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Sehnsucht
ОглавлениеWir tragen in unserer Herzenstiefe einen Entwurf von Beglücktwerden, der aus dem passiven Versorgtwerden im Mutterleib stammt. Wenn wir dann getrennt von diesem Urquell sind, mühen wir uns mit der Methode »trial and error« – »Versuch und Irrtum« – ab, aus der primären Einsamkeit wieder in solch eine erfüllte Zweisamkeit zu kommen – und manchmal schaffen wir das auch. Für Minuten oder gar Stunden. Aber nicht auf Dauer. Denn bei allem, was lebt, zeigen sich »Wellen«: mal oben, mal unten. Beide Extreme können Angst auslösen. Dem »goldenen Mittelweg« mangelt es ja an den »erhebenden« Höhen.
Wilhelm Reich schreibt denn auch: »Die Angst der Menschen vor dem Ungewissen, Bodenlosen, dem Kosmischen ist berechtigt, zumindest verständlich.«11 Sigmund Freuds Sichtweise lautet: »Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: Das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe.«12 Nur: Andauernde Ruhe bietet keinerlei Entwicklung.
Wer diese Angst vor dem Ungewissen zumindest einmal erlebt hat, hat damit auch eine Neurosignatur – ein Verschaltungsmuster von Nervenzellen im Gehirn – erworben; diese Prägung kann sich immer wieder in ähnlichen Situationen bemerkbar machen und verdichten – außer man nimmt sie bewusst wahr und erarbeitet sich autonom eine neue Konstruktion.
Dazu hilft, zwischen Befürchtungen und nachweislich realistischen Erwartungen zu unterscheiden. Erstere Geisteshaltung lähmt die Denkfunktion, letztere hilft, sich auf Widrigkeiten vorzubereiten, aber sich von möglichen Risiken nicht abhalten zu lassen.
Zu diesen Nervenverschaltungen gehört auch das sprachlose Entsetzen, wenn der heiße Hunger in den Eingeweiden tobt und niemand da ist, der »stillt« – physisch wie psychisch. Für einen Säugling bedeutet dieses Alleingelassensein Lebensgefahr; deswegen ist es so wichtig, sich auf den Nahrungsrhythmus des Winzlings einzustellen und dann auch da zu sein, um zumindest verständnisvoll (und nicht ärgerlich) zu reagieren. Später, wenn man der Sprache und der Selbstreflexion mächtig ist, kann man auch erkennen, weshalb man oft wie ein Preisgegebener reagiert, wenn einem die geringste respektvolle Zuwendung und Beantwortung versagt wird: Die in dieser Ur-Notsituation erworbene Neurosignatur ist aktiviert worden.