie müssen sich nicht sorgen. Hannibal Lecter und ähnliche Schlachtergesellen warteten dort unten nicht auf mich. Sondern ein viereckiger Tisch, darauf unzählige Schachteln, Ordner und Boxen. Herr Schmidtpeter knipste das Licht an, eine grelle Neonröhre flackerte auf, in deren morbiden Schein jeder ungesund aussieht. Doch ich sah im Augenblick sicher selten gut und glücklich aus.
Herr Schmidtpeter sagte noch im Raufgehen: „Die Großen sind teurer und die Farbigen mit Unterschrift auch. Am billigsten sind die Schwarzweißen ohne Unterschrift.“ Und weg war er. Ich stand da. Allein im Paradies. Überall Autogrammkarten von Clubspielern aktueller und vergangener Zeiten. Dazu noch Schnappschüsse von Spielszenen und der absolute Hit: Mannschaftsfotos! Hier wollte ich leben. Ob ich Herrn Schmidtpeter bitten könnte, mein Ersatzopa zu werden?
Ich sortierte und wühlte eine halbe Stunde. Dann steckte Herr Schmidtpeter seinen Kopf in den Raum und sagte nur kurz sanft: „Langsam müssen wir fertig werden.“ Ich nickte und schob meine Errungenschaften zu einem kleinen Stapel zusammen. Oben im Flur wurde dann abgerechnet. Ich hatte diesmal und auch die vielen anderen Male sicherlich zu wenig Geld dabei. Doch Herr Schmidtpeter rechnete immer erst leise zusammen und nahm dann gerade so viel, dass ich mir noch ein Schöller-Eis leisten konnte.
Dabei lächelte er mich verschmitzt an: „Lieber ungefähr richtig als exakt falsch.“ Kurz darauf saß ein freudestrahlender Junge im hinteren Waggon der rumpelnden Tram 9. Er drückte seine Errungenschaften glücklich an die Brust. Er nahm sich fest vor, diese erst zuhause wieder anzusehen – aus Furcht darüber, dass beim Betrachten das eine oder andere versehentlich zu Boden fallen könnte und verlorenging. Oder dass die wilden Nordstädter über ihn herfielen und ausrauben könnten. Die Tram bog um eine Ecke. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der nächste Junge sein Glück beim freundlichen Herrn Schmidtpeter fand.
Auf Höhe des alten Wellblechpalastes des EHC 80 Nürnberg waren alle guten Vorsätze vergessen. Ich studierte meine Sammlung mit glänzenden Augen. Die Rückkehr ins Nibelungenviertel fühlte sich für mich wie seit sieben Spieltagen ungeschlagen an. Und das ist ein ziemlich gutes Gefühl, darf ich bemerken. An diesen Tagen klang selbst die Durchsage des Straßenbahnfahrers „Nächste Haltestelle Schweiggerstraße“ für mich wie „Das Leben als Clubberer in Nürnberg ist einfach wunderschön“.