Читать книгу Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner - Страница 18
Reifungsschritte
ОглавлениеJedes Kind hat seine eigene Zeit, in der es den jeweils nächsten Reifungsschritt vollzieht. Wird es »vor der Zeit« forciert, wird es später kompensierende Symptome entwickeln – allerdings sind solche ohnedies so allgegenwärtig, dass dies kaum jemand mehr als Besonderheit wahrnimmt. Nur wenn jemand selbst unter Einschränkungen seiner Verhaltensmöglichkeiten leidet und sich in Psychotherapie auf die Suche nach seinem Seelengrund begibt, wird er oder sie die Zusammenhänge erkennen. Laien fehlt die qualifizierte Wahrnehmung, und populäre Symptomdeutungsbücher führen leider zu Fehleinschätzungen und behindern die persönliche Weiterentwicklung.
In einer gelungenen Therapie – es gibt leider auch misslungene – werden diese fehlenden »guten, inneren Objekte« nachentwickelt. Die »affektive Regulierung« – das Einwirken auf steuerungsbedürftige Emotionsaufwallungen – kann dann zunehmend durch innere Modelle ersetzt werden, sodass ein »verinnerlichtes Beziehungsgefühl« entsteht, das unterschiedliche Qualität haben und selbst auf- oder abgebaut werden kann35; das kann auch helfen, berechtigte Rückzugsimpulse auf psychischen Erholungsbedarf zurückzuführen – und nicht auf den Vorwurf von Fehlverhalten, wie es einem oft von anderen als Selbstrechtfertigung unterstellt wird.
Menschenjunge kommen »unfertig« zur Welt: Bis ihre Muskulatur stark genug ist, dass sie sich vom Boden erheben können und damit den ersten Über-Blick erzielen, vergeht rund ein Jahr – ein Jahr totaler Abhängigkeitserfahrung, wie wohl jedermann weiß, der einmal bewegungsunfähig war. Abhängig sein von anderen macht meist zornig aus Verzweiflung, egal wie alt man ist. Denn auch wenn dem Kleinkind noch die Worte fehlen, so spürt es doch den jeweiligen Zielimpuls in sich – man könnte formulieren: Es hat die Vision seines Ideal-Ichs – und erlebt sein Versagen. Hinsichtlich Patienten mit Alzheimer-Demenz sagte mir einmal ein Allgemeinmediziner: »Zuerst kommt das Versagen – dann kommt der Zorn – und dann kommt das Vergessen.« Wenn aber das Gedächtnis noch völlig funktionstüchtig ist, kommt vielfach Resignation. Kleine Kinder fallen dann oft um und schlafen blitzartig ein. Ältere Menschen pflegen oft Risikosituationen in vorauseilender Scham zu vermeiden und verabsäumen so die nötigen Lernschritte. Sie bräuchten Ermutigung, und diesen Bedarf müssen die möglichen hilfreichen anderen erst erkennen (können). Wer diese Unterstützung nicht selbst erfahren hat – und das sind die meisten Menschen – findet sie unnötig und verweichlichend und wird stattdessen mäkeln, bloßstellen oder strafen.
»Das zwischenmenschliche Erkennen und Anerkennen systematisch zu verweigern, ist ein Akt der Unmenschlichkeit und ethisch verwerflich«36, betont der Neuropsychiater Joachim Bauer. Viele Eltern und Personen, die sich als Experten in Sachen Kindererziehung fühlen, sehen das aber nicht so – sie meinen, »ungehorsame« Kinder könnten nur mit Härte zur Folgsamkeit »motiviert« werden; sie glauben, es sei ein Naturgebot, zwingen zu müssen, zu können und auch zu dürfen. Sie wissen nicht oder ignorieren, dass jegliche Gewalthandlung oder Vernachlässigung eines Kindes seit Ende des 20. Jahrhunderts strafbar ist.
»Es ist ja das Tragische, dass es keine einsamen Kinder ohne einmal in ihrer Kindheit einsam gewesene Eltern gibt«, stellt die Kindertherapeutin Lene Keppler fest. »Diese Eltern waren einst von ihren Eltern ›gebraucht‹ worden, das heißt, sie hatten Teile ihrer Persönlichkeit nicht voll entwickeln können oder fast ganz unterdrücken müssen, weil deren Eltern diese Persönlichkeitsanteile oder Verhaltensweisen, bedingt durch ihre eigene Lebensgeschichte, nicht wahrnehmen oder ertragen konnten.«37 Aber: »Mein Charakter ist nicht mein Schicksal«, wie die Wiener Präventivpsychologin Anneliese Fuchs titelt: Wenn wir erkennen, wen wir nachspielen und welche anderen, salutogeneren, d. h. Gesundheit, insbesonders die soziale Gesundheit, fördernderen, Verhaltensweisen auch wert wären, ausprobiert zu werden, können wir solchen »Familienflüchen«38 entkommen.