Читать книгу Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner - Страница 12
Liebesentzug
ОглавлениеDenn auch zu einer bewussten Ablehnung solcher Imitations-Verlockung benötigt man eine erfolgversprechende Neurosignatur für Verweigerungsverhalten – nach innen wie nach außen. Man muss innerlich die Botschaft hören »Ich will das nicht!« und nach außen eine sozial verträgliche Sprachform erwerben. Genau deren Ansätze werden jedoch »trotzenden« Kleinkindern mit Schimpf, Spott und Strafe strikt verboten, anstatt sie auf prosoziale Formen zu korrigieren.
Zu den häufigsten Strafen für kleine Kinder gehört der sogenannte Liebesentzug: keine Süßigkeiten, keine Spiele, keine Blicke, keine Worte. Da Kindern lange Zeit der Vergleich mit den Verhaltensweisen in anderen Familien fehlt, kennen sie keine Alternativen; sie vertrauen der Allmacht und Allweisheit ihrer Erziehungspersonen und suchen die Schuld für deren Ablehnung bei sich selbst – und manche erkennen nie, dass sie Opfer von Unsicherheit und Unwissenheit oder aber Unbeherrschtheit sozial inkompetenter Menschen geworden sind. Sie denken dann: Es muss an mir liegen, dass man mich nicht mag. Und: Man kann mich einfach nicht mögen.
Viele Sozialphobien und in deren Folge Einsamkeit wurzeln in erlebter mangelnder Fürsorge derjenigen, deren Obhut man anvertraut war. Solche Mängel finden sich nicht nur bei Eltern und anderen nahen Anverwandten – sondern ebenso bei Angehörigen von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen wie auch bei vielen Arbeitgebern … und auch bei allen, die Zeugen von solch traumatisierendem Fehlverhalten werden und wegschauen.
Als Trauma werden meist nur Folgeerscheinungen von massivem Gewalterleben, Unfälle inbegriffen, verstanden. Dabei wird übersehen, dass man als Trauma jedes Erleben klassifizieren kann, zu dessen Bewältigung adäquate Verhaltensmuster fehlen.
Tiere reagieren mit Kampf, Flucht oder Totstellen, wenn sie in ihrer Sicherheit beeinträchtigt werden. Ich nenne das das »Stammhirn-Repertoire«. Menschen hingegen besitzen zusätzlich zu diesem archaischen Erbe eine entwickelte Großhirnstruktur, die sich vor allem durch Sprache und Reflexionsfähigkeit – die mehr oder weniger ausgeformte Kompetenz, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken – auszeichnet; aber auch diese Anlagen müssen erst eingeübt und dadurch verdichtet werden! Aus dem dazu dienlichen »inneren Dialog« zur Selbstbesinnung und Abwägung von Verhaltensalternativen wird dann statt Kämpfen Verhandeln, statt Flucht Distanzierungsverhalten und statt Totstellen bedachtes Abwarten. Damit kann anstelle der Einsamkeit des Unterlegenen, Weglaufenden oder Schockerstarrten eine selbstbestimmte Handlung erwachsen, und wenn diese im wohlbedachten Rückzug besteht, entspricht das nicht dem leidvollen Gefühl von Einsamkeit, sondern dem von Selbstschutz und Selbstachtung.
Würden also die Bezugspersonen der frühen Kindheit wissen, was sie in Hinkunft durch Liebesentzug anrichten könnten, würden sie wohl auf diese »schwarze Pädagogik«23 verzichten – außer sie sind bewusste Sadisten. Liebesentzug dient immer nur der Kontrolle. Mit Förderung bzw. Lebensvorbereitung hat dies nichts zu tun, auch wenn es immer wieder behauptet wird. Wer aber erkannt hat, wie er oder sie durch Liebesentzug zu »Pflegeleichtigkeit« manipuliert wurde, kann trainieren, die dadurch hervorgerufene verzweifelte Unterwerfungsbereitschaft durch selbstachtende Distanzierung loszulassen.
Man muss eigentlich nur die angezüchtete Illusion vermeiden, Eltern täten alles nur zu unserem Besten. Eine Postkarte kommt mir in den Sinn: darauf ein Bär mit Sprechblase »Alle wollen nur mein Bestes – aber ich geb’s nicht her!« Und wie immer: Auch hier muss man erst die passende Nervenverdrahtung aufbauen – doch wenn man das erkannt hat, kann man das autonom und ohne professionelle Besserwisser. Man muss sich nur fragen, welche anderen Reaktionsmöglichkeiten es gäbe … und diese vor dem geistigen Auge vorbeiziehen lassen und sich »einspiegeln«. Am Abend die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen und selbstkritisch Verbesserungsbedarf zu orten, reicht oft, um sich vorzustellen, wie alternatives Verhalten gewesen wäre.