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2Die Einsamkeit der Lebenskrisen Warum man in Krisenzeiten Beistand braucht
ОглавлениеAuch wer der Selbstbestimmung fähig ist,
kann sich seiner Wünsche und Absichten,
Hoffnungen und Erwartungen so wenig ein für alle Mal sicher sein
wie der äußeren Lebensumstände, in denen er sich
in seiner jeweiligen Gegenwart befindet.
MARTIN SEEL30
Bevor wir mit Mimik, Gestik und vor allem Worten zu dem jeweiligen Kulturstandard der Region und Zeit, in die wir hineingeboren wurden, diszipliniert (von lat. discipulus, Schüler) werden – und dadurch viel von unserem inneren Ahnen und Erkennen verlieren –, spüren wir schon intuitiv, ob wir willkommen oder in der zur Gesundheit nötigen Akzeptanz gefährdet sind. Das haben die Erfahrungen der französischen Säuglingspsychoanalytikerin (Ja, so etwas gibt es! Und die Heilungserfolge beweisen die Notwendigkeit und Wirksamkeit!) Caroline Eliacheff gezeigt.31
Als erwachsene Menschen können wir zwar mit der Zeit Übung darin gewinnen, Ablehnung durch andere zu ignorieren – aber wenn wir üben, unsere Wahrnehmung einzuschränken, verlieren wir die Kompetenz der Achtsamkeit und damit auch die Achtsamkeit uns selbst gegenüber. Deswegen sind hier Vorbilder und erklärender Beistand so wichtig, damit wir uns weiter entwickeln können und »über uns hinauswachsen«.
Es zählt zur Selbstfürsorglichkeit zu erkennen, wann es Zeit ist, sich aus dem Zusammensein mit anderen zurückzuziehen – vor allem, wenn die anderen der Gesundheit schaden. Aber wer seit seiner Kindheit permanent um Zuwendung ringt, wird eher meinen, »mehr desselben«32 werde endlich den erwünschten Erfolg bringen, anstatt sich zuerst einmal zumindest eine Erholungspause zu gönnen – und dann etwas anderes zu probieren.
»Die Fähigkeit, allein zu sein, hängt davon ab, ob ein gutes Objekt in der psychischen Realität des Individuums vorhanden ist«, betont der bedeutende Kinderanalytiker Donald W. Winnicott (1896–1971).33 Das heißt, es muss am Beginn des Lebens zumindest eine neuronal prägende Erfahrung von kontinuierlicher Akzeptanz, Zuwendung und Verstehen erlebt worden sein. Logischerweise wäre dies die Aufgabe der biologischen Mutter, an deren Körper das Neugeborene ja bereits monatelang »von innen« eingewöhnt wurde. Nun soll es »Gewöhnung« nach der Geburt »von außen« lernen, um zunehmend längere Abwesenheiten der Mutter ertragen zu können. Das braucht üblicherweise ein Jahr und viel geduldige Zuwendung. Wer aber selbst keine »Neurosignatur der Liebe« oder auch nur »der Pflicht« besitzt, wird dieser Aufgabe nur schwer gerecht werden.
Dort, wo eine Großfamilie auch in Hausgemeinschaft lebte, fand sich vermutlich immer irgendjemand – Geschwister, Großeltern –, der zuverlässig auf die erkennbaren Bedürfnisse eines Kleinstkindes reagierte; für die heutigen Klein- oder Rumpffamilien bedeutet dies fast immer eine Überforderung – wenn man erwartet, dass diese Zuwendung nur von Blutsverwandten geleistet werden sollte. Es ist wichtig, dass jemand gegenwärtig und verfügbar ist, ohne Forderungen zu stellen, denn die Fähigkeit zum echten Alleinsein hat die frühe Erfahrung des »Alleinseins in Anwesenheit eines andere Menschen« zur Grundlage, so das Ergebnis der Forschungen Winnicotts.34